laut.de-Kritik

Elf Hymnen für die Geläuterten, elf Weckrufe für die Schuldigen.

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Der Boss ist pissed off. Seine Heimat, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, siecht vor sich hin, stolpert von einem Kollaps in den Nächsten und hinterlässt dabei "dürre Arbeiter und dicke Banker". Ernüchtert, anklagend und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen stochert einer der letzten Land of the Free-Helden in der klaffenden Wunde Amerika, dass einem schon Angst und Bange werden kann, ob denn jemals ein passendes Pflaster gefunden wird.

"All our little victories and glories have turned into parking lots": Ein Satz aus dem Titeltrack, der fast schon resignierend daher kommt, würde er nicht von ungewohnt schnellen Drums und Springsteens Telecaster einen intensiven Hoffnungsschub verabreicht bekommen.

Dem Boss dürstet es nach Veränderung, und er ist sich nicht zu schade dafür, bei sich selbst anzufangen. Handclaps, Loops, Gospel-Chöre und verstärkte Fiddle-Einsätze halten Einzug auf dem mittlerweile 17. Studio-Schaffen des Rock'n'Roll-Veterans und siehe da: Es funktioniert.

Neuzeitliches und Altbewährtes verbünden sich und gehen Hand in Hand durch dick und dünn. "From Chicago to New Orleans, from the muscle to the bone", fordert Springsteen auf dem Opener "We Take Care Of Our Own" seine Gefolgschaft zur Selbsthilfe auf, denn von oben sei keine Hilfe zu erwarten.

Die E-Street Band steht dem Maestro dabei treu zur Seite und präsentiert sich wahlweise episch beschwingt ("Shackled And Drawn"), balladesk zurückhaltend ("Jack Of All Trades", "This Depression") oder impulsiv treibend ("Wrecking Ball").

Nur wenige Sänger verfügen über eine derart markante Stimmfarbe wie der Mann aus New Jersey. Auch wenn viele Kritiker des Barden sich nur allzu gern über dessen näselndes Timbre amüsieren: Genau dieses unvergleichliche Element verhilft seit fast vierzig Jahren vermeintlich simpel strukturierten Songs zu überirdischem Glanz. So auch auf "Wrecking Ball".

Die Working Class-Ikone weiß nur zu gut, wie man einer sensiblen Thematik musikalisch am besten beikommt. Springsteen holt sich die Gospel-Stimmen der Südstaaten-Kleinstädte ins Haus, lässt das Kollektiv in die Hände klatschen und füttert die Gebeutelten mit Klängen aus einer Gitarre, die 1950 das Licht der Welt erblickte, als seine Heimat noch vor Kraft und Energie strotzte.

Vielleicht abgesehen von der Hibbeligkeit seiner Anfangstage und der Pop-Phase Anfang der Neunziger ist "Wrecking Ball" ein Album geworden, das musikalisch nahezu alles bietet, was in den letzten vier Jahrzehnten mit dem Namen Bruce Springsteen in Verbindung gebracht wurde. Von archaischem Folk, über atmosphärische Balladen, bis hin zu erdigem Rock: Der "Working On A Dream"-Nachfolger hat alles, um sich einen ehrwürdigen Platz in der beeindruckenden Diskografie des Bosses zu sichern. Elf Hymnen für die Geläuterten, elf Weckrufe für die Schuldigen.

Trackliste

  1. 1. We Take Care Of Our Own
  2. 2. Easy Money
  3. 3. Shackled And Drawn
  4. 4. Jack Of All Trades
  5. 5. Death To My Hometown
  6. 6. This Depression
  7. 7. Wrecking Ball
  8. 8. You've Got It
  9. 9. Rocky Ground
  10. 10. Land Of Hope And Dreams
  11. 11. We Are Alive

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31 Kommentare

  • Vor 12 Jahren

    @Swingmaster Jazz (« Ich mag die Musik vom Boss aber ich finde er geht manchmal ein bisschen zu weit. Wenn er singt dass wenn er ne Waffe hätte würde er alle Banker abknallen ist das eindeutig des Guten zu viel. In einem labilen Land wie Amerika könnte sich ja mal der eine oder andere dazu animiert fühlen genau das zu tun. Vielleicht wäre in seinem Alter ein bisschen mehr Besonnenheit nicht schlecht. »):

    besonnenheit und unbehelligtes schaffen hatte das pack 70 jahre lang.
    ist doch schön, wenn der boss 2012 auf die alten tage noch mal so deutlich wird, wie us denker der marke rollins/ jello biafra es schon vor 25-30 jahren taten. wurde zeit.

  • Vor 12 Jahren

    @anwalt: was heißt hier "wurde Zeit"? Die Aussage ist doch auch beim Boss seit 25 - 30 Jahren die gleiche, wenn auch nicht so plakativ (aber es muß ja nicht immer der Holzhammer sein). Hör Dir doch einfach mal wieder die Darkness at the edge of town (Meilenstein) oder die Nebraska CD an...

    Ich bleibe aber dabei, musikalisch kann mich die neue nicht überzeugen; um mal nur in New Jersey zu bleien: sehr viel mehr Bon Jovi als Tom Waits!

  • Vor 12 Jahren

    wir sind da schon beieinander.
    es ist deshalb auch wirklich die deutlichkeit der worte, die mir als kontrast zum (für meinen geschmack auch zu süßlichen) musikalischen konzept sehr gefällt.
    dein in der literatur nicht zum ersten mal gebrachter waits-vergleich hat aber auch was für sich. zwischen 75 und 82 gab es da wenig vergleichbares in lyrischer hinsicht.