laut.de-Kritik

Eine Politpunk-Blaupause: auf die Barrikaden!

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Die Goldenen Zitronen haben nach dreißig Jahren nichts an Anziehungskraft eingebüßt. 2014 verkaufen die Hamburger nach wie vor Konzerte aus. Dabei vollzieht sich mittlerweile gar eine Art Generationenbrückenschlag vor der Bühne, wo Altpunks, Studenten und etablierte Theatermenschen gemeinsam stehen.

Mein Erstkontakt mit den Goldenen Zitronen erfolgte hingegen via "Economy Class". Zu jener Zeit hatten Schorsch Kamerun, Ted Gaier und Co. längst abgeschlossen mit dem Jugendzentrums- und Hausbesetzerszene-Funpunk, mit dem man bis 1991 Fans gewann.

Ich war also zu spät für den "Kampfstern Mallorca". Andererseits waren Mitte der 1990er Hartz IV-Gesetze, Gentrifizierung oder die alles durchdringende Digitalisierung des Alltags, heute wiederkehrende Inhalte, noch kein Thema. Auch stand der stilistische Wandel hin zum Abstrakten, Assoziativen, Metaphorischen noch bevor.

Auf die Barrikaden ging man trotzdem. Unter dem Eindruck fremdenfeindlicher Anschläge auf Asylbewerberheime im wiedervereinigten Deutschland hatten die Zitronen sich seit "Das Bißchen Totschlag" (1994) von Grund auf politisiert. In diese Phase hinein, die bis "Lenin" andauern sollte, erscheint mit "Economy Class" ihre Politpunk-Blaupause.

Darauf erklären Kamerun und Gaier gemeinsam mit Schlagzeuger Enno Palluca sowie Hans Platzgumer und Julius Block an Bass, Orgel und Synthesizer das subversive Moment zur Maxime. Mischten sich auf "Totschlag" noch bekannte Dadaismen unter neudeutsche Katastrophen wie Rostock und Hoyerswerda, gelingt hier die Geschlossenheit von Form und Inhalt.

Bei aller Brillanz nachfolgender Veröffentlichungen, trotz Experimenten mit Krautrock oder Elektronik, bleibt der messerscharfe Fokus von "Economy Class" ein Einzelfall. Um einen Punkrock-Nukleus herum arrangiert, wird das Klangbild mit Jazz angereichert, etwa durch das F.S.K.-Bläserensemble. Der dementsprechend hohe Improvisationsanteil mindert die Kohärenz jedoch nicht.

Mit einer Ausnahme ist es allein Schorsch Kameruns Aufgabe, seine bohrende Zeitgeist- und Deutschlandkritik ins Mikrofon zu ätzen. Und so wie sich die Stimme regelmäßig überschlägt, wenn sie sich an fragwürdigen Geisteshaltungen abarbeitet, agiert die gesamte Band - als Protokollant einer kaum kontrollierten Raserei.

Gaiers gewollt dilettantische Gitarrenriffs sägen wie die verzerrte Orgel von Julius Block, und Palluca prügelt so manisch auf sein Set ein, dass die Empörung über die Verhältnisse körperlich erfahrbar wird. Inhaltlich etabliert das einminütige "Meine Kleine Welt" direkt das Leitmotiv: Demaskierung der unterschwellig chauvinistischen bis offen xenophoben Attitüden in Teilen der deutschen Gesellschaft.

Das lyrische Ich ist synonym mit dem Feindbild, gegen das auf "Economy Class" agitiert wird. "Aus dem kleinen Fenster meiner kleinen Welt" skandiert das personifizierte Kleinbürgertum: "Ich bin realistisch, andere sind es nicht. Ein bisschen bin ich auch für sie, doch irgendwo ist Schluss". Es rühmt sich seiner Begabung für Logik und Mathematik, preist eine vollkommen technokratische Weltsicht.

Schon hier vollziehen die Hamburger das Kunststück zynischer Zuspitzung: Die Selbstverortung des Biedermanns entblößt sich dadurch als Selbstrechtfertigung. Um seine Tiraden gegen 'die anderen' zu deuten, braucht es kein Psychologie-Diplom. "Meine Angst vor Vergänglichkeit und Substanzverlust kompensiere ich durch rationale Kontrolle", heißt es ergänzend im Schlussstück.

Zum Zwangsneurotiker gesellen sich über 14 Tracks weitere Charakterisierungen. Meist in der Monologform der ersten Person, manchmal im Er-sagt-sie-sagt-Dialog, sezieren die Zitronen das ideologische Erbe der ersten und zweiten Post-Weltkriegs-Generation.

"Muss Ja" geht zeitlich zurück in ein Nachkriegsdeutschland, in dem es von ignoranten Rechthabern wimmelt: "In den Straßen sah man viele alte Männer, ihre Väter. Vielen fehlte ein Arm oder ein Bein, aber Schuld hatten immer noch die anderen." Die notorische Ignoranz führt in "Menschen Haben Keine Ahnung" letztlich zum reaktionären Marsch in die Disziplinargesellschaft.

Das dazugehörige Mittel zum Herrschaftszweck liegt in den "Zuchtmethoden Und Binsenweisheiten". "Die zwei Methoden, sich Menschen dumm zu halten, ist sie glauben zu machen, sie wären ihr eigener Schmied. Oder sie seien von fernen Herrschern bestimmt, deren Launen sie zu huldigen haben." Detailierter auf Kapitalismus als Religionsersatz gehen Gaier und Kamerun in der zentralen Zeitgeist-Chronik "Fin De Millénaire" ein.

"Aus den immer gleichen Ingredienzien Egoismus, Freizügigkeit, Autorität, Konkurrenz, Effizienz und Disziplin kochte man überall auf der Welt verschiedene Variationen des gleichen Gerichts", deklamiert die Collage. "Verschiedene Dinge hatte die Wissenschaft zweifelsfrei festgestellt. Zum Beispiel, dass die Erde eine Scheibe sei, die von der einen Seite von der Sonne beschienen würde, während die andere nun mal für ewig im Dunkeln läge."

Zum einen nimmt man die vorherige Technokratie-Kritik hier wieder auf, zum anderen spielt man mit schonungslosem Sarkasmus auf die stillschweigende Akzeptanz globaler Ausbeutung und weltweiter Machtgefälle an, die weite Teile der Gesellschaft prägt. I want my H&M, no matter what eben.

Obwohl "das Gewand, in dem die Zukunft daherkam, nichts von der Wunderhaftigkeit früherer Tage hatte", und obwohl man sich "so sehr an Schnelligkeit gewöhnt hatte, dass sie nicht mehr leidenschaftlich und hoffnungsfroh beklatscht, sondern als Existenzgrundlage angesehen wurde", kurz: obwohl der Spätkapitalismus längst eingetreten ist, verliert die Wirtschaftsordnung nicht an Relevanz. Sie breitet sich im Gegenteil aufgrund des Anscheins von Alternativlosigkeit noch weiter aus.

Gegen systemaffirmative Idiome agitiert Kamerun auch in "There's No Business Like Business". Der Umwandlung aller Güter in Waren verkomme zum "Ausdruck meiner Individualität". Dazu erklingt ein sinnentleertes Motivationstrainingsmantra in memoriam Jürgen Höller: "Hey hey, that's the way, come on come on, don't criticize it!".

Zudem wird die eigene Verstrickung in die kapitalistische Verwertungslogik reflektiert, die die Band fünf Jahre später mit "Schafott Zum Fahrstuhl" endgültig zur Causa erhebt: "Ich mache euch den Berufsjugendlichen, oder auch den Kasper. Oder auch den außerordentlich kontroversen Spielverderber."

So bleibt dieses sechste Die Goldenen Zitronen-Album auf mehrfache Weise zeitgemäß. Wenn unser repräsentativer deutscher Kleinbürger "Auf Dem Fundament Meiner Initialien" von kranken Geistern in kranken Körper predigt und dann mit cholerischer Stimme zu "Vollkorn und reichlich Ausgleichssport" rät, ist der Bogen geschlagen von der nationalsozialistischen Auslegung des Ausspruchs zu einem vielerorts befürchteten Gesundheitsfaschismus im 21. Jahrhundert.

Ganz am Ende schließlich nimmt "Meine Suppe Ess Ich Nicht" einerseits das Motiv des vermeintlich rebellischen, weil nicht an einen linken Mainstream angepassten Individuums wieder auf. Das Stück basiert darüber hinaus auf einer wahren Begebenheit.

Im Dezember 1993 hatte ein Hamburger Beamter einen jungen Gambier im Zug nach einem Streit erstochen. Das Landgericht sprach ihn daraufhin wegen angeblicher Notwehr zunächst frei – ein äußerst strittiger Vorgang, der hier als Ausdruck eines salonfähigen Rassismus gedeutet wird.

Ihre kapitalismuskritische Einsicht in gesellschaftliche Kontexte wie ihr konkretes Engagement für solcherlei juristische Fälle stehen als Exempel dafür, dass die Zitronen für den Kulturbetrieb abseits reiner Unterhaltung unersetzlich sind. 1996 wiederum markiert den Wendepunkt, an dem ihr agitatorisches Aufbegehren mit dem Vokabular von Punk und Jazz die perfekte Symbiose bildete.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Meine Kleine Welt
  2. 2. 0.30, Gleiches Ambiente
  3. 3. There's No Business Like Business
  4. 4. Das Binnenland
  5. 5. Wer Soll Das Entscheiden
  6. 6. Muss Ja
  7. 7. Hände Hoch Papa
  8. 8. Fin De Millénaire
  9. 9. Menschen Haben Keine Ahnung
  10. 10. Zuchtmethoden Und Binsenweisheiten
  11. 11. Unser Potemkinsches Dorf
  12. 12. Munich
  13. 13. Auf Dem Fundament Meiner Initialien
  14. 14. Meine Suppe Ess Ich Nicht

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2 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 10 Jahren

    Oh ja, die Platte ist der absolute Oberhammer. Die Zitronen sind mehr punk als alles, was je in Deutschland erschien. Warum? Weil drei Akkorde mit Bass, Gitarre und Schlagzeug für sie viel zu konformistisch wären.

    • Vor 10 Jahren

      Kann man so sagen. Im Prinzip dürfte es die Band längst nicht mehr geben. Für die meisten Punks sind die Zitronen viel zu intelligent, für die meisten Bürgerlichen viel zu böse und ehrlich.

      Daß es nach wie vor eine große und treue Fangemeinde gibt, lässt mich etwas weniger an meinen Zeitgenossen zweifeln...