Man sollte kaum meinen, dass man auf die Frage 'was ist Popmusik?' eine prägnante Antwort bekommt. Willi, der fingierte Extrem-Feuilletonist und Freund des Jazzthing-Redakteurs Pit Huber, kennt sie: "Pop ist die finale Liturgie der implodierenden Informationsgesellschaft." Obwohl er mit einigen anderen Statements knallhart daneben liegt ("Jazz ist die synkopierte Fortsetzung des revolutionären Diskurses"), trifft seine Definition des mächtigen Phänomens Pop den Nagel auf den Kopf, oder?

Was ist Popmusik?

Wikipedia, die freie Internet-Enzyklopädie, formuliert es pragmatisch und bezeichnet Pop als Unterhaltungsmusik, die vom überwiegenden Teil der Bevölkerung gehört wird und durch Einfachheit gekennzeichnet ist. Wenige Harmonien in als angenehm empfundenen Abfolgen, eingängige Melodien und simple, durchgehende Rhythmen sind hiernach die wichtigsten Bestandteile solider Popmusik. Trotz allem schließt Popularität Originalität nicht aus, wie es wichtige Vertreter erwachsener Popmusik (Sting, Tom Waits u.a.) nicht müde werden zu beweisen.

Das Handbuch der populären Musik (Wicke/Ziegenrücker, Schott) spricht von Musik, die in ihrer Stilistik Extreme ebenso vermeidet, wie den exklusiven Bezug auf bestimmte Subkulturen. Die Rede ist in beiden Fällen von Mainstream-Popmusik, wie wir sie heute kennen. Die Marschrichtung des Mainstream geben die Charts vor und damit die Masse an Käufern und Käuferinnen, die beim CD-Dealer ihre Stimme abgeben.

Die Verkaufszahlen von Schallplatten wurden ursprünglich im Fachmagazin 'Billboard' in Hitlisten notiert. Diese Ur-Charts waren in den 40er und 50er Jahren in drei Sparten unterteilt, die die Rassenzugehörigkeit der Bandmitglieder in den Mittelpunkt stellte. Unter 'Popular Music' wurden Schlager verstanden, der damalige Begriff 'Popular Music' hat also mit der heutigen Bezeichnung 'Popmusik' nichts zu tun. Unter 'Country and Western' wird Musik für Weiße gelistet, und 'Rhythm'n'Blues' repräsentiert die Hörgewohnheiten der schwarzen Bevölkerung. Anfang 1954 geschieht dann in einem Prozess wachsenden politischen Bewusstseins das Unfassbare: den schwarzen Bands 'The Crows', 'The Chords' und 'The Orioles' gelingen trotz Zugehörigkeit zur Rhythm'n'Blues-Sparte Hits, die sich in den weißen Charts wiederfinden. Kurze Zeit später singen die weißen Sänger Bill Haley und Elvis Presley 'schwarze' Rhythm'n'Blues-Stücke für ein weißes Publikum. Dieser Frevel gilt als die eigentliche Geburtsstunde der Popmusik.

Die Geschichte der Popmusik

Popmusik und die gesellschaftlichen Veränderungen im Kontext der Ausbildung jugendlicher Subkulturen in den 50er und 60er Jahren hängen also eng miteinander zusammen. "Ähnlich, wie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die Kindheit erfunden wurde, so wurde in dieser Zeit der 'Jugendliche' erfunden, der sich von der Welt der Erwachsenen absetzen wollte, und auch die finanziellen Mittel zur Verfügung hatte, dies durch die Auswahl seiner Konsumartikel und nicht zuletzt seiner Musik zu tun" schreibt Thomas Zimmermann über diese Zeit des politischen Umbruchs.

Die Ursprünge allen Popmusikschaffens liegen indes in der afroamerikanischen Volksmusik, besser bekannt als Blues. Und um an dieser Stelle ganz genau zu sein, handelt es sich "eigentlich um afro-nordamerikanische Volksmusik - die afro-südamerikanische Volksmusik wird als 'Latin' bezeichnet." Die kennzeichnenden Merkmale afro-wie auch immer-amerikanischer Musik sind die musikalischen Parameter Rhythmus und Klangfarbe. Sie werden stärker betont als in der westeuropäischen Musik, die Melodie und Harmonie in den Vordergrund stellt.

Der Weg des Blues zu Beginn des Jahrhunderts bereitet dem Pop einen fruchtbaren Nährboden. Auf den um Jazz und Swing erweiterten Roots entsteht in den 40er Jahren Rhythm'n'Blues. Er ist der schwarze Beitrag zum musikalischen Rassen-Crossover, der im Rock'n'Roll (Jerry Lee Lewis, Chuck Berry, Elvis Presley, Bill Haley) seinen Ausdruck findet.

Pop ist Revolution

Die Jugend wollte mit den überkommenen politischen und weltlichen Ansichten ihrer Eltern nichts mehr zu tun haben und so drehten sich die Texte des Rock'n'Roll gerne um die Ängste und Sorgen der amerikanischen Pubertierenden. Liebe, Schule und die Revolution gegen das Elternhaus sind die Dauerbrenner. Musik begleitet bis heute wichtige Pubertätsaufgaben und transportiert ein bestimmtes Lebensgefühl, ist Abgrenzung und Ausdruck eines eigenen, individuellen Selbstbewusstseins.

Offenen Protest gegen die Erwachsenenwelt formulieren ab 1965 die Rolling Stones und The Who explizit in ihren Liedtexten. Aber nicht nur durch Wortgewalt wollen die Musiker provozieren. Auch die Bühnenshows, Outfits und das gesamte Verhaltensrepertoire zählen zu den Waffen der Popwelt gegen das Establishment. Während die einen Hotelzimmer zertrümmern, gelten die Pilzköpfe als Wegbereiter eines eigenständigen europäischen Pop-Bewusstseins, das sich von seinen amerikanischen Eltern emanzipiert.

In den USA erfährt das Aufbegehren seinen Höhepunkt zur Hippie- und Flower-Power-Zeit der Endsechziger. Der Vietnamkrieg und seine Folgen bestimmen damals das Bewusstsein der amerikanischen Jugendlichen. Die politischen Forderungen richten sich auf den Pazifismus, die freie Liebe und Bewusstseinserweiterung durch LSD und Marihuana. Im Psychedelic Rock mit Gruppen wie Pink Floyd und Grateful Dead finden sie ihren musikalischen Ausdruck. Leider sind bei diesen Selbstversuchen bedeutende Künstler und Künstlerinnen wie Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison (The Doors) und Brian Jones (Rolling Stones) auf der Strecke geblieben.

Hierzulande feiert dieser gesellschaftliche Prozess in den 70ern wahre Sternstunden. Krautrock ist die Musik der Zeit. Can, Kraftwerk, Kraan und viele andere verlieren sich in ausgedehnten Improvisationen, Konzeptalben und Gesamtkunstwerken. Der intellektuelle und künstlerische Anspruch der Popmusik wird dabei ebenso klar formuliert, wie der politische, den 'Ton Steine Scherben' am deutlichsten benennen. Nachdem die Sehnsucht der Popmusik nach intellektueller Anerkennung im Amerika der 60er durch Pop-Art-Künstler wie Andy Warhol und Roy Lichtenstein bereits eingelöst wurde, sind im Mutterland der Popmusik in dieser Zeit Art-Rock Bands wie Yes und Genesis angesagt.

In den 70ern ist auch die Zeit, in der sich die Rockmusik vom Popkuchen abspaltet und eine eigene Schnitte etabliert. Wichtige Wegbereiter dieses Musiksplit sind Led Zeppelin und Deep Purple. Im Black-Music Bereich etabliert sich gleichzeitig Disco und Funk als zeitgemäßer Ausdruck der schwarzen Seele. Thomas Zimmermann schreibt über diese Zeit: "Die Ende der 60er Jahre entstandene Diversifizierung der Popmusik mündet in den 70ern in miteinander unvereinbaren Stilrichtungen und spaltet erstmals die bis dahin geschlossen aufgetretene Gemeinschaft der Popmusikhörer." So gesehen sind also alle Erscheinungen moderner Pop- und Rock-Musik von Grunge bis Country, Goa bis Gothic, Salsa bis Soul und Hip Hop bis Krautrock lediglich namentliche Spielarten ein und desselben Phänomens - Pop.

Punk stellt in den 70ern als Gegenbewegung zu den musikalischen Ergüssen des Art- und Krautrock, den Dilettantismus ins Zentrum. "Punk versteht sich als Gegensatz zu den Rockdinosauriern, die mit Sattelschlepperkolonnen durch die Lande fahren und in riesigen Arenen Musik machen, die mit dem Alltag und der sozialen Wirklichkeit der Jugendlichen nichts mehr zu tun hat." Die Sex Pistols und The Clash legen davon ein beeindruckendes Zeugnis ab. In anderen Disziplinen hat sich die Popmusik indes von allen politischen oder sonstigen Ansprüchen befreit. Abba besingen in einem ihrer Lieder, um was es im Mainstream-Pop weiland geht: 'Money, Money, Money'!

In den 80ern sind New Wave und die Neue deutsche Welle angesagt. The Police, die Talking Heads und Nena stehen ebenso für diese Dekade wie der King Of Pop - Michael Jackson, Prince, Whitney Houston und Tina Turner. 1979 legt die Sugar Hill Gang mit 'Rappers Delight' den ersten Hip Hop-Track vor und verpasst der Musikwelt damit ein neues Genre, das den Protest erneut ins Zentrum stellt. In den 90ern beherrschen Grunge (Nirvana) und Techno, R&B und weiterhin Hip Hop die Szene.

Musik als Ware

Heutzutage hat sich Popmusik als gesellschaftlich allgemein akzeptiertes Phänomen etabliert. Damit geht einher, dass sie massenhaft produziert, verbreitet und erworben wird. Sie ist also an technische und finanzielle Apparaturen gebunden, die ihre massenhafte Produktion und Verbreitung überhaupt erst ermöglichen. Die durch den Industrialisierungsprozess entscheidend veränderten Produktions- und Verbreitungsbedingungen von Musik, rücken dessen Warenaspekt in den Vordergrund. Auf dieser Grundlage entsteht die Musikindustrie als Bestandteil kapitalistisch organisierter Kultur- und Medienverwaltung.

Darin muss sich die Popmusik den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Marktes beugen, was eine Normierung und Standardisierung zur Folge hat. Sie muss simpel und (be)greifbar sein, was eine überschaubare Gliederung impliziert. Popmusik soll in der Lebenspraxis ihrer Hörer die Funktion erfüllen, die gemeinhin als Unterhaltung bezeichnet wird. Sie soll uns also zum amüsieren, tanzen, mitsingen, abschalten, genießen, chillen usw. anregen, und somit leicht konsumierbar sein.

Pop = Populär?

Ob mit diesem zugegebenermaßen ausschweifenden Beitrag, das Phänomen Pop ausreichend erkannt, beschrieben und fassbar gemacht wird, bleibt dahin gestellt. Festzustellen bleibt, dass Popmusik, das Ensemble sehr verschiedenartiger Genres und Gattungen, sich ständiger Veränderung befindet. Pop ist das "Resultat von komplexen sozial-kulturellen Prozessen, dessen Hauptakteure (Musiker, Publikum und Industrie) ihre Vorstellungen davon, was populäre Musik jeweils sein soll gegeneinander aushandeln und durchsetzen suchen." (Wicke/Ziegenrücker)

Auch darüber, ob der Begriff 'Pop' als Abkürzung für 'populär' gewertet werden darf, gibt es verschiedene Haltungen. Am gebräuchlichsten ist sicherlich die Ansicht, 'Pop' einfach als Kurzform von 'Populäre Musik' oder 'Popularmusik' zu betrachten. Das Brockhaus Riemann Musiklexikon hat allerdings ein gewichtiges Gegenargument: "Pop als Abkürzung von populär ist zur Bedeutungserklärung unzureichend, da der lautmalerische Eigenwert dieser Silbe mit jenem schillernden Bedeutungsspielraum zwischen Protest, Kunstanspruch, extravagantem Konsum usw. dabei verloren geht."

Ob nun Willi mit seiner eingangs erwähnten Feststellung, Pop sei die finale Liturgie der implodierenden Informationsgesellschaft, recht hat, können wir nicht abschließend beantworten. Falls er mit Liturgie das gesamte gesellschaftliche Geschehen meint, das sich u.a. in Wort, Gesang, Musik und Tanz widerspiegelt, hat er sicher recht. Und falls nicht, auch egal.