laut.de-Kritik

Rock meets Reggae in Aachen.

Review von

"Ich zweifle daran, dass Weiße nicht den Reggae der Siebzigerjahre spielen können." Dieses Statement gab der damalige Newcomer Sebastian Sturm vor über vier Jahren ab, als ihm sowohl live als auch im Studio noch die über Jahrzehnte eingespielte Jin Jin Band den Rücken stärkte. Vor seinem Drittling wagte der Aachener einen Neuanfang und formierte mit Exile Airline eine völlig neue Backup-Konstellation.

Doch auch anno 2011 stellt der sympathische Rastafari eines klar: Er hat sich mit seiner These keinesfalls zu weit aus dem Fenster gelehnt. "Get Up & Get Gong" begeistert nicht nur mit ergreifendem Songwriting, sondern auch mit astrein eingespielten, kraftvollen Riddims.

Besonders die Vielfalt des Repertoires dürfte den Reggae-Liebhaber entzücken und wirkt der Eintönigkeit entgegen, mit der viele gleichgesinnte Acts zu kämpfen haben. Mal rockig ("Responsibility"), mal trist ("Moving Away"), meist rootslastig und stellenweise handgemacht akustisch ("Faith") begleiten die fünf Musiker ihren Frontmann.

Exile Airline haben sowohl der Jin Jin Band als auch diversen anderen Backupformationen etwas ganz bestimmtes voraus. Immer wieder bescheren sie dem Hörer staunenswerte Überraschungsmomente, die man gerade im Roots-Reggae deutschen Ursprungs eher selten erlebt. Das untypisch virtuose Gitarrensolo bei "Don't Look Back" zum Beispiel lässt aufhorchen und fügt sich dennoch nahtlos ins Gesamtbild ein.

"Dadurch, dass ich eben nicht in Jamaika im Ghetto war oder Dritte-Welt-Länder bereist habe, kann ich irgendwie nur von mir und meinem Umfeld singen", erklärte Sebastian Sturm 2007 in einem Interview mit beinahe bedauerndem Unterton. Eigentlich muss man ihm jedoch dankbar sein, dass er auf die typischen Conscious-Inhalte verzichtet, die bei deutschen Künstlern oftmals vollkommen unglaubwürdig klingen. Natürlich sieht sich der Sänger trotzdem nicht davon abgehalten, von Reggae-typischen Themen wie Gesellschaftspolitik oder persönlichen Stimmungslagen zu erzählen.

Mit "Get Going" steht am Anfang des Albums ein sonniger Akustiksong mit großem Hitpotenzial. In bester Marley-Manier philosophiert Sturm über "something they call happiness", ohne dabei seinen kritischen Unterton abzulegen. "It's not enough to sit and pray for salvation / Good hopes will never cause a revolution", befindet er. Im wunderbar eingängigen Refrain scheinen seine Sorgen dagegen wie weggeblasen.

Auf den akustischen Auftakt folgt mit "Responsibility" der druckvollste Moment des Albums. Passend zu den sozialkritischen Lyrics geht es auch musikalisch eher ernst und entschlossen als beschwingt zu. Der Chorus entfacht eine Dramatik, die man dem sonst so netten und friedlichen Aachener bislang kaum zugetraut hätte. Verzerrte Gitarren bestimmen das kräftige Klangbild und treiben den Song trotz seines an sich langsamen Tempos nach vorne. Überhaupt scheint das Prinzip "Rock meets Reggae" derzeit in Mode zu sein. So lange derartiges dabei rauskommt, darf das gerne so bleiben.

Seine melancholische Seite zeigt der Sänger dagegen in "Never Been As Sad", bei dem sich alles um den gefühlsmäßigen Blues dreht. Dementsprechend schwermütig klingt auch die bedächtige Begleitung von Exile Airline, die der zerbrechlich wirkenden Stimme des Frontmanns genug Raum für seinen bekümmerten Seelenstriptease lässt.

Es ist erfreulich, dass die tolle Gesangsleistung an keiner Stelle untergeht oder übertönt wird. Mit dem kratzigen Einschlag eines Martin Jondo, dem rauchigen Charakter eines Damian Marley sowie einer dicken Portion Leidenschaft hat sich Sebastian Sturm seinen ganz eigenen Stil entwickelt, dem man mit Vergnügen zuhört. Kiddus I, einziger Featuregast und nach eigenen Angabe ein persönlicher Held des Sängers, liefert bei "Tear Down The Walls" zwar eine schöne Strophe, bleibt neben seinem deutschen Mitstreiter eher blass.

Im Fahrwasser von Gentleman und Seeed brachte die deutsche Reggae-Szene in den letzten zehn Jahren zahlreiche Künstler mit einigen spannenden und etlichen belanglosen Releases zum Vorschein. Nach zwei eher harmlosen Platten beweist Sebastian Sturm mit "Get Up & Get Going" definitiv genug Ecken und Kanten, um sich langfristig in der Szene zu etablieren.

Trackliste

  1. 1. Get Going
  2. 2. Responsibility
  3. 3. Don't Look Back
  4. 4. Children, Don't Go Blind
  5. 5. Never Been As Sad
  6. 6. Burn The Money
  7. 7. It's Not Just
  8. 8. Movin' Away
  9. 9. Faith
  10. 10. Life Was A Bubble
  11. 11. Upside Down
  12. 12. Tear Down The Walls

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