laut.de-Biographie
Neu!
Die Übersetzung von "pervers" lautet ungefähr "verdreht", "verkehrt", "abartig" oder "schlecht". Mehr als pervers ist es nämlich, dass in Deutschland, dem Land, aus dem das Duo Neu! stammt, kaum einer diese Band kennt, obwohl sie eine der Formationen waren, die so experimentell musizierten, dass sie unzähligen Alternative Acts die Vorlage für deren "neuen" Sound lieferten. Für Sonic Youth, Tortoise, Stereolab und auch Depeche Mode waren und sind Neu! so etwas wie geistige Väter.
Michael Rother und Klaus Dinger, das war das Line Up von Neu!, mit dem sie lediglich drei reguläre Alben aufnahmen, die aber im Nachhinein die Musikwelt auf den Kopf stellten. Mit ihrem minimalistischen Sound und ihrer Experimentierfreude ließen sie ihren Gefühlen freien Lauf und schufen so zeitlose Meisterwerke.
Michael Rothers musikalische Geschichte ist zwingend mit dem Aufstieg der damaligen Szene verbunden, die später einmal unter der despektierlichen Bezeichnung "Krautrock" ihre Schublade finden sollte. Bevor er auf den ersten Outputs einer Band namens Kraftwerk zu hören war, spielte er unter anderem mit Wolfgang Flür bei Spirits Of Sounds, bevor er sich den späteren Elektropionieren anschloss, bei denen auch Klaus Dinger spielte. Spirit Of Sounds klangen damals - für eine Nachwuchsband - recht typisch. Beeinflusst von Rock'n'Rollern aus dem angelsächsischen Sprachraum, kopierte Rother zu Beginn mehr, als dass er eigene Ideen entwickelte.
Dies änderte sich jedoch im Laufe der Zeit und der Autodidakt an der Klampfe versuchte, etwas zu schaffen, das außerhalb jeglichen konventionellen Kontextes steht. Diese Eigenständigkeit brachte ihn denn auch mit Schneider und Hütter von Kraftwerk in Verbindung. Beeindruckt vom Kraftwerk-Minimalismus entwickelte er sein Spiel weiter und nachdem er sich von der Band trennte, und auch wenn Dinger wenig später die Flinte ins Korn warf, stand es für die beiden schnell fest, dass sie auch zukünftig weiter zusammen Musik machen wollten, Neu! waren geboren.
Das erste Neu!-Album entstand in sage und schreibe 4 Nächten. Warum Nächte? Nun, aus dem einfachen Grund, weil die Miete für ein Studio nachts erheblich billiger und Geld auch schon damals ein Problem für Musiker mit Visionen und ohne Konventionen war. Unter der Regie von Conny Plank, den die beiden aus Kraftwerk-Tagen als Produzenten kannten, entstand 1972 das selbstbetitelte Debüt. Wie der Band- beziehungsweise der Plattentitel verkündete, war hier etwas ganz Neues am Start. Aber nicht in dem Sinne, dass komplizierteste Techniken und verzwickte Arrangements vorgetragen, sondern dass die Musik auf den Kern reduziert wurde. Kleine, unscheinbare Melodien, lockere Rhythmen, die damals zur Verfügung stehenden technischen Mittel und eine große Portion Improvisation erschufen Musik, die im Neu!-Kosmos wie die Elfe im Märchenland schwebt.
Der schon damals kultige Radio-DJ John Peel war von den Kreationen von Rother und Dinger so angetan, dass er das epische 10-Minuten-Stück "Hallogallo" so lange in seiner Show hoch und runter dudelte, bis dieses Lied zum Hit avancierte. Insgesamt verkaufte sich das Album über 30.000 Mal.
Das musikalische Konzept des Debüts wird auch auf dem Zweitling fortgesetzt, ohne auch nur im Ansatz langweilig zu wirken. Jahre später verrät Rother jedoch in einem Interview, dass sich Neu! bereits beim zweiten Album in einer kreativen Krise befanden und aus diesem Grund wie verrückt mit Gitarren-, Geigen- und Klavierschichten herum experimentierten. Der Song "Für Immer" sollte außerdem an den Hit "Hallogallo" anknüpfen. Dies klappte allerdings nicht ganz und Neu! bezogen für krude Soundideen wie rückwärts laufende Geräuschspuren (auf Seite zwei von "Neu! 2") ordentlich Presseprügel.
Mit dem dritten und letzten Opus "Neu 75" änderte sich jedoch etwas. Mit Hinzunahme von Thomas Dinger und Hans Lampe (beide Schlagzeug) gewann der Neu!-Sound an Breite und sogar wütend und krachig wurde es bisweilen. Das Stück "Hero" nimmt das vorweg, was später mal als Punk für Furore sorgen sollte und genau dieser Song war es, der David Bowie wesentlich in seiner musikalischen Entwicklung beeinflusste.
Nach dieser Platte ist jedoch Schluss mit Neu!. Rother widmet sich zunächst noch einmal dem seit 1973 existierenden Projekt Harmonia (mit den Cluster-Mitgliedern Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius) und startet anschließend eine Solokarriere, die u.a. die gelobten Alben "Sterntaler" und "Flammende Herzen" hervor bringt. Dinger werkelt bis Anfang der 80er Jahre unter dem Namen La Düsseldorf weiter, nimmt 1985/86 zusammen mit Rother gar ein viertes Neu!-Album auf, das erst 1995 erscheint.
Seit etwa Anfang der 90er Jahre erhalten Neu! endlich den Respekt, der ihnen schon lange gebührt. Als Beweis hierfür einige Stimmen von Musikern, die heute als die Neuerer des Rock angesehen werden, die jedoch gerne eingestehen, dass sie von dieser kleinen, aber feinen Band aus Teutonien in hohem Maße beeinflusst wurden:
Damon Albarn (Blur):
When I listen to Neu! I think of a Germany where the Autobahn a thousand miles of golden white sands and the sound systems hang in the banana trees, instead of speedtraps and Bratwurst.
They sort of became part of our soundtrack for the year.
There were three great beats in the 70s: Fela Kuti's afrobeat, James Brown's funk and Klaus Dinger's Neu!-beat.
Brian Molko (Placebo):
Our three favorite German bands have always been Kraftwerk, for their innovation in electronics, Can, for their sheer funkiness and Neu!, for the way that they made repetition so beautiful.
Thom Yorke (Radiohead):
Neu!? To me they sound like joy. Like endless lines stretching on foreverinparallel. Fragile. Like a brandnew motorway and you are the first person to drive along it. Like being so out of breath you can't feel your hands.
John Frusciante (Red Hot Chili Peppers):
Neu! is so wonderful. They make me very happy.
Alle drei Neu!-Alben sind dank Herbert Grönemeyer seit 2001 wieder im Handel. Herbie veröffentlicht den Backkatalog auf seinem Label Grönland, nachdem sie bislang nur als Bootleg zu haben waren. Was allerdings auch dem Bochumer trotz heftiger Schlichtungsversuche nicht gelang, ist eine Reunion des allseits geliebten Duos. Dafür erscheint im Mai 2004 von einer Neu!-Hälfte neues Material: Michael Rother fasst sich ein Herz und beendet seine seit 1997 in der Entstehung befindlichen Songskizzen. Das Album erscheint unter dem Namen "Remember (The Great Adventure)" und bietet die Neu!-typischen Endlosgrooves, denen verschiedene Sänger ihren Stempel aufdrücken. Weitere Songskizzen formuliert der Musiker dann sechzehn Jahre später zu vollständigen Tracks aus. Das Ergebnis, "Dreaming", kommt noch im selben Jahr auf den Markt und knüpft nahtlos an den Vorgänger an. 2022 erscheint mit "As Long As The Light" ein gemeinsames Album mit Vittoria Maccabruni.
Anfang April 2008 macht die traurige Nachricht die Runde, dass Klaus Dinger bereits am 20. März, vier Tage vor seinem 62. Geburtstag, an Herzversagen verstarb.
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