laut.de-Kritik
Der alte Mann im Wunderland.
Review von Joachim GaugerDie Saiten des Akustik-Basses scheppern vernehmlich, der Schlagzeug-Besen scharrt, Geigen und Celli quietschen und knarzen: Bei seiner Vertonung von "Alice im Wunderland", die 1992 anlässlich einer Inszenierung Robert Wilsons am Hamburger Thalia Theater entstand und nun erst aufgezeichnet wurde, setzt Tom Waits ganz und gar auf akustisches Instrumentarium. Nie war der Mann so weit vom Rock'n'Roll entfernt, es ist, als habe Alices kindliche Welt den alten Waits in Zauberhaft genommen.
Stromgitarren haben in diesem fremd anmutenden, aber nicht unfreundlichen Universum nichts zu suchen, hier ist alles aus dunklem Holz gemacht. So eröffnet der Titeltrack "Alice" den Reigen mit verrauchter Barmusik, bevor uns "Everything You Can Think" mit Bahnhofsgeräuschen und betörender Melodie auf die weitere Reise schickt.
Es folgen kratzige Jazz-Shuffles ("Table Top Joe"), schmachtende Balladen ("Flower's Grave", "Poor Edward", "I'm Still Here"), und kammermusikalische Streicherstücke ("No One Knows I'm Gone", "Fish & Bird"). Zwischendurch verweisen Einschübe mit szenischem Charakter auf den Theater-Ursprung der Songs ("Lost In The Harbor").
Bei alledem erstaunt vor allem das ganz und gar unwahrscheinliche Zusammengehen von Leichtigkeit und größter Melancholie. Exemplarisch zwingt Waits die Gegensätze in "Kommienezuepadt" auch textlich zusammen. "Komme nie zu spät! Sei glucklich! Komme nie zu spät! Sei glucklich!" heißt es da im sinnlosen Wechsel und besonders das "glucklich sein" fällt leicht, wenn man sich vom alten Mann in sein musikalisches Wunderland schicken lässt.
4 Kommentare
Hello,
es tut mir leid, hier den Aufhänger des ganzen Artikel-Outros kaputt zu machen, aber Tom Waits singt in dem Lied "Kommienezuspadt" nicht etwa "Sei glucklich", sondern "Sei punktlich", dazu auch noch "And we can't be late" - was keinen allzu großen Gegensatz bildet, sondern schlichtweg das Weiße Kaninchen vor unseren Augen vorbeihoppeln läßt.
Stimmt schon. Er sagt "punktlich". Wobei ich die nachfolgende Kauderwelsch-Passage noch viel besser finde, wo Waits den "Deutschklang" als eine Art Kasernenhof-Interieur benutzt. Das war jedenfalls meine persönliche Spontan-Assoziation.
Wie auch immer. Sehr eindringliche Musik. Großartiges Album.
Dieser Kommentar wurde vor 6 Monaten durch den Autor entfernt.
Tom Waits gräbt auf ALICE tief in der Vergangenheit und stößt dabei in einen im Vergleich zur heutigen Zeit seltsam befreiten Raum. Hier werden Verkrüppelungen mit kindlicher Neugier bestaunt ("Poor Edward", "Table Top Joe") und der Sänger genehmigt sich einen Drink, während vor ihm Sexobjekte über die Bühne tanzen. Wer weit genug zurückblickt, muss sich zum Glück keine Sorgen über Sexismus und die Political Corectness machen. Die Musik wird vor allem von Waits' Faszination für schräge Instrumente, Kurt Weill und osteuropäische Folklore bestimmt. Die treibende Kraft der Popularmusik die E-Gitarre sucht man auf diesem wunderlichen Meisterwerk vergebens. Das simple Verlierertum ist überwunden und Tom Waits kann sich psychischen Dramen zuwenden, ohne dass sie in einem unauflöslichen Gegensatz zu seinem Tramp-Image stehen müssten. 5/5