laut.de-Kritik

Meditative Reise ins herrliche Nirgendwo.

Review von

'Shikantaza' bezeichnet eine Meditationstechnik im Buddhismus. Es ist eine Technik, die sich keinen bestimmten Atemregeln oder inhaltlichen Maßgaben unterwirft, sondern vielmehr durch das bloße Sitzen und Ruhen den schier endlosen Gedankenstrom des alltäglichen Daseins unterbricht und so für den Meditierenden die Hintergründe des Denkens offenlegt. Auf eine solche Reise nehmen die französischen Chinese Man den Hörer mit.

Deshalb fühlt man sich nach einem Durchlauf der neuen LP "Shikantaza" in einen Raum der Leere versetzt. In ein herrliches Nirgendwo, schwebend, schwer zu greifen oder zu beschreiben. Man möchte die Augen schließen und die Klänge in sich aufsaugen oder selbst in den Klängen aufgehen. Die Beats, hie und da durch Featuregäste ergänzt, wabern mal psychedelisch, mal entspannend, mal energisch aus den Lautsprechern.

Man hört Hip Hop und Rap. Aber auch Dub, Reggae und noch viel mehr darüber hinaus. Jeder Song ist wie eine Entdeckungsreise auf einen neuen Kontinent. Ein Changieren zwischen festhalten und loslassen, zwischen fliegen und feststecken. Es ist ein gedämpftes Feuerwerk, eingeschlossen unter einer Glaskuppel.

Am Anfang will "Shikantazo" fast zu viel. "Liar" mit Dillon Cooper und Kendra Morris schärft noch mal den Blick auf die vorliegende Aufgabe, fokussiert, in sich gekehrt. "Think about it, because the truth will set you free."

"This is the history of Chinese Man" heißt es dann da weiter: "The Chinese Man create the power to celebrate the four energies with music: physical, intellectual, emotional and sexual. Take your time. Breathe. Close your eyes. And listen."

Und "Maläd" leitet tatsächlich eine Phase des Oszillierens ein. Des Hin- und Hergeworfenseins, mal ruhig und dann wieder energisch. Kraftvolle Beats wie "Step Back" oder "Anvoyé" vermischen sich mit präzise verwebten Klangteppichen wie "Escape", "Wolf", "Golden Age" oder "L'Aurore", die zum Niederliegen und Rasten einladen.

"Warriors" gerät vielleicht etwas zu schlicht, aber immer dann, wenn sich das Trip Hop Trio aus Marseille Featuregäste mit ins Boot holt, wird es aber besonders spannend. "A New Crown" mit A-F-R-O, A.S.M und dem altbekannten Taiwan MC versetzt einen auf die New Yorker Tanzflächen der 1920er Jahre. Da wird gespittet, geflowt und geflexxt, als gäbe es kein Morgen mehr. Sogar auf deutsch. Und auf "What You Need" zeigen Zé Mateo, Sly und High Ku, wie die Männer hinter Chinese Man heißen, ihre größte Stärke: Sampling on another level. Gemeinsam mit Vinnie Dewayne, Myke Bogan und Tre Redeau einer der stärksten Tracks des Albums.

In eine ähnliche Bresche schlägt "Blah" - erneut mit Taiwan MC - sowie Youthstar und Illaman. Musikalisch moderner angelegt aber nicht weniger energisch pocht es aus den Boxen und reizt die Gäste zu stimmlichen Höchstleistungen, wie sie R.A. The Rugged Man auf "Modern Slave" zeigt.

Man läuft Gefahr, bei all dieser Wucht aus dem tranceartigen Bewusstseinszustand gerissen zu werden, den "Shikantaza" doch eigentlich versucht herzustellen. Aber durch die kluge Mischung unterschiedlichster Klangelemente und auch dank der duftumwobenden, weichen, ja beinahe schon monotonen Stimme von Mariama ("Stone Cold") wird man immer wieder an der Hand genommen, immer wieder zurück auf den Pfad ins Unendliche geführt.

Auch wenn man den Grenzen des herrlichen Nirgendwos also gelegentlich gefährlich nahe kommt, man stößt doch nie an sie. Und am Ende ist man mit "Goodnight" da angekommen, wo man von Anfang an hin wollte. Man hat verstanden: Das was Chinese Man machen, ist echte Musik. Einfach nur echte, gute Musik.

Trackliste

  1. 1. Shikantaza
  2. 2. Liar
  3. 3. Maläd
  4. 4. Step Back
  5. 5. A New Crown
  6. 6. Escape
  7. 7. Stone Cold
  8. 8. Modern Slave
  9. 9. Warriors
  10. 10. What You Need
  11. 11. Wolf
  12. 12. Blah
  13. 13. Golden Age
  14. 14. L'Aurore
  15. 15. Anvoyé
  16. 16. Goodnight

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