"You'll Never Sing Alone: Wie Musik in den Fußball kam" von Gunnar Leue erinnert daran, wo das Herz des Fußballs schlägt und wie es sich anhört.

Kurve (rnk) - "Itz kamming hooohm, itz kaammming hooooooohm", kreischte Jürgen Klinsmann. Dem eh sturzbesoffenen Volk waren die atonalen Laute - irgendwo zwischen Todeskampf einer Seemöwe und panischem Pferdegewieher - vollkommen egal. Deutschland holte gerade die Europameisterschaft, und "Three Lions" war die offizielle Hymne des Turniers. Ein eigentlich sehr schöner Britpop-Song, geschrieben von Ian Broudie.

Die Engländer kannten ihn bereits als Sänger der Pop-Gruppe Lightning Seeds, die im Britpop-Boom auch ihren Moment hatte. Seine Vorstellung von einem perfekten Fußball-Song sah so aus: Er sollte nicht den üblichen "Auf geht's! Kämpfen und Siegen"-Regeln folgen. Die Fans sollten im Mittelpunkt seiner Hymne stehen, gemeinsam an etwas Großes glauben, einfach über sämtliche Klassen hinweg. "Es geht nicht über die Botschaft: Kommt schon! Gewinnt! Für die meisten Fußballfans ist Verlieren die viel häufigere Erfahrung. Eigentlich geht es um das Leiden und die Emotionen, die wir alle am Fußball mögen."

In der Neuauflage schon 1998 wird das noch einmalig deutlich, als Broudie den vielleicht immer noch besten Fußball-Song aller Zeiten noch einmal neu interpretiert. In dem Musikvideo durchleben Baddiel, Skinner und er das Trauma des heutigen englischen Fußballtrainers Paul Scholes. Der damals noch junge Mann verschoss den Elfmeter und brachte damit Deutschland ins Finale. "We still believe" singen sie noch einmal und nutzen die letzten Minuten für eine immer noch unfassbar lustige Abrechnung mit den bloody krauts. Am Ende sogar inkl. dem Mitschnitt von Klinsmanns Anti-Gesang. Niemals klang kulturelle Aneignung furchtbarer.

Grenzenlose Freunde

Gunnar Leue untersucht in seinem Buch "You'll Never Sing Alone: Wie Musik in den Fußball kam" die Herkunft und den Werdegang der Schlachtrufe und Fußballgesänge. Der passionierte Union Berlin-Fan kuratierte schon die Ausstellung "The Sound Of Football" und sammelt leidenschaftlich Platten mit Fußballbezug. Ein paar besonders schöne Album-Cover darf man auf der letzten Seite des Buches bewundern.

Sehr schön die quasi religiöse Maradona-Hommage von Cousin Feo & Dre Mendoza, unfassbar einfallslos dagegen der Werder-Fan Jan Delay. Überhaupt legt das Buch den Blick auf kaum hörbare Grusel-Kabinettstücke frei. "Deutschland ist geil" von Soul Control oder Dj O-Tons "Uli's Daum" bezeugen noch mal die massive Überschätzung der teutonischen Humor-Fähigkeiten.

Nett, sympathisch, aber auch nicht wirklich gut dagegen "Fußball ist immer noch wichtig" von Fettes Brot. Also eigentlich wie immer. Zum Glück stehen dem gegenüber wirklich majestätischer Post-Rock wie Mogwais Musik zu der Zidane-Doku "A 21st Century Portrait" oder der WM-Song-"World in Motion" von New Order. Eine besonders schönes Fundstück bleibt "Freunde hinter Stacheldraht". Wo heute Rivalität herrscht, gab es 1988 mit "Freunde hinter Stacheldraht" sogar noch eine musikalische Solidaritätsbekundung über die Berliner Mauer hinweg.

Herz und Kommerz

Die Skurilität und der Amateur-Charakter verschwindet Ende der Nullerjahre. Die FIFA treibt die Eventisierung voran und lädt nun Mainstream-Acts wie die Black Eyed Peas oder Shakira zu den immer spektakulären Eröffnungsshow ein. Die Profis selber schaudersingen ihre Fußballsongs nicht mehr selbst ein, sondern geben diese den Profis hinter dem Mikro.

Schade um den Trash-Faktor, denn an seine Stelle tritt nun austauschbarer Algorithmus-Pop von augenblicklich angesagten Industrie-Plants. In diesen Songs, so stellt Leue fest, kommt nicht mal Fußball als Thema vor. Immerhin klang die Xavier Naidoo-Coverversion von "Dieser Weg" fast noch besser als der Stampfmarsch von "So gehen die Gauchos", den "unsere Jungs" hüpftorkelnd auf der Bühne vollführten. Ungefähr ein IQ-Quotient vor Songs mit "Hurensohn" und homophoben Untiefen des Kurven-Kanons.

Doch mit den Corona-Geisterspielen merkte man doch, wie das Anfeuern, die Chants und ihre emotionale Aufwertung fehlt. Elf Menschen, die nun hörbar eine Kugel über den Rasen kickten und das Echo gespenstisch durch das leere Stadion hallte. So gruselig, dass die Sportsender sogar gefakte Stadiongesänge als Option anboten oder man wie in Japan über eine App mit dem Stadionanlage verbunden wurde. Die Nachbarn und Mitmieter freute es sicherlich. Alles aus der Not geboren, aber heute denkt man wirklich nur noch mit einem Schaudern an solche Events zurück. So wirklich besser wurde es danach auch nicht.

Wie kaum eine andere Sportart steht Fußball mittlerweile für den kommerziellen Ausverkauf, der Moral endgültig abhanden kommt und in der Millionäre die Regeln des Kapitalismus noch weiter ausdehnen. Doch das Herz schlägt noch in den Kurven. Im kollektiven Jubel, dem Anschreien gegen eine Niederlage und dem gegenseitigen Trost. Am 21. April 2022 sangen die Liverpool Fans "You’ll Never Walk Alone" in der 7. Minute der Spielzeit. Nicht gegen, sondern für den großen Erzrivalen Manchester United. Nur sieben Minuten lang schlug das Herz von Christiano Ronaldos Sohn, bis er verstarb und nicht wie sein Zwillingsbruder das Licht der Welt erbickte. Ein Moment des Mitgefühls, der gemeinsamen Trauer über Rivalität hinaus und ein Zeichen was Fußball neben all seiner unschönen Seiten auch sein kann.

You'll Never Sing Alone: Wie Musik in den Fußball kam*"

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Thees Uhlmann, Die Toten Hosen und Fettes Brot

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