laut.de-Kritik

Das Glück im Unglück.

Review von

Sufjan Stevens lässt sich in keine Box stecken. Immer wieder experimentiert der Songwriting-Virtuose mit neuen musikalischen Ausdrucksformen. Egal ob es sich dabei um Synth-ASMR ("Convocations"), meditativ-instrumentale Klänge ("Reflections") oder sein Rap-Projekt "Sisyphus" mit Son Lux handelt - Stevens beweist seine Vielseitigkeit immer wieder aufs Neue. Mit dem Album "Javelin" begibt sich der Sänger nun zurück zu den bewährten Indie-Folk-Klängen, die schon in "Carrie & Lowell" zu hören waren; Zurück zu den schaurig-schönen Harmonien der Ballade "The Mystery Of Love", die dem Sänger dank der Coming Of Age-Romanze "Call Me By Your Name" zu größerer Bekanntheit und mehreren Gold- und Platinauszeichnungen verhalf.

In den zehn ruhigen, teils gespenstisch entrückt wirkenden Liedern des Albums spielt Stevens mit Harmonie und Dissonanz. Hier trifft Weltschmerz auf Hoffnung und tiefer Zynismus auf das Staunen über die Schönheit der Welt. Stevens philosophiert über die Liebe, das Leid und ringt dabei erneut mit seinem christlichen Glauben und der Vergänglichkeit des Lebens. Es überrascht daher wenig, dass die Platte mit einem "Goodbye" beginnt.

"I'm frightened of the end. I'm drowning in my self-defense" singt Sufjan im Opener "Goodbye Evergreen". Von immergrünen Pflanzen oder Beziehungen will Stevens nichts wissen. Der Song betrügt die Zuhörenden zunächst mit der Ruhe eines Wiegenliedes. Doch genau dann, wenn man meint, den inneren Frieden erreicht zu haben, überfällt uns Stevens mit einer lauten Chor-versetzten Bridge des Grauens, die der Harmonie diametral entgegentritt.

Vielleicht ist dies eine Metapher für Sufjans Einstellung zum Leben, denn das einfache Glück scheint ihm suspekt. Seine Texte wirken fast so, als wollte er es sogar sabotieren, ganz nach dem Motto: Man soll dann gehen, wenn's am schönsten ist: "You know I love you but everything heaven sent must burn out in the end." Wie ein einsamer Wolf zieht Stevens durchs Leben, angetrieben von einer Sehnsucht, deren Erfüllung ihm unendlich fern scheint. Im rührenden "Will Anybody Ever Love Me" fragt Sufjan das Universum, ob er jemals aufrichtig und vorbehaltslos geliebt werden kann.

Dem gegenüber steht seine ständige Rastlosigkeit, die ihn veranlasst, Dinge und Menschen, die er liebt, zu verlassen und zu verletzen. Im beißenden Kontrast zur sanften Gitarrenbegleitung stehen die schmerzvollen Texte, die zuweilen grausame Züge annehmen. "Javelin" ist der Name einer britischen Luftabwehrrakete. Im gleichnamigen Song bemerkt der Sänger, wie furchtbar der Gedanke an einen Tod durch diese Waffe sei. Wenn die besungene Person nicht rechtzeitig ausgewichen wäre, wäre jetzt Blut an der Stelle, wo sie vorhin noch stand.

Das Cover-Artwork ähnelt dem der Platte "All Delighted People", die vor dreizehn Jahren erschien, und erinnert gleichermaßen an das Design des Sgt. Pepper-Albums der Beatles. Auch die "Fool On The Hill"-artige Flöten in "Goodbye Evergreen" und Simon & Garfunkel-esque Zeilen ("A Running Start") lassen Stevens' Retro-Begeisterung deutlich erkennen. Neil Youngs "There's A World" gibt er einen neuen Anstrich und macht es sich zu eigen. Mit einer neuen Melodie, die um Einiges zärtlicher und ruhiger daherkommt als das Original, lässt er Youngs lebensbejahenden Text in neuem Licht erstrahlen: "There's a world you're living in. No one else has your part."

Sufjans eigener lyrischer Feinsinn kann Songwriting-Größen wie Young und Paul Simon durchaus das Wasser reichen. Letzterer begab sich im Frühjahr mit "Seven Psalms" auf eine spirituelle Reise. Stevens tut es ihm gleich. Begleitet von einem orientalischen Rhythmus betet er: "Jesus lift me up to a higher plane Can you come around before I go insane?"

Die Aufnahmen des Albums entstanden in Sufjans Heimstudio im Staat New York. In einigen der Tracks spielte Stevens alle Instrumente selbst. In "Shit Talk" begleitet ihn Bryce Dessner von The National an der Gitarre. Stevens bearbeitete seinen Gesang an einigen Stellen mit einem zitternden Audio-Effekt. Immer wieder setzt Stevens auf einen dominanten Background-Gesang, der an einigen Stellen jedoch überladen und wie ein merkwürdiger Kinderchor klingt, zum Beispiel in "Shit Talk" und im Outro des Walzers "My Red Little Fox".

Doch trotz dieses kleinen Schönheitsfehlers ist "Javelin" ein hörens- und liebenswertes Album. Mit jedem Song geht Sufjan der menschlichen Substanz auf den Grund. Bei aller Schwermut wirkt seine Nachdenklichkeit nie belastend, sondern viel mehr erfrischend aufrichtig und unverblümt.

An den Promo-Arbeiten des Albums ist Stevens dieses Mal jedoch nicht beteiligt. Vor wenigen Wochen gab er über Social Media bekannt, am lähmenden Guillain-Barré-Syndrom erkrankt zu sein. Der Sänger sitzt derzeit im Rollstuhl und blickt einem langen und mühsamen Genesungsprozess entgegen. Doch über das Gröbste scheint er hinaus zu sein. Nun bleibt zu hoffen, dass er 1.) schnell gesund wird und 2.) dass "Javelin" auch ohne große Promo-Tour die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient hat.

Trackliste

  1. 1. Goodbye Evergreen
  2. 2. A Running Start
  3. 3. Will Anybody Ever Love Me?
  4. 4. Everything That Rises
  5. 5. Genuflecting Ghost
  6. 6. My Red Little Fox
  7. 7. So You Are Tired
  8. 8. Javelin (To Have and to Hold)
  9. 9. Shit Talk
  10. 10. There's a World

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