laut.de-Kritik
Markant, leicht hysterisch, herzerreißend, wunderschön.
Review von Benjamin FuchsDas nächste große Ding kommt aus Kanada, genauer aus Montreal und heißt Arcade Fire. Ihre Vorbilder reichen von den Talking Heads über David Bowie bis zu The Cure. Heutzutage scheint ein Bezug auf die achtziger Jahre bereits Grund genug zu sein, damit die Hypemaschine zunächst gut geölt und anschließend unter großem Trara angeworfen wird. Im Falle von Arcade Fire lassen sich auch gleich prominente Fans wie Eric "Slowhand" Clapton und David "Volvic" Bowie ins Feld führen. Da kann kaum noch etwas schief gehen. Doch den eigentlichen Grund für die Begeisterung um jene unscheinbaren Indie-Rocker aus Montreal stellt das fantastische Debut "Funeral". Zehn große Songs ohne jeden Ausfall: Konfettikanonen laden und ab dafür!
Mit "Funeral" verabschieden die medienscheuen Musiker aus Montreal auch einige Verwandte, die kurz nach den Aufnahmen starben. Vermutlich würden diese sich über einen derart mitreißenden und aufbauenden Soundtrack für ihre Beerdigung wundern. Auf "Funeral" drängen sich wunderschöne Melodien und mitreißende Rockriffs dicht an dicht. Bei anderen Bands hätte ein solcher Fundus für ganze Karrieren ausgereicht.
Schon der beschwingte Opener "Neighborhood 1 (Tunnels)" fängt den Hörer mit dem markanten, leicht hysterischen und herzerreißenden Gesang Win Butlers ein. Was dann folgt, ist ein Wechselbad der Gefühle. "Neighborhood 2 (Laika)" wird in der Strophe geshoutet, unter dem Gesang liegt als Kontrast ein entspanntes Akkordeon. Im Refrain löst sich der Gegensatz straight rockend auf.
Unglaublich schön ist der zweistimmige Gesang von Butler und der feenhaft klingenden Régine Chassagne in "Une Année Sans Lumiere" - ein Song, in dem man sich verlieren möchte. Etwas ungewöhnlich erscheint die Praktik, Balladen in ein rockendes Outro übergehen zu lassen. Außer "Une Année..." lassen Arcade Fire auch "Crown Of Love" rockig ausklingen. Wo man der Band auf den ersten Hördurchgang geraten hätte, einen zweiten Song aus den Outros zu schneidern, erscheinen sie bei näherer Beschäftigung einfach nur noch folgerichtig. Andererseits haben kräftiger beginnende Songs wie "Wake Up" auch immer wieder ruhige und melodiöse Phasen. Auf die richtige Mischung kommt es an.
Die US-Kanadier versuchen mit ihrem Album nicht die Welt zu erklären. Vielmehr beschäftigen sie sich mit den kleinen Dingen, vornehmlich zwischenmenschlichen Beziehungen, mit der Liebe und ganz einfachen Themen wie Nachbarschaft. Ein starker Song folgt auf den anderen, wobei sich nicht alle auf Anhieb erschließen. Hier gilt es am Ball zu bleiben. Als Belohnung winken fast 50 Minuten der Versenkung in einer besonderen, verschrobenen und schlicht schönen Atmosphäre.
8 Kommentare mit 6 Antworten
Bin seit 2 Wochen mal wieder verliebt in dieses Album. Besonders der Refrain von In The Backseat laesst mich nicht mehr schlafen. Solche einzigartigen Melodien hat es vorher nicht gegeben. Einfach nicht in Worte zu fassen was die Damen/Herren da vom Stapel gelassen haben. Mein Album der 00er Jahre. Viele 50er/60er Jahrgaenge wollen es ja nie wahr haben...aber Arcade Fire sind besser als die Beatles und die Stones. Gerade ersteres waren auch nur so extrem praesent weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Richtige Konzerte,Merc. und Co haben sie halt in die Wege geleitet.
Besser als die Beatles... Träum weiter!
In der Liga, in der diese ganzen Bands spielen, halte ich Abstufungen von "besser" / "schlechter" allgemein für daneben.
Was ein Zufall, da wollte ich auch gerade etwas zu dem Album schreiben nachdem ich gestern Walter Mitty -natürlich alleine- geschaut habe. ALs "wake up" kam musste ich pausieren und mir erst einmal wieder das album anhören. Schon ganz grosses Kino.. also die Musik
Ein klassischer Mr X. Das Album, das Revolver und The Dark Side of the Moon abgelöst hat.
Du vergisst aber auch nichts
Solides Album aber mehr ist es für mich nicht. Scheinbar verstehe ich da irgendwas nicht, da gefühlte 90 Prozent dieses Album für den Zenith der 00er Jahre halten.
“Zenit“ wird natürlich ohne h geschrieben
Stimme zu. Wenn ich mein Producer-Ohr benutze, kann ich das hier ja anhören, denn es ist schön und verschroben produziert. Aber die Songs waren damals schon genauso zum Einschlafen wie heute. Als wären sie aus dem Handbuch übernommen "Wie schreibe ich Indiesongs fürs Feuilleton?".
"Aber die Songs waren damals schon genauso zum Einschlafen wie heute."
Imho alles andere als zum Einschlafen:
https://www.youtube.com/watch?v=siFsdInZqC0
So unterschiedlich kann mans hören! Für mich klingt das wie eine nicht verwendete Demo irgendeiner flaumbärtigen High-School-Band. Wie gesagt, nicht produktionstechnisch, sondern in Sachen Songwriting.