laut.de-Kritik

Stromlos in Seattle.

Review von

Acht Jahre ist es nun schon her, seit ich mit Kollege Mengele im Zürcher Hallenstadion stand und Eddie Vedder plötzlich von rechts auf einem Skateboard und einer Maske überm Gesicht auf die Bühne rollte. Ich glaube bis heute, dass ich nie mehr eine Menge aus dem Stand lauter und ekstatischer habe schreien hören (und ich war auch schon bei Bro'Sis!).

Doch die Liebe ist nicht erst seit Connie Francis ein seltsames Spiel, und so gewann auch zwischen mir und Pearl Jam mit der Zeit eine zumindest einseitig gefühlte Gleichgültigkeit die Oberhand, die ihren einmaligen Höhepunkt darin fand, dass ich das letzte Album "Riot Act" bis heute kein einziges Mal gehört habe. Nun also "Benaroya Hall October 22nd 2003", noch dazu ein Livekonzert von Pearl Jam, hach wie lustig. Sind die Hundertschaften an halboffiziellen Live-Bootlegs von zwei Welttourneen also noch nicht genug?

Jein. Vor zwölf Jahren spielten Pearl Jam für MTV ein Akustikset ein, das als Raubkopie in der Folge millionenfach unterm Ladentisch verkauft wurde. Vorliegendes Doppelalbum ist deshalb das erste offizielle "Unplugged"-Album, live und stromlos in Seattle vor 2500 Zuschauern mit 24 Songs und - natürlich - für einen guten Zweck. Auch vom Erlös des Tonträgers geht ein Großteil an die gemeinnützige Organisation Youthcare in Seattle, die sich um junge Obdachlose kümmert.

Zur Sache, Schätzchen: "Of The Girl" ist ein softer, aber auch heimeliger Einstieg, der die intime Atmosphäre der ganzen Veranstaltung vorwegnimmt. Schön klingt das, ein bisschen ungewohnt gar ob des bluesigen Einschlags der Lead-Gitarre. Mit dem Einsetzen von Eddie Vedders einmaligem Bariton werden dennoch schlagartig all die alten Erinnerungen wach: die Drecksau-Parties zu Zivi-Zeiten einerseits, aber auch der verzweifelte Versuch, "Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town" auf der Akustikgitarre nachzuspielen.

Dass ausgerechnet jener leise Höhepunkt der Pearl Jam-Karriere an dieser Stelle fehlt, ist so bedauerlich wie unverzeihlich. "Low Light" ist dann eine dieser typischen Balladen, die früher "Indifference" hießen und besser waren. "Thumbing My Way" entwickelt sich dafür zu einem Highlight ihrer Spätphase, während "Fatal" einen schier umbläst. Diese Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in der Stimme, wie konnte ich sie all die Jahre achtlos links liegen lassen?

"Nothing As It Seems" von "Binaural" kenne ich mal wieder, hier vertreten mit einer netten Mike McCready-Gniedel-Einlage. Unmerklich rauscht Song für Song an einem vorbei, alles zusammen gehalten von Vedders präsenter Performance. "Man Of The Hour" ist der Beitrag zu Tim Burtons "Big Fish"-Film, "Off He Goes" ohnehin Wahnsinn.

"Can't Keep" widmet Vedder dem verstorbenen Songwriter Elliott Smith, hält aber noch drei deftige Cover-Überraschungen bereit. "I Believe In Miracles" von den Ramones klingt zunächst lustig, wächst aber mit der Zeit. Was man von Johnny Cashs "25 Minutes To Go" leider nicht behaupten kann. Zu volkstümlich klingen die Rocker bei dem Versuch, die beschwingte Kittchen-Ode in ein neues Licht zu tauchen. Dafür gelingt ihnen wiederum Dylans Anti-Kriegssong "Masters Of War" meisterlich.

Dass beim Gänsehautfeger "Black" jede Refrain-Zeile vom Publikum mitgesungen wird, nun, das war auch schon auf "Live On Two Legs" von 1998 der Fall. In "Daughter" droppt Eddie mehrfach Beatles-Lyrics, womit er endgültig wieder auf der sicheren Seite gelandet ist. Ob ich mir jetzt die im letzten Herbst erschienene und weitgehend unbeachtete Raritätensammlung "Lost Dogs" etwa auch noch zulegen muss? Ich überlege ernsthaft.

Trackliste

  1. 1. Of The Girl
  2. 2. Low Light
  3. 3. Thumbing My Way
  4. 4. Thin Air
  5. 5. Fatal
  6. 6. Nothing As It Seems
  7. 7. Man Of The Hour
  8. 8. Immortality
  9. 9. Off He Goes
  10. 10. Around The Bend
  11. 11. I Believe In Miracles
  12. 12. Sleight Of Hand
  13. 13. All Or None
  14. 14. Lukin
  1. 1. Parting Ways
  2. 2. Down
  3. 3. Encore Break
  4. 4. Can't Keep
  5. 5. Dead Man
  6. 6. Masters Of War
  7. 7. Black
  8. 8. Crazy Mary
  9. 9. 25 Minutes To Go
  10. 10. Daughter
  11. 11. Encore Break
  12. 12. Yellow Ledbetter

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Pearl Jam

Am Anfang steht ein tragischer Todesfall: Andrew Wood, Sänger der Band Mother Love Bone, der auch Stone Gossard (geboren am 20. Juli 1966) und Jeff Ament …

Noch keine Kommentare