laut.de-Kritik
Offensives Veto gegen wertkonservative Anwandlungen.
Review von Matthias MantheWie der Mensch den Selbstverwirklichungswettbewerb des Neoliberalismus vermeiden könne, lautete jüngst eine Frage im laut.de-Gespräch. Eigene Strukturen aufbauen, empfahl daraufhin Ted Gaier: "Ich glaube eigentlich nach wie vor an diese 70er-Jahre-Idee. Sich weitgehend raushalten aus den etablierten Strukturen und vor allem gucken, dass man sein Ding in Kollektiven macht, wo man ein gutes Gefühl hat."
Diese Kollektividee imprägniert die Goldenen Zitronen gegen jede Übernahme von außen - seien es Vertreter überholter "Scheiß Bullen"-Parolen, sei es die schleichende soziokulturelle Inkorporation der Band über die Teilnahme am Kunstbetrieb, wie er auf "Lenin" mehrfach thematisiert worden ist. "Die Entstehung Der Nacht" manifestiert sich erneut als Multitude, als Resultat eines offenen, anti-hierarchischen Beziehungsgeflechts.
Im Sinne von "Empire – die neue Weltordnung", dem "kommunistischen Manifest des 21. Jahrhunderts", agieren die Zitronen mehr denn je als "Singularitäten, die gemeinsam handeln". Was faktisch bedeutet, dass vorliegendes Werk jegliche Konfrontationslinien von Sprache und Sound durch Pluralität umschifft.
Doris Achelwilm von der Linksfraktion Bremen formuliert es im Pressetext so: "Was dem einen sein unaufgestauter Affekt, soll dem anderen ruhig seine Versenkung in perkussive Muster sein." Auf dem Fundament einer außerordentlichen Beobachtungsgabe rückt man stiltechnisch noch mehr als auf "Lenin" vom Wesen einer Gitarrenband ab. Der Punkgedanke Widerspruch manifestiert sich akustisch in einer überraschend technoiden Produktionsweise, die Klavier und Flöten viel Raum spendiert.
Analoge Klangmaschinen emulieren einen digitalen und kalten Minimal-Sound. Für die repetitiven Muster des Krautrock bietet die Hamburger Multitude innerhalb ihres Proto-Technos genauso Platz wie für beinahe esoterisch anmutende Instrumentaltracks ("Der Flötist An Den Toren Der Dämmerung"). Inhaltlich betreten die Goldies in "Zeitschleifen" neuen Boden, indem sie den Kommunikations-Breakdown am Ende einer Partnerschaft beleuchten - derart hautnah ging es bislang nicht zu.
"Positionen" bringt anschließend das identitäre Scheinpotenzial von sozialen Netzwerken wie MySpace auf den Punkt: "Jeder kann ein kleiner König sein im Sinne des Erfinders / Doch bei der Masse an Juwelen bleibt keine Zeit mehr für die Krönung". Konkretem Sezieren gesellschaftlicher Zustände ("Börsen Crashen") stellt das hauptverantwortliche Gespann Ted Gaier/Schorsch Kamerun erneut das Individuum entgegen: "Bloß Weil Ich Friere" entstammt Kameruns bepreistem Hörspiel "Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt" und bildet die logische Fortsetzung des drei Jahre alten "Mila". Ebendies beschrieb gleichfalls in Egoperspektive die Entfremdung des Subjekts angesichts unzählbarer sozio-technischer Möglichkeiten.
Das "Lied Der Medienpartner" wiederum setzt den Vorgänger an anderer Stelle fort. Es bringt ein pointiertes Gleichheitszeichen an zwischen Medienmenschen und den prekär zwischen Klo und Pforte Beschäftigten aus dem 2006er "Lied Der Stimmungshochhalter". Dann ist da noch das Stück vom Landeshauptmann: Im Gegensatz zu K.I.Z.s "Straight Outta Kärnten" referiert das offene Kollektiv nicht auf die konkrete Person Jörg Haider, sondern auf das heuchlerische Betrauern seines Todes in weiten Teilen der österreichischen Bevölkerung.
Die Sollbruchstelle zu sämtlichen Vorläufern allerdings entsteht abseits der bewährt schlauen Gesellschafts- und Ideologiekritik: In der zweiten Albumhälfte skizzieren Die Goldenen Zitronen ihre Vorstellung von Weltflucht. Nachdem man Schorsch Kamerun passend dazu letztens bei PeterLichts Bühnenstück "Räume räumen" sichtete, konzipiert die Band jetzt eine Art befreienden Eskapismus à la Tocotronic.
Wo das Coverfoto die Flucht in die Berge abbildet, bildet "Wir Verlassen Die Erde" das lyrische Äquivalent. Nicht aber der Rückzug in den privaten Mikrokosmos allein erscheint ihnen ungeachtet aller Sympathie für den Kommunengedanken als Ausweg. Das zeigt auch das offensive Veto gegen die wertkonservativen Anwandlungen in Mainstream-Popsongs ("Aber Der Silbermond"). Nein, schon die bloße Idee, "Über Den Pass" zu reisen oder utopisch (und ironisch überspitzt) die Menschheit Richtung Weltall zu verlassen, postuliert einen Freiraum, in dem sich bewegt werden kann.
Wohin die Bewegung gehen mag, bleibt offen. Die Veränderung an sich ist Anliegen. Zogen sich die Zitronen in der Vergangenheit stets auf die Reflexion über und das Aufbegehren gegen die Verhältnisse zurück, unternehmen sie nun den ersten Schritt in Richtung Überwindung. Es bleibt zu wünschen, dass der jüngsten Arbeit dieser wichtigsten deutschen Punkband der dazugehörige Diskurs bald nachfolgt.
50 Kommentare
Ich kann der Review nur 100%ig zustimmen. Für mich ist "Die Entstehung der Nacht" das stärkste Album der Zitronen. Hier stimmt einfach alles!
Ist das musikalisch eigentlich auch wertvoll, oder gehts es hier (in guter alter Punk-Tradition) nur um den "Widerstand" gegen Wertkonservatismus?
Wenn Du mit Punk dummes Gitarrengeschrammel in 3 Akkorden meinst, dann sind die Zitronen das definitiv NICHT. Sie nehmen sich aus allen möglichen Genres das, was sie brauchen und frickeln daraus ihre ziemlich kranken und meistens genialen Stücke zusammen. Seit 1994 machen sie eigentlich keinen klassischen Punk mehr.
Allerdings ist ihre Musik noch immer sehr viel mehr Punk als alle Wizos, Terrorgruppen und Slime zusammen. Hörs dir mal an.
@dein_boeser_Anwalt («
...zu erleben, wie wenig einem die vorhandene geistige kraft nützt... »):
Danke, bin mir zwar sicher das du das anders meintest, aber wenn ich in der Tram Philosophie Studenten(nur ein Beispiel) fachsimpeln höre, bekomm ich jedes mal den Eindruck das Wissen nur des Wissens wegen, eigentlich ziemlich nutzlos ist.
@dein_boeser_Anwalt («
in genau diesem zusammenhang kann man eben auch lernen, das geld eben nur geld ist. nichts weiter mehr!
dass der horror des oberflächlichlen strebens auf bwl-studi mit brilli im öhrchen und blasiertem charakter eigentlich eine verachtenswerte lebensform ist. »):
Geld ist zwar NUR Geld, trotzdem ist es genau das unsere System ,dass uns zu dem überragenden Wohlstand geführt hat, von dem wir jetzt wieder ein bischen was abtreten müssen.
@dein_boeser_Anwalt («
diese neue gelassenheit ist möglicherweise eine entwicklungsstufe, den andere länder notgedrungen vor uns gemacht haben. sowas kann auch den zusammenhalt fördern.
ein ekelerregend deutsches und oberflächliches sprichwort wie "bei geld hört die freundschaft auf" wird hierzulande doch (in teilen) endlich mal aufgelöst und von gegenseitiger solidarität im privaten rahmen abgelöst. man rückt näher zueinander.
folglich kann man sich seine kulturelle produktivität zumindest in teilen auch in solch schwierigen situationen bewahren. das ist das neue verständnis der zitronen. »):
Ich könnte mich ja selbst zitieren, ich bin wirklich durchaus zufrieden mit "dem System". Wenn man für diesen Wohlstand etwas soziale Kälte, wenn mans denn so nennen will, und etwas weniger Individualität in Kauf nehmen muss, dann mach ich das gerne UND BEWUSST. Das manche jetzt schon die Revulotion ausrufen, weil uns ne schnuckelige Weltwirtschaftskriese ärgert, find ich auch immer wieder bemerkenswert.
Tri a mo volorquam affecedicuptant. statum dic nobit paruntidetinam autrat? Epicur, suntibus render quaminprae Gratur, et id et ine borum set falesed illuptaterestantere eo omis essinatumerin init Epic pos non volum.
Quantem aci saestrita cognis sae endiispicqua eatus volesset per luptansultam erum, dor, quid hondam na sum bon pe scautera dintur? Sopercitissetum tari praccedolec dium nantem quer volumus.
"ein ekelerregend deutsches und oberflächliches sprichwort wie "bei geld hört die freundschaft auf" wird hierzulande doch (in teilen) endlich mal aufgelöst und von gegenseitiger solidarität im privaten rahmen abgelöst. man rückt näher zueinander."
Dies liest wahrscheinlich keiner mehr, aber weil ich eh grad Zitate für ne Arbeit aus der Digitalen Bibliothek rauspaste:
Der Kapitalist hat die Arbeitskraft zu ihrem Tages-
wert gekauft. Ihm gehört ihr Gebrauchswert während
eines Arbeitstags. Er hat also das Recht erlangt, den
Arbeiter während eines Tags für sich arbeiten zu las-
sen. Aber was ist ein Arbeitstag?
[Marx: Das Kapital. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 3652
(vgl. MEW Bd. 23, S. 247)]
Der Kapitalist beruft sich also auf das Gesetz des Warenaustausches. Er, wie jeder andre Käufer, sucht
den größtmöglichen Nutzen aus dem Gebrauchswert
seiner Ware herauszuschlagen. Plötzlich aber erhebt
sich die Stimme des Arbeiters, die im Sturm und
Drang des Produktionsprozesses verstummt war:
[Marx: Das Kapital. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 3653
(vgl. MEW Bd. 23, S. 247-248)]
Du und ich kennen auf dem
Marktplatz nur ein Gesetz, das des Warenaustau-
sches. Und der Konsum der Ware gehört nicht dem
Verkäufer, der sie veräußert, sondern dem Käufer, der
sie erwirbt. Dir gehört daher der Gebrauch meiner
täglichen Arbeitskraft. Aber vermittelst ihres tägli-
chen Verkaufspreises muß ich sie täglich reproduzie-
ren und daher von neuem verkaufen können. Abge-
sehn von dem natürlichen Verschleiß durch Alter
usw., muß ich fähig sein, morgen mit demselben Nor-
malzustand von Kraft, Gesundheit und Frische zu ar-
beiten, wie heute.
[Marx: Das Kapital. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 3653
(vgl. MEW Bd. 23, S. 248)]
Du zahlst mir eintägige Arbeitskraft, wo du dreitägige
verbrauchst. Das ist wider unsren Vertrag und das
Gesetz des Warenaustausches. Ich verlange also einen
Arbeitstag von normaler Länge, und ich verlange ihn
ohne Appell an dein Herz, denn in Geldsachen hört
die Gemütlichkeit auf. Du magst ein Musterbürger
sein, vielleicht Mitglied des Vereins zur Abschaffung
der Tierquälerei und obendrein im Geruch der Heilig-
keit stehn, aber dem Ding, das du mir gegenüber repräsentierst, schlägt kein Herz in seiner Brust. Was
darin zu pochen scheint, ist mein eigner Herzschlag.
Ich verlange den Normalarbeitstag, weil ich den Wert
meiner Ware verlange, wie jeder andre Verkäufer.
[Marx: Das Kapital. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 3655
(vgl. MEW Bd. 23, S. 248-249)]
"Der Arbeiter stellt denselben Anspruch wie ein Pferdebesitzer, der ein Pferd für einen Tag vermietet und vom Mieter verlangt, daß er es nicht an einem Tag zuschanden reitet. Auch für diesen Anspruch muß kein Grundrecht auf ein unversehrtes Pferdeleben geltend gemacht werden." (Heinrich 2006, S. 375)
Dadurch sollte klar werden, dass besagter Spruch in dieser Gesellschaftsform nicht ohne einen objektiven Zynismus als 'ekelerregend' bezeichnet werden kann. Wenn man so ein Urteil fällen mag, trifft es die dahinter liegende Gesellschaft. In dieser ist die Haltung aber 'berechtigt'.