laut.de-Kritik

Waberndes Gemälde aus Noise, Punk und guter Laune.

Review von

"Ich Könnte Du Sein, Aber Du Niemals Ich", so einen Satz habe ich von meiner Mami nie gehört. Aber von der Band Mutter kennen wir bereits lange Albumtitel wie etwa "Ich Schäme Mich Gedanken Zu Haben, Die Andere Menschen In Ihrer Würde Verletzen". Das war 1990. Aus Honkas und Campingsex bildete sich 1986 Mutter in Berlin. Ein waberndes Gemälde aus Noise, Punk und geballter guter Laune. Seitdem sind mindestens 15 Platten erschienen.

Das aktuelle Album ist ein prall gefülltes Kunstwerk. Die Vinyl-Ausgabe ist echte Handarbeit, es gibt viel fürs Auge und für die Ohren. Mit Liebe bemalt, beschriftet, gestempelt und verpackt von Max Müller persönlich. Ganz praktisch, wenn man als Sänger und Kopf der Band auch noch ein sehr guter Maler und Zeichner ist.

Auch die Aufnahmen kann man als kunstvoll betrachten. Früher wurde noch im Schlafzimmer aufgenommen. Heute hat man einen Probe- oder Sessionraum, indem man experimentiert oder auch einfach mal alles laufen lässt. DIY braucht auch keine Plattenfirma. Mutter hat ihre eigene Gesellschaft.

In Gerswalde bei Berlin entstehen die Songs des neuen Albums. Hier verweilt Max Müller vor und während der Pandemie. Mit Gitarre und Synthesizer vermischt er Musik und Gesang in einen melancholisch, experimentellen Sound-Tuschkasten. Die Bandmitglieder Florian Koerner von Gustorf (Schlagzeug) und Michael Fröhlich (Bass) begleiten die rasanten und ruhigen Stücke. Es gibt auch Gastbeiträge von Michaela Schimun (Gesang) (Song 2 und 8), Coco Noix (Gitarre) und Black Mozart an der Violine (Song 3).

Scheppernde Stimmungsschwankungen aus dem Herzen einer Großstadt, abgemischt und abgezapft in einer Zeit voller Ängste und Verwirrungen. Aber eigentlich gab es die vorher auch schon. Beim ersten Stück "Fliegen Sterben" ist man erst mal von Max Stimme irritiert. Ah, man probiert auch hier mal das böse Auto-Tune aus. Der Effekt ist reine Geschmackssache und lenkt vom eigentlichen Song ab. Aber hey, bei Jochen musste man sich auch an einige funky Rhythmen gewöhnen.

Das Wundern geht weiter. Es rumpelt und Max nölt ins Mikrofon. Nicht ungewöhnlich. "Dreh Dich Einmal Um" hat diese eingängige Melodie, die man bei Mutter auch immer wieder wahrnimmt und einem länger im Gedächtnis bleiben, aber leider endet der Gefühlsausbruch auch schon abrupt nach 1:51. Da denkt man erst, die Plattennadel hängt oder man ist aus Versehen auf die Stopptaste gekommen. Auf jeden Fall ein Effekt, der auch irgendwie hängen bleibt.

Einfach mal den Stecker ziehen, sollte man in diesen Zeiten sowieso. Schlecht gelaunt oder mit Dauergrinsen den ganz normalen Wahnsinn erkunden. Dabei durch überfüllte Großstädte latschen oder in erbsengrauen Dörfern die Leute beobachten.

Max Müller ist einer dieser Betrachter, lässt sich durch Begegnungen und Gespräche inspirieren. Das sieht man in seinen Zeichnungen und hört man in seinen Texten: "Es fällt mir wirklich leicht, nicht so wie du zu sein“, singt Max in "Du Niemals Ich" und nimmt den Albumtitel darin auf. "Ich Könnte Du Sein, Aber Du Niemals Ich" "Du mich auch", könnte man darauf antworten oder einfach das Gesicht in den Händen verstecken, so wie auf dem Plattencover.

Motzen mag der Müller. Das gehört zur Muttermusik dazu. Menschen waren schon immer anstrengend und dieser Zustand verbessert sich leider nicht. "Wie Fühlt Sich Freiheit An?", fragt sich Max und setzt dabei musikalisch auf tanzbare Beats. From Dispo to Disko. Ein Indie-Hit aus Melodika und emotionaler Melancholie. Sehr schön!

Für immer Punk schreit es in "Und Die Sonne Scheint Umsonst". Fieps, Krach, Sauf, Rumms und Zeilen, die sofort ins Herz gehen: "Wo die Bilder nicht mehr stören, da bin ich zu Haus.“ Da grölt oder weint man sofort mit. Parole sitzt. Next Lieblingssong.

Manchmal reicht nur ein Satz: "Wenn es jetzt was geben würde, was du mir gern sagen möchtest" (Wenn). Ich mag den Wechsel zwischen Leise-Laut. Höhen, Tiefen, 1980er Sound, Indie-Disko, Hardrock-Lärm und Melodie, "Schock" und "Wahr", Effekt und Experiment.

Die Stimme bitte gerne wieder ohne Verzerrungen, aber im Wechsel geht das schon in Ordnung. Man darf auch mal die Bandmitglieder wechseln. Einige gehen freiwillig oder mussten die Gruppe verlassen. Das gehörte bei Ober-Motzi Mark E. Smith schließlich auch zum Programm. Bei Mutter gibt es seit 2002 öfter mal Probleme mit dem Personal.

Für frischen Wind an Gitarre und Keyboard sorgt seit Sommer 2022 Diego Castro (Black Heino). Das passt sehr gut. Auf der Platte hier war er noch nicht dabei, aber auf der Tour im Oktober 2022. Immer ein Highlight, wenn Mutter live spielen. Danke und kaufen Sie alle Vinylplatten dieser Band und gehen Sie wieder mehr auf Konzerte!

Trackliste

  1. 1. Fliegen Sterben
  2. 2. Dreh Dich Einmal Um
  3. 3. Du Niemals Ich
  4. 4. Wie Fühlt Sich Freiheit An
  5. 5. So Gewöhnlich Ich Bin
  6. 6. Und Die Sonne Scheint Umsonst (Nur Der Himmel Weiß Warum)
  7. 7. Schock
  8. 8. Wenn
  9. 9. Wahr
  10. 10. Tal der Weißen Männer

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LAUT.DE-PORTRÄT Mutter

Mutter gehen 1986 in Berlin aus der Formation Camping Sex hervor. Ihr Kopf Max Müller war 1981 eigentlich Gründungsmitglied der Berliner Band Die Ärzte.

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