laut.de-Kritik

Grenzüberschreitend, visionär, mystisch: Der Krautrock-Urschrei.

Review von

Man kann wohl getrost und ohne jede künstliche Übertreibung sagen, dass auf dem Schloss Nörvenich im Winter 1970/71 auf ähnliche Weise Musikgeschichte geschrieben wurde wie seinerzeit auf dem 1965er Newport Folk Festival, als der "Electric Dylan" traditionell eingestellten Folk-Fans mit seinen ersten beiden Songs "Maggie's Farm" und "Like A Rolling Stone" die verschmalzten Ohren freipustete – und dafür in der Folge böse ausgebuht wurde.

Denn die ähnlich mystische, deutsche Krautrock-Band Can machte im Grunde genau da weiter, womit Dylan nach seinem Motorradunfall 1966 unfreiwillig aufhören musste: Der Erweiterung des Pop um das Unerhörte. In der Retrospektive war diese Transformation 1971, im unübersichtlichen soziokulturellen Tohuwabohu zwischen Velvet-Underground-Banane, 68er-Bewegung, Mondlandung, Woodstock, RAF-Terror und "Dark Side Of The Moon" längst nicht mehr aufzuhalten.

Sie fand trotzdem noch immer in den Hinterzimmern der Popularmusik statt, dort, wo Leute wie Karlheinz Stockhausen, Steve Reich, Terry Riley, Tangerine Dream oder Miles Davis bereits an musikalischen Visionen für die kommenden Jahrzehnte werkelten. In den Charts tummelte sich seinerzeit zwar imposante, phallische Rockmusik, die einen westlichen Zeitgeist treffend widerspiegelte: Led Zeppelin, The Who, die Rolling Stones, The Doors.

Im Vergleich zu "Tago Mago" aber, das im Herbst 1971 als Doppel-LP einen respektablen 38. Platz der deutschen Album-Charts erklomm und nach einem Inselchen unfern von Ibiza benannt ist, wirkte diese britisch-amerikanische Phalanx in ihrer wohlstrukturierten Unzähmbarkeit allerdings eher so berechenbar wie der damalige Hit des Jahres: "My Sweet Lord" von George Harrison. Was dieser eher regressiven Rockmusik abging, war das grenzüberschreitende Faible für das Utopische, das Kosmische, das Anfang der 70er Jahre in der Luft lag und bald auch von einem David Bowie genial bedient werden sollte.

Die Kölner Band Can um die beiden Stockhausen-Schüler Irmin Schmidt und Holger Czukay hatte zu der Zeit bereits mit ihrem ersten Album "Monster Movie" im Rückgriff auf klassisches Kompositionswissen, den bisweilen radikalen Techno-Positivismus des aufkommenden Krautrock sowie die damalige Modeerscheinung stundenlanger Improvisation auf Schloss Nörvenich die Sphären ihres musikalischen Unterbewusstseins erkundet.

Der noch kompromisslosere Nachfolger "Tago Mago" - sieben Edits von instinktiven, live eingespielten Songs machten sich auf der Doppel-LP breit - wurde erst zum sperrigen Mythos, dann zum Meilenstein. Das belegte erst jüngst die recht breite Rezeption des Albums, das zu seinem 40. Geburtstag als Doppel-CD wiederveröffentlichtet wurde. Der Tenor einer beeindruckten Pop-Kritik: Can mochten für die breite Masse ziemliche Hottentotten gewesen sein, in ihrer zugleich intellektuellen wie halluzinogenen Sound-Archäologie waren sie absolute Futurologen.

Das ist schon allein deshalb richtig, weil Can einer nachfolgenden Musikergeneration mit den freigeistigen Sequenzen des Albums die Idee einer neuen Musik eingepflanzt haben: "Inception" lässt grüßen. Insbesondere in England sollte man vom "German Psychedelic Underground" um Can nachhaltig beeindruckt sein. Bobby Gillespie, Sänger der hörbar beeinflussten Acid-Rocker Primal Scream, ließ anlässlich des Re-Issues von "Tago Mago" ausrichten: "Eine solche Musik hatte ich nie zuvor gehört: Nicht amerikanisch und kein Rock'n'Roll, stattdessen mysteriös und europäisch."

Gerade letztere Zuschreibung ist hier von Bedeutung. Denn gegenkulturellen Rock aus Europa, noch dazu aus einem politisch zerrissenen, kulturell unverdächtig-bräsigen Westdeutschland hatten gerade die Engländer bis dato niemals auf dem Schirm gehabt. Umso mehr sollte sich in den 80er Jahren der britische Post-Punk und Industrial-Bands an den stoisch gehaltenen, hypnotischen Rhythmen des Jazz-geschulten Can-Drummers Jaki Liebezeit ergötzen.

Das maschinelle "Mushroom", eine deutsch-japanische Schicksalselegie auf die Atombombe, nahm gar eine neue musikalische Ästhetik voraus. Denn mit seinem kalten Metronomismus war Liebezeit so etwas wie eine erste "Human Drum Maschine", ehe man den Menschen mit House und später Techno aus der Verantwortung für den mechanischen Rhythmus entließ.

Der japanische Can-Sänger Kenji "Damo" Suzuki wiederum, ein schamanischer Straßenmusiker, war nach dem Ausstieg des psychotischen Malcolm Mooney 1970 von Czukay vor einem Münchner Café aufgelesen worden. Der Legende nach flüchtete am gleichen Abend bei seinem ersten, recht martialischen Auftritt ein Großteil des Publikums verschreckt aus dem Saal. Ein junger amerikanischer Durchreisender blieb, um dem meditativen Kauderwelsch und den Urschreien Suzukis zu trotzen: David Lynch.

Ein Thom Yorke würde drei Jahrzehnte später, bei "Like Spinning Plates" auf "Amnesiac", sein fiebriges Mantra genauso - rückwärts wie vorwärts - abspulen wie eben jener Suzuki auf "Oh Yeah". Überhaupt manifestiert sich beim Hören dieses dritten Songs von "Tago Mago" nach der einleitenden Drone-Detonation nicht nur der kreiselnde Krautrock um die frühen Kraftwerk oder Neu! vor dem geistigen Auge, sondern auch der Masterplan für die Weltkarriere von Radiohead.

Der galoppierende Schlagzeug-Beat, die flirrenden, übersteuerten Gitarren, die Sogwirkung der hexerischen Symbiose aus Keyboardflächen. Die ästhetischen Parallelen zu vielen Radiohead-Stücken sind verblüffend. Nur begnügen sich Can nicht mit der Formel des diskordanten Pop-Songs. Nach einem Break, bei dem kurz Jazz und Ambient zusammenfließen, wird noch ein fuzzy, funkiger Psychedelic-Rocker aus "Oh Yeah". Ein Song mit einer Laufzeit von 7:23 Minuten, in dem die Zukunft von der musikalischen Gegenwart abgelöst wird.

Damit sind bisher gleichwohl nur die zugänglichsten Songs auf "Tago Mago" beschrieben, zu denen sich immerhin noch der ausgefuchste Prog-Rocker "Paperhouse" gesellt, in dem Michael Karoli mit seiner Gitarre über den potenten Beat und die kühne Dramaturgie eines Actionfilms hinwegtobt. Richtig schwierig und zugleich interessant wird das Album jedoch erst mit "Halleluhwah", einem 18-minütigen Mondspaziergang der Band, der mit elektrisiertem Funk, Fusion, sägenden Geigen und Proto-Punk unterlegt ist.

Liebezeits erneut gewaltiges Schlagzeug ist dabei der Schrittzähler. Karoli soll von eben diesem Beat bei der ersten Session gar Halluzinationen bekommen haben – man glaubt es nur allzu gern. Das 17-minütige "Aumgn" nimmt in seinen bündigeren Passagen danach die Post-Rock-Euphorie der 90er Jahre vorweg, setzt sich aber über deren selbstlimitierende Formstrenge locker hinweg und entwickelt sich als Freiformstück von einer quasi-hinduistischen Meditationsübung zum präzivilisatorischen Tanz ums Feuer.

Doch es geht noch gruseliger: Im über elfminütigen Anarcho-Jazz von "Peking O" jault Suzuki wiederholt "Driving My Way Back To Yesterday", kräht ekstatisch und verliert sich schließlich zu Speed-Metal-Drums und der frühen Vorstellung eines Horrorfilm-Soundtracks in dadaistischem Gebrabbel. Hat man das durchgestanden, ist man froh, dass "Tago Mago" mit dem Beatle-esken Hare-Krishna-Jam "Bring Me Coffee Or Tea" in einer sanften Karthasis endet.

Dennoch ist "Tago Mago" am Stück wohl nur für hartgesottene Leftfield-Forscher und Can-Fans in nüchternem Zustand zu ertragen. Die Evolutionstheorie des Rock'n'Roll ist es, die dieser Platte unumschränkt Recht gibt.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Paperhouse
  2. 2. Mushroom
  3. 3. Oh Yeah
  4. 4. Halleluwah
  5. 5. Aumgn
  6. 6. Peking O
  7. 7. Bring Me Coffee Or Tea

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