laut.de-Kritik

Eine Tour de Force für pubertierende Jungmänner.

Review von

Noch einmal zwölf Jahre alt. Einfach davonlaufen vor den heutigen "Scoundrel Days". Keine Euro-Krise, kein Syrisch-Türkischer Konflikt. Nicht in meiner kleinen Welt. Buckelig sitze ich über meinen Hausaufgaben, der kleine rote Kassettenrekorder spielt immer wieder A-ha. Ein Tape, aufgenommen von Vinyl über das Mikro am Rekorder.

Irgendwann während "The Weight Of The Wind" ruft Mutter zum Essen. Immer wieder. Unendliche Male. Derweil brennen sich Morten Harkets Lyrics, die ich noch kaum verstehe, unauslöschlich in mein Gehirn. Ich mag über die Jahre vielleicht das Gesicht meiner verstorbenen Oma vergessen haben; die Texte von "Scoundrel Days" bleiben auf ewig.

Viele Jahre später steht der Winter vor der Tür. Die Tage werden kürzer und die Gedanken trüber. Die Kälte dringt in alle Ritzen des Hauses vor und wieder höre ich Lieder vom Davonlaufen, von Mord und von Abschied; von der Verzweiflung. Ich spüre diese durchdringende Sehnsucht, das Verlangen, das wie die Kälte in die Winkel meiner Seele vordringt.

Die beiden Opener stehen heute noch für einen perfekten Einstieg. Trotz des düsteren Grundtons und Mortens dämmriger Stimmlage, hätte "Scoundrel Days" locker als Single getaugt. Nach einer Geigenpartitur zum Dahinschmelzen flüstert der Backgroundchor in mystischen Stimmen. Pauls bedeutungsoffene Lyrics werfen das Kopfkino zusätzlich an: "Outside on the pavement / The dark makes no noise." Dahinter steht der Refrain wie eine Befreiung, wie das Erklimmen der Bergkuppe mit dem befreienden Blick auf den Horizont in der Ferne. Hier wird mehr transportiert als schnöder Pop.

Wie der logische Gegenpart erscheint "The Swing Of Things". Was eben noch laut war, ist nun leise. Behutsam baut sich über sphärisch-eleganten Synthie-Sounds Spannung auf. Doch wo der Refrain in "Scoundrel Days" noch mit breiter Brust sein Innenleben heraus schreit, zieht er sich hier mitsamt Schmusekissen in die intimste Ecke zurück. "How can I sleep with your voice in my head?" Wie unter frisch gefallenem Schnee wird alles leiser und doch so deutlich. An der Tiefe, Dynamik und Melancholie dieser beiden Songs müssen sich A-ha den Rest ihrer Karriere messen lassen und kommen in guten Momenten höchstens noch einmal in ihre Nähe. Der Gesang von Morten Harket, über fünf Oktaven, war nie so lebendig, prägnant und eindringlich wie hier.

Dennoch war die Platte kommerziell zwar kein Flop, hat aber nicht annähernd so viele Einheiten verkauft wie das ein Jahr zuvor erschienene "Hunting High And Low". "Scoundrel Days" verlangt einfach zu viel Aufmerksamkeit vom Hörer. Hier pluckert kein flockiges Vier-Viertel-Takt-"Take On Me", hier geht es um dunklere Emotionen. Über Nacht ist eine Teenie-Pop-Band erwachsen geworden. Nehmen wir das musikalisch bipolare "Manhattan Skyline": Abschiedsschmerz. Trennung. Vorwürfe. Zerwürfnis. Der ruhige Teil von Magne geschrieben, der rockige Refrain von Paul. Mir war beim ersten Hören klar: Das ist ein Klassiker. Keine drei Monate später brachte der Postbote auch die 12"-Maxiversion. Vinyl-Schätze in Kinderhänden. Über die Jahre immer wieder hervorgekramt und innig geliebt wie eine Kuscheldecke.

Drive und Bass von "Cry Wolf" kollidieren mit dem kindlichen Refrain. "We're Looking For The Whales" steht dem in nichts nach. Jugendliche Unbeschwertheit auch bei "Maybe Maybe", dieser wunderbaren Pop-Miniatur. Ein Zweiminuten-Jauchzer, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht liegt hier das Geheimnis von "Scoundrel Days". Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Von Testosteron zu Östrogen und zurück. Eine Tour de Force für hormonell am Anschlag pubertierende Jungmänner.

"Soft Rains Of April" schließt die von "Scoundrel Days" und "The Swing Of Things" geöffnete Klammer. Mit seinem Wechsel zwischen ruhigen Parts und Schlagzeugwirbeln wirkt die Geschichte der Gefangenschaft wie eine intime Blaupause für das zwei Jahre später erscheinende "Stay On These Roads". Keine Durchhalteparolen. Kalt nagen sich die Wörter, die Raum für düstere Interpretationen lassen, in die Seele. "Time's Passing So Slow". Mit zitternder Stimme haucht Harket das letzte Wort des Album allein und zerbrechlich in den Winterwind. Ein "Over", dessen Eis-Atem das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Aus Sicht der Band ist der Longplayer die Abkehr von Produzent Alan Tarney. Der Großteil der Songs geht zwar noch auf sein Konto aber vor allem Paul möchte auch auf Tour produktiv sein und drängt darauf, die Regler selbst zu bedienen. Das organische "I've Been Losing You", das mit Bläsersätzen und einem ungeheuren Groove daherkommt, ist das erste Produkt dieser Eigenständigkeit. Später wird Paul sagen, dass "Scoundrel Days" einen Spirit hat. Einen ganz bestimmten Sound.

Nick Hornby stellt 1995 in seinem Buch "High Fidelity" drei Fragen: "Was war zuerst da, die Musik oder das Unglücklichsein? Hörte ich mir Musik an, weil ich unglücklich war? Oder war ich unglücklich, weil ich Musik hörte?" Endgültig kann ich diese sicherlich auch nicht beantworten. Habe ich diesen Hauch von Melancholie schon immer mit mir getragen, oder war die Musik der Auslöser für die Irrfahrten meines Lebens? Doch ich kann den Zeitpunkt datieren, an dem sich naives Kindsein zu einer Irrfahrt aus Liebe, Verzweiflung, Irritation und Selbstzweifel wandelte. Ein kleiner roter Kassettenrekorder und "Scoundrel Days" waren meine Eingangstür zur Pubertät. Eine erhabene Welt der Melancholie, in der sich Musik wie nie danach in mein Leben meißelte.

Eine verbundene Jugenderinnerung die in Co-Produktion zwischen Florian Schade und Sven Kabelitz entstanden ist.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Scoundrel Days
  2. 2. The Swing Of Things
  3. 3. I've Been Losing You
  4. 4. October
  5. 5. Manhattan Skyline
  6. 6. Cry Wolf
  7. 7. We're Looking For The Whales
  8. 8. The Weight Of The Wind
  9. 9. Maybe, Maybe
  10. 10. Soft Rains Of April

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23 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 11 Jahren

    Mutige und richtige Entscheidung, einem unterschätzen Album diese Ehre zuteil werden lassen. Ein von A bis Z überzeugendes Album, lediglich "Cry Wolf" fällt ein wenig ab. Ich hätte mir auch gut das ebenso unterschätzte wie hervorragende "Memorial Beach" vorstellen können.

  • Vor 7 Jahren

    Hallo Sven (ich erlaube mir jetzt einfach mal das Du, weil wir gleich alt zu sein scheinen). Vielen, vielen Dank für diese tolle Review von einem Album, daß ich seit meiner Jugend als "mein Herbst-Album" bezeichne. Auch ich war 12, als ich meine Eltern, die bis heute nur Klassik hören (was kein Manko ist, weil ich selber ebenfalls klassische Musik liebe und sie Teil meines Berufs ist), davon überzeugen konnte, auf der Rückfahrt aus den Herbstferien die überspielt bekommene Kassette mit dem neuen Album von a-ha in den Player des Audi 100 zu legen und die Musik auf die hinteren Boxen zu legen. Es war bereits dunkel, mein Vater hatte ein flottes Tempo auf der Autobahn und trotzdem war es gespenstig neblig. Seitdem verbinde ich dieses Album mit Herbst - und nur ein stabiler Mensch sollte dieses Album bewußt in der dunklen, deprimierenden Jahreszeit hören, denn es birgt in Summe eine gewisse Selbstmordgefahr - fast so, wie eine Lektüre von Thomas Bernhards Roman Frost entweder nur stabilen Menschen zu empfehlen ist, sollte man jedoch einen Hang zu Labilität und Depression haben, empfiehlt es sich, dieses Buch am besten am Strand im Sommerurlaub lesen, um nicht in komplette Melancholie und Todessehnsucht zu verfallen. So ähnlich verhält es sich meiner Ansicht nach mit Scoundrel Days, was es tatsächlich zu einem Meilenstein der Popgeschichte macht. Nicht, weil man nach dem Hören den Drang verspürt, sich umzubringen, sondern weil es eine Todessehnsucht anspricht, die dann wieder von Gefühlsausbrüchen und absoluter Lebensbejahung unterbrochen wird - bei Manhattan Skyline sogar innerhalb eines einzigen Songs. Und genau die Dualität ist in Deiner Rezension perfekt in Worte gefaßt - dafür nochmals Danke!

    P.S.: Über das eben erschienene letzte Album des genialen Leonard Cohen (welches ich noch nicht komplett gehört habe) schrieb die FAZ, es wäre (sinngemäß) das schwärzeste Album der Popgeschichte. Diesem Vergleich möchte ich entgegenhalten, daß Scoundrel Days ebenfalls ein starker Anwärter auf diesen Rang ist. Denn bei aller Heiterkeit bildet die Klammer des Albums eine sehr deprimierende Einheit.

  • Vor 2 Jahren

    Ich finde das drauf folgende Album STAY ON THESE ROADS besser.
    Hört sich noch erwachsener an...