laut.de-Kritik
Bildhafte Aufarbeitung eines Jahrhundertsturms.
Review von Toni HennigDie 70-jährige Avantgarde-Künstlerin Laurie Anderson, die in New York lebt und arbeitet, und das sich über die Grenzen der klassischen Musik hinwegsetzende Kronos Quartet aus San Francisco führten "Landfall" zum ersten Mal vor rund einer halben Dekade auf. Das Stück erscheint jetzt als Studioalbum mit dreißig zumeist kurzen Einzeltracks.
Auf dem Werk teilt Laurie Anderson ihre Erlebnisse rund um den Hurricane Sandy, der im Oktober 2012 über Mittel- und Nordamerika wütete und mindestens 285 Menschenleben forderte. Auch Lauries Haus in Manhattan zerstörte der Jahrhundertsturm: Analoge Keyboards, Bühnenrequisiten sowie unzählige ihrer Papiere und Bücher gingen verloren.
Davon erzählt sie in "Everything Is Floating" mit ruhiger Stimme zu einem traurig neoklassischen Fundament, gelegt vom Streichquartett um Violinist David Harrington, das in der Vergangenheit bereits unterschiedliche Künstler aus Klassik, Jazz und Pop wie Philip Glass, John Zorn oder Tom Waits unterstützte. "And I thought how beautiful, how magic and how catastrophic", so Laurie rückblickend. Auf der Scheibe geht es darum, wie jeder Einzelne Verluste verarbeitet bzw. bewältigt: Kurze Zeit später, 2013, starb auch noch ihr Ehemann Lou Reed, der sich auf "Magic And Loss" (1992) genau demselben Thema widmete.
In "We Learn To Speak Yet Another Language" sinniert sie dagegen über eine bizarre Begebenheit in einer niederländischen Karaokebar sinniert. In dem fast 10-minütige Kernstück "Nothing Left But Their Names" kreiert das Kronos Quartett wiederum eine sich wiederholende, eindringliche Motivik. Laurie Anderson fügt evolutionär und religiös motivierte Zeilen hinzu, die jedoch eine monotone Computerstimme so humorlos vorträgt wie Lou Reed die Gedichte und Kurzgeschichten von Edgar Allen Poe auf "The Raven". Hier hätte die Musik auch gut für sich alleine sprechen können.
Unterm Strich erschaffen die Kollaborateure aber eine geschlossen düstere und äußerst bildhafte Atmosphäre. Akustische und elektronische Sounds gehen mit multimedialen Aspekten mitunter eine berauschende Symbiose ein. Dabei prägt eine Software das Klangbild, die ursprünglich für Solobratsche konzipiert wurde, später aber für ein ganzes Quartett weiterentwickelt wurde. Daraus bezieht die Scheibe auch ihre besondere Spannung und ihr Überraschungsmoment. Ähnlich gelagerte Klangexperimente kennt man etwa im Jazz von George E. Lewis, der mit der Software "Voyager" in den 80er-Jahren einen virtuellen Improvisationspartner erschuf.
So finden sich auf der Platte eine Menge filmischer Leitmotive: In "CNN Predicts A Monster Storm" imitiert das Kronos Quartet mit wirbelnden Streichern schwere Windgeräusche. man hört geradezu wie sich eine Katastrophe anbahnt. Bedrohliche Violinen prägen "Through The Dark City". In "Helicopters Hang Over Downtown" spielt die repetitive Elektronik auf das Kreisen des Rotors eines Helikopters an.
Die beklemmende Stimmung und Dramatik erinnert an Videospielsoundtracks à la "Silent Hill". Gerade jene Momente wirken am Eindringlichsten, die Maschinelles, oftmals garniert mit Field Recordings und Samples, und humane Sinneseindrücke kombinieren. In "The Electricity Goes Out And We Move To A Hotel" bringen dräuende Ambient-Sounds und schwermütige Streicher eine surreale Soundkulisse auf. Verängstigt streift man vor dem inneren Auge durch New York.
Der Platte kann man sich letzten Endes aus zwei Perspektiven nähern: Parallel zum Album veröffentlicht Laurie Anderson ihre karriereumspannende Retrospektive "All The Things I Lost In The Flood", die sich hervorragend als Begleitlektüre eignet. Aber sie funktioniert auch ohne intensive Textarbeit, dafür bürgen die einfallsreichen, visuell orientierten Arrangements des Kronos Quartett.
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