laut.de-Kritik
Berührendes Spätwerk eines gereiften Künstlers.
Review von Artur SchulzEs sind diese besonderen Stimmen, die Jahre, Jahrzehnte oder ein ganzes Leben im Gedächtnis bleiben. Wohlige Gefühle und Erinnerungen machen sich breit, wenn aus dem Meer des ganzen austauschbaren Dutzend-Singsangs etwas wirklich Prägnantes ans Ohr gelangt - in diesem Fall handelt es sich um Neil Diamonds warmen, unverwechselbaren Bariton.
Oft genug erstickte sein Gesang in der Vergangenheit unter überladenen Orchestern, auch wenn die die Klasse des Songwriters und Sängers Neil Diamond nie völlig überdecken konnten. Doch nun entschied Star-Produzent Rick Rubin, sich seiner anzunehmen – und gibt nach Johnny Cash einem weiteren Vertreter der Old-School amerikanischer Musik seine Wahrhaftigkeit zurück.
Das Resultat ist schlicht mit "12 Songs" betitelt. Und so hat man Neil Diamond noch nie gehört: Durch Rubins Arrangements von allem überflüssigen Zierrat entledigt, kommen der Aufbau und die Harmonien von Diamonds Liedern wie selten zuvor zur Geltung. In einer Weise, die ahnen lässt, welche Klasse in so vielen Songs seiner Vergangenheit stecken mag, würde man sie von all ihrem oft schwülstigen Bombast befreien.
Es sind zunächst minimalistisch erscheinende, filigrane Songarbeiten, die der neue Neil Diamond unter der Federführung seines Produzenten bereithält. Eingebettet in schlichte Akustik-Arrangements, nur selten einmal von dezenten Streichern oder Hammondorgel untermalt, skizziert der Künstler kleine und große Momente des alltäglichen Lebens. Zurückgenommen und litaneihaft startet das Album mit "Oh Mary". Eine eindringliche Rückschau auf sein persönliches Leben intoniert Diamond in "Hell Yeah". Anrührend gibt er den "Captain Of A Shipwreck". "Save Me A Saturday Night", bittet Neil Diamond eine ungenannte Schöne. Einer der gelungensten Songs ist "I'm On You", mit eindringlicher Performance und Shuffle-Beats, eingetaucht in suggestive Percussion und veredelt mit dezenter Jazz-Trompete. "We" sorgt mit seiner leichthändigen Beschwingtheit für einen heiteren Gegenpol zu der meist melancholisch geführten Hauptlinie von "12 Songs".
Der Sänger erschafft mit kleinsten Nuancen in Sachen Intonierung und Harmonieführung berührende Stimmungen. Seine ureigenste Kompositions-Hand in Sachen Liedaufbau wirkt vertraut, aber nie angestaubt. Der Verzicht auf jeglichen unnötigen Bombast schält stets den Kern der Songs heraus, die so keine aufgesetzte Über-Orchestrierung benötigen. Das besondere Schmankerl beim Kauf des Albums: Im Vergleich zur originalen US-Ausgabe befinden sich auf der europäischen CD-Fassung zwei Bonustracks. Der Aufsehen erregendere ist sicher die Zweitversion von "Delirious Love": Denn Beach Boys-Mastermind Brian Wilson zaubert mit seinen Vocals einen gelungenen Surf-Sound-Appeal in den Titel.
Über allem liegt die noch immer faszinierende Stimme Neil Diamonds: Gerade die altersbedingte Patina mit ihren Sprüngen und Rissen macht sie zu einem besonderen Erlebnis. Es ist vielleicht ein Geschenk der Natur, manch Männerstimme in ihren späten Jahren mit einzigartigen Besonderheiten auszustatten, auch wenn sie nicht mehr über das Volumen eines Zwanzigjährigen verfügt. Frank Sinatra, Johnny Cash oder Albert Hammond sind dafür eindringliche Beispiele.
Neil Diamond 2006: Rehabilitiert, bewegend, in einer fast nicht mehr für möglich gehaltenen, wunderbaren Verfassung, was Kompositionen, Stimme und Charisma angeht. "12 Songs" ist das berührende Spätwerk eines gereiften Künstlers und beweist nachhaltig, dass Neil Diamond dank seiner einzigartigen Intonationsfähigkeit und kompositorischen Klasse noch immer ganz oben und ganz vorne in der Singer/Songwriter-Liga mitspielt.
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