laut.de-Kritik

Diese Platte verfügt über eine eigene Persönlichkeit.

Review von

Der Rabe ist ausgeflogen. Bewusst entzieht sich Steven Wilson, nach dem großen Erfolg des Vorgängers, mit "Hand. Cannot. Erase" den an ihn gestellten Erwartungen.

Die Querverweise durch die Musikgeschichte sind mannigfaltig. Würde man auf jeden einzelnen eingehen, würde einem schlichtweg das Gehirn zerbersten. Dabei klingt Platte Nummer vier mit ihrem kristallklaren und grazilen Sound seltsamer Weise mehr nach The Alan Parsons Project als das von eben diesem Briten mitproduzierte "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)".

Obwohl Wilson seine Inspiration aus jeder noch so entlegenen Ecke zieht, schafft er es, diese Mixtur aus diversen Stilen und widersprüchlichen Quellen, die so eigentlich niemals zusammen passen dürfte, wie aus einem Guss klingen zu lassen. Als aschfahler Riese auf den Schultern von Giganten entwickelt der Musik-Nerd bereits vorhandene Ideen weiter, sucht nach ungewöhnlichen Auswegen und verbindet diese mit eigener Handschrift.

War "Raven" in sich geschlossen, fasert "Hand. Cannot. Erase.", trotz einer ähnlichen Dynamik, in jede erdenkliche Richtung aus und lässt so mehr Einflüsse zu. Anstatt den Weg ins gelobte Land weiter zu beschreiten, stellt Wilson den Jazz mitsamt Flöte und Saxophon bis auf wenige Ausreißer weitestgehend zurück in die staubige Ecke, aus der er ihn geholt hatte.

Stattdessen treten AOR, Ambient, Elektronik, Metal und der pöse Pop ins Rampenlicht. Während sich "Raven" glückselig in die Vergangenheit der Siebziger schmiegt, bedient sich Album Nummer Vier deutlich in den keyboardlastigen und von überschwenglichen Melodien erfüllten Achtzigern, verbindet diesen Ansatz mit elektronischen Einflüssen à la Boards Of Canada und bringt auf diesem Weg die Thematik ins Hier und Jetzt.

Mit "Hand. Cannot. Erase" möchte Wilson seiner femininen Seite mehr Raum geben. Er versucht aus einer weiblichen Perspektive zu schreiben, nennt Kate Bushs "The Dreaming" als Inspirationsquelle. Mit der israelischen Sängerin Ninet Tayeb findet sich zum ersten Mal auch eine Frau am Mikro wieder, und erstmals steht mit Pink eine Signalfarbe im Mittelpunkt des von Lasse Hoile entworfenen Artworks.

Das Konzeptalbum findet seine Inspiration im Leben und im Tod von Joyce Carol Vincent und der von ihr handelnden Dokumentation "Dreams Of A Life", von der sich Wilson zeitgleich fasziniert und geschockt zeigte. 2003 verschwand die junge Frau unbemerkt von Familie und Freunden aus dem Leben, bis ihre verweste Leiche nach zwei Jahren in ihrer Londoner Wohnung gefunden wurde. Doch "Hand. Cannot. Erase." findet eine eigene Protagonistin und erzählt seine eigene Geschichte. Am Ende steht nicht etwa der Tod. Vielmehr geht die Hauptfigur im hektischen Treiben unserer Tage verloren. Sie verschwindet und erlischt.

Wilson driftet dabei nicht etwa in eine einfache, tiefdunkle Erzählung über den Tod ab. Vielmehr steht das Leben mit all seinen nostalgisch verklärten Erinnerungen, der Liebe, der Hoffnung, den aufgebauten Fassaden, der Trauer, der Wut und dem Verlust im Mittelpunkt. All diese verschiedenen Emotionen, die am Ende unser Dasein ausmachen. Auf diese Weise haucht er der Platte, die allein durch ihre Thematik bereits über mehr Gesangsanteile als die Vorgänger verfügt, eine Seele ein.

Er vertieft die Beziehung zu der eigentlich fiktiven Figur, bevor sich diese wie selbstverständlich mit den finalen Worten von "Happy Returns" verabschiedet. "But I'm feeling kind of drowsy now / So I'll finish this tomorrow." Ein abruptes Ende, denn das Morgen und die nächste Seite in ihrem Leben, ihrem Tagebuch, ihrem Blog, bleiben leer. Aber "how do you erase what was never there in the first place?"

Der Einstieg in "Hand. Cannot. Erase" erfolgt über das stimmungsvolle, von einem einlullenden Pianomotiv, reichlich verträumten Geklimper und einer pumpernden Bassdrum getragene "First Regret", das nahtlos in "3 Years Older" übergeht. Eine abwechslungsreiche und erhabene Ouvertüre voll Tücke und Hinterlist, die sich melodieselig an Rush und The Who anlehnt. Mit Keyboarder Adam Holzman, Gitarrist Guthrie Govan, Basisst Nick Beggs und Schlagzeuger Marco Minnemann steht unserem Tausendsassa Wilson eine begnadete Gruppe zur Seite, die jede Sekunde des Albums veredelt.

Viel mehr als mit dem Titelsong "Hand Cannot Erase" kann sich Wilson wohl kaum dem Formatradio nähern. Trotzdem verfügt der ebenso eingängige wie clevere Track, der deutlich an die Manic Street Preachers erinnert, über jede Menge verspielter Details und ausschmückende Feinheiten. Unter seinem fast übersprudelnd jugendlichen Elan versteckt sich nackte Melancholie. Bereits jetzt beginnt der langsame Rückzug. "It's not you, forgive me if i find i need more space / Cause trust means we don't have to be together everyday."

Der elektronische Soundtrack zum "Perfect Life" wirkt in seinem tosendem Umfeld wie eine einsame Insel der Unschuld. Erst im Kontext mit dem restlichen Album offenbart der simple und magische Track seine vollkommene Schönheit. Von Katherine Jenkins vorgetragen, driftet er langsam in Richtung Nostalgie. "We'd listen to her mix tapes; Dead Can Dance, Felt, This Mortal Coil. She introduced me to her favourite books, gave me clothes, and my first cigarette“, schildert sie die intensive Beziehung zweier Schwestern, bevor diese abrupt auseinander bricht. "But gradually, she passed into another distant part of my memory, until I could no longer remember her face, her voice, even her name." Wilson setzt ein, das Herz zerbricht. "We have got the perfect life."

Das verschachtelte "Routine", dem Tayeb zweitweise ihre Stimme leiht, gerät schwelgerisch und barock. In Melodie und Text geschickt erzählter Progrock zum Zunge schnalzen. Gegen Ende mimt sie kurzzeitig gar Clare Torry, die große Dame aus "The Great Gig In The Sky", und Govan knödelt den Gilmour.

Die Kombination aus "Home Invasion" und "Regret #9" bietet den Höhepunkt auf "Hand. Cannot. Erase". Zickig aggressive Metalriffs wechseln sich mal mit verstohlen groovenden Keyboardparts, mal elysischen Folksequenzen ab. Als gäbe es keine Platte nach dieser wirft Wilson verschwenderisch mit Ideen um sich und kreiert einen verrissenen und dunklen Giganten, gespickt mit virtuosen Soloausbrüchen. Adam Holzman legt ein monumentales Moogsolo vor, nur um danach von Govans beeindruckensten Beitrag getoppt zu werden. Ein Track, der schlichtweg nicht von dieser Welt stammt.

Mit der Ballade "Happy Returns" schließt Wilson nach dem ausuferndem "Ancestral" die Klammer um sein viertes Solo-Album perfekt. Über das wiederkehrende Pianointro aus "First Regret" geht ein Gewitter nieder, das wie einer Geräuschplatte für den Hörspielfreund entnommen klingt. Ebenso versöhnlich wie elegisch bietet er seiner Hauptfigur ein feinfühliges Finale, bevor diese auf ewig dahinschwindet.

"Hand. Cannot. Erase" zieht vom ersten Moment an in seinen Bann. Zusammen mit "Raven" scheint der Prog-Messias Wilson nun am Höhepunkt seines Schaffens angelangt zu sein. Wie ein Mensch verfügt "Hand. Cannot. Erase." über eine eigene Identität. Zwar verkopft, aber ebenso herzzerreißend emotional erhält der Longplayer auf Grund der engen Wechselwirkung von Musik und Lyrics eine eigene Persönlichkeit.

Trackliste

  1. 1. First Regret
  2. 2. 3 Years Older
  3. 3. Hand Cannot Erase
  4. 4. Perfect Life
  5. 5. Routine
  6. 6. Home Invasion
  7. 7. Regret #9
  8. 8. Transience
  9. 9. Ancestral
  10. 10. Happy Returns
  11. 11. Ascendant Here On…

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25 Kommentare mit 129 Antworten

  • Vor 9 Jahren

    Tolle Rezension zu einem Album, auf das ich mich jetzt noch mehr freue als zuvor. Nur eine kleine Korrektur: Im letzten Absatz steht "angeklangt" statt "angelangt" - wobei das ein ziemlich genialer Fehler ist!

    • Vor 9 Jahren

      Stimme zu, tolle Rezi. Der Vollständigkeit halber, folgender Fehler steht noch zu Buche: "die sich melodieselig an Rush und The Who angelehnt", es müsste "anlehnt" ohne das "ge" heißen.

  • Vor 9 Jahren

    Sehr schön zusammengefasst. "Regret #9" ist echt ein Wahnsinns-Ding. Wenn man meint, Holzman habe auf dem Moog schon alles gesagt, stellt Govan den Fuß in die Tür: "Halt, moment, ich wollt auch nochmal". Einfach umwerfend. Die dürften meinetwegen auch 20 Minuten so spielen.

  • Vor 9 Jahren

    Mensch SK hätte ich dir garnicht zugetraut ;) In der Tat ein großartiges Album und vorallem so anders als The Raven! Ich bin sehr auf die Livedarbietung gespannt. Mein Favorit ist Routine und der Titeltrack...