laut.de-Kritik

Die satte, warme Finsternis.

Review von

Als ich einmal auf den Grand Canyon heruntergeschaut habe, war das seltsam beruhigend. Ich fühlte mich sehr klein und merkte dabei, dass diese Schluchten schon vor einer Million Jahren hier waren und sich daran in den nächsten Millionen Jahren auch nichts ändern wird.

Manchmal, wenn ich an Tom Waits denke, dessen Gesicht es mit diesen Schluchten langsam aber sicher aufnehmen kann, ziehen mich die Dankbarkeit und Traurigkeit und Liebe in alle Richtungen gleichzeitig. Eine Zeit lang kam ich gar nicht gut mit dem Gedanken klar, dass er früher oder später sterben wird. Zum Glück gibt er kaum Interviews. Wenn er nicht mehr hier ist, wird er weiter da sein. "Bone Machine" wird weiter existieren.

Es ist ein gut punch, ist ein Abgesang, Boogie, Blues, Blut, Knochen, fear and loathing, ein Tanz unterm bleichen Mond, ein Tritt in Arsch und Herz. Es ist außerdem mitunter sehr gruselig. Man sollte es bei Nacht hören.

Es fühlt sich merkwürdig an, mir Tom Waits als etwas anderes als einen alten Mann vorzustellen, vor allem, wenn man dieses Album hört. 1992, als er es aufnimmt, ist er aber erst 43 und seine Stimme klingt schon wie hundertjähriger Straßenbelag vorm Bühneneingang. Er ist in den letzten Jahren ziemlich weit herumgekommen, hat mit diversen Legenden kollaboriert (siehe zum Beispiel das Musiktheaterstück "The Black Rider" in der Inszenierung von Robert Wilson und mit Texten von William S. Burroughs oder seine Rolle in der fiebrig hirnverbrannten Dracula-Verfilmung von Francis Ford Coppola als Renfield, Draculas wahnsinniger Knecht), und zusammen mit Kathleen Brennan einen Rechtsstreit gegen Doritos gewonnen. Das Gericht verbietet der Firma die Verwendung der gemeinsam geschriebenen Musik in einer Chipswerbung und spricht beiden 2,6 Millionen Dollar Entschädigung zu. Anfang '92 hört er auf zu saufen, geht zu den Anonymen Alkoholikern und mit Brennan und den gemeinsamen Kindern aufs Land. In einem Studio im ländlichen Kalifornien bezieht er ein Loch im Boden (Waits: "I found a great room to work in, it's just a cement floor and a hot water heater. Okay, we'll do it here. It's got some good echo.") und krächzt, keucht, seufzt und brüllt einen ganzen Haufen Krachkunstlautmalereien auf Band, die er und Brennan zu den 16 Songs auf "Bone Machine" verfeinern.

In den zehn Jahren davor sind seine Songs immer verschrobener geworden. Neben Brennans Einfluss aufs Songwriting hat vor allem die Beschäftigung mit Kurt Weill ("Dreigroschenoper" etc.) und die Idee, dass Songs kurze Theaterstücke sein können, auf den letzten Studioalben ("Swordfishtrombones", "Rain Dogs", "Frank's Wild Years") hörbar heftig in die Musik hineingewirkt. Aber wo diese noch dieses liebenswert Kauzige hatten wie ein versoffener Onkel mit falschem Bart, der für die Kinder Zaubertricks macht, fühlt sich "Bone Machine" anders intensiv an. Nach der Varietémusik der Vergangenheit ist dieses Album wie der nüchterne, trockene Schock einer rostigen Schippe auf den Hinterkopf.

Tom Waits findet zu einem äußerst rohen, trockenen Sound aus Folk, Blues, Country, der Ästhetik von Industrial, biblischer Motivik und lyrischen Bildern, die vom Ende der Welt, Mord und Sehnsucht handeln. Der Ort der Geschichten auf "Bone Machine" ist das Land in den Augen eines Menschen aus der Stadt, ein Ort, an dem das niemand mitbekommt, wenn sich nachts zwei Menschen über den Weg laufen und irgendwas schiefgeht. Wo man nachts die Tür von innen abschließt, weil der Straßenlärm fehlt und die Stille ohrenbetäubend ist.

Das Album bleibt klanglich konsequent in seiner scheppernden Proberaumästhetik und variiert diese musikalisch extrem cool und geschickt. Immer wieder hört man Genreelemente heraus, die aber dabei aber immer zuerst nach "Bone Machine" klingen und nicht nach einem Versatzstück, wie durch einen Filter, der sie körniger und zugleich klarer macht. Räudiger als auf "Jesus Gonna Be Here" kann Blues nicht klingen, trauriger als auf "Dirt In The Ground" können Jazzakkorde nicht sein. Nach dem Anfangsdoppel aus dem apokalyptisch rumpelnden "Earth Died Screaming" und "Dirt In The Ground", zu denen Waits' zerkratzte Kopfstimme sich in ein verwundetes Wehklagen hineinschmirgelt, fühlt sich das schon ziemlich schwer nach Vorhang zu an, nach Kerzen in schmutzigen Weinflaschen und Kopf auf dem Tresen. Aus dieser Stimmung findet Waits wieder heraus, indem er mit "Such A Scream" und "All Stripped Down" zu Angriff, Ekstase, Funk und Krach übergeht.

"Goin' Out West", die Geschichte eines Typen auf der Durchreise ("drive all night / take some speed"), ist ein dumpfer, fieser Rocksong mit Kontrabass, zu dem man so tun könnte, als wäre nichts, während neben einem am Tresen einer aufs Maul bekommt. Auf "I Don't Wanna Grow Up" klingt Waits mehr nach den Ramones als die Ramones (die den Song folgerichtig gecovert haben): "Well when I see my parents fight I don't wanna grow up / they all go out and drinking all night and I don't wanna grow up." Und manchmal ist die Musik so karg und metallisch, wie auf "Murder In The Red Barn" ("'cause there's nothing strange about an axe with bloodstains in the barn / there's always some killing you got to do around the farm") oder "In The Colosseum", dass sie mehr an einen Maschinenraum als an die Prärie erinnert. Würde es noch abstrakter klappern und qietschen, wäre es Aphex Twin.

Dazwischen verteilt treffen einen wie aus den Nichts die Tom Waits-Balladen, die immer klingen wie nach Hause kommen und zugleich von zu Hause fortgehen und nicht zurückschauen ("She climbed into a van with a vagabond / and the last thing she said was 'I love you, Mom'"). Sie bilden den sanften, verletzlichen Kontrast zur klanglichen und thematischen Härte. Schließlich endet "Bone Machine" mit einem Duett zwischen Waits und seinem Kumpel Keith Richards, einer schunkelnden Ode zweier alter Knaben an Leben, Liebe, Lust, das Zusammensein und die Kunst ("But there's one thing you can't lose / is that feel").

Seitdem hat Tom Waits stur weiter brillante Musik produziert und in abenteuerlichen Filmen mitgespielt, aber müsste ich persönlich das Beste aussuchen, das er gemacht hat, wäre das "Bone Machine". In seiner radikalen Reduziertheit klingt das Album archaisch und mystisch und gleichzeitig zeitlos. Man kann dazu in die Nacht schauen und trinken, tanzen und weinen gleichermaßen. Es führt einen in die finsteren Winkel der Seele und an die warmen Lagerfeuer.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Earth Died Screaming
  2. 2. Dirt In The Ground
  3. 3. Such A Scream
  4. 4. All Stripped Down
  5. 5. Who Are You
  6. 6. The Ocean Doesn't Want Me
  7. 7. Jesus Gonna Be Here
  8. 8. A Little Rain
  9. 9. In The Colosseum
  10. 10. Goin' Out West
  11. 11. Murder In The Red Barn
  12. 12. Black Wings
  13. 13. Whistle Down The Wind
  14. 14. I Don't Wanna Grow Up
  15. 15. Let Me Get Up On It
  16. 16. That Feel

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2 Kommentare

  • Vor einem Tag

    Yeah! Berechtigter Meilenstein, obwohl die Entscheidung zwischen "Swordfishtrombones" und dem Album recht schwer fällt. Mag einfach diesen rohen, knochentrockenen Sound.

  • Vor 23 Stunden

    Mit dem Wechsel zu Island Records und der Veröffentlichung von Swordfishtrombones haben, für meinen Geschmack, fast alle Tom Waits Alben Meilensteincharakter. Bone Machine gehört zu den am schwersten zugänglichen, ist aber eine Offenbarung, wenn man durchhält... Müsste ich einen waitschen Meilenstein vorschlagen, ich könnte mich nicht entscheiden. Am häufigsten kehre ich zu The Black Rider zurück oder doch zu.......oder!? Der Tag an dem ich von Tom's tot erfahren werde, wird einer von diesen sein, von denen man den Rest seines Lebens nicht vergessen kann, wo man war und was man getan hat.