laut.de-Kritik
Riesiger Tourtross, überragende Performance: Arcade Fire in Köln.
Review von Matthias MantheAuf Augenhöhe mit Joss Stone und Wir Sind Helden – Arcade Fire brennen ihr Feuerwerk lange nicht mehr in dunkel-intimen Szeneclubs ab. Leuchtraketen statt Wunderkerze. Heute also beinahe 4000-mal pure Erwartungshaltung im kalten Stahlkoloss des Palladiums.
Weitläufige Anonymität, zweckdienliche Raumaufteilung durch Ordnermassen, Rauchverbot und akzeptable Sicht aufs Bühnengeschehen nur für die vorderen 10% - der anscheinend unverhandelbare Preis, wenn bereits etablierte Indielieblinge plötzlich noch einmal riesige Wachstumsschübe durchleben.
Beispiel gefällig? Coldplay-Sänger Chris Martin hat Arcade Fire während eines Auftritts in Ottawa neulich als "the greatest band in history" bezeichnet. Vom Hochadel zum Kaiser gekrönt, da liegen die Gala-Schlagzeilen auch nicht mehr fern. Der Vorfreude tut die Lokation Palladium jedoch keinen Abbruch, schließlich warten wir seit März darauf, von den Eheleuten Butler/Chassagne und Anhang im Sturm genommen zu werden.
Damals mussten die Auftritte in Berlin, München und Köln aufgrund einer schweren Schleimhautentzündung der Nasennebenhöhlen des charismatischen Sängers ausfallen. Nun ist Butler schon seit einiger Zeit wiedergenesen, wie nicht zuletzt die überwältigende Präsenz beim diesjährigen Southside-Festival nachhaltig demonstrierte. Wer sich damals schweren Herzens gegen die zweite Bühne und damit die Bright Eyes entschied, um diesem Furiosum in voller Länge beizuwohnen, hat es unter Garantie keine Sekunde bereut.
Und auch heute braucht es keinen Kummerkasten. Mit zehn Mannen und Frauen sind die Kanadier angereist, das sind zwei üppige Nightliner nebst Instrumententruck und jede Menge PS. "Vor zwei Jahren genügte noch ein einziger Bus", erfährt man aus Insiderkreisen. Damals gehörte auch Wundergeiger Owen Pallett noch zum quasifesten Inventar, heute hat er sich als Final "Loop-Pedal" Fantasy von der Überband weitgehend emanzipiert.
Auf Distanziertheit oder gar Arroganz lässt sich im Fall Arcade Fire aber aus dem voluminöseren Drumherum keinesfalls schließen, ist weiterhin aus erster Hand zu hören. Da sind wir ja beruhigt und kommen endlich zum Wesentlichen. Und was soll man sagen: Rein objektiv betrachtet stehen dort auf der Bühne Violinistinnen, Bläser, Keyboarder, Percussionisten, Win und Regine und musizieren inbrünstig ins Auditorium. Oben auf der Veranda geht die Vorband Herman Düne begeistert kopfwackelnd mit, unten ist Party.
Aber irgendwas ist anders. Etwas verursacht reihenweise offene Münder wie bei der Schluckimpfung in der Schule. Auf der Empore befindet sich zwar sicherlich nicht die größte Band der Musikgeschichte, wie genannter Coldplay-Fronter proklamierte, aber möglicherweise tatsächlich eine der wichtigsten Gruppierungen unserer Gegenwart. 75 Minuten brennen zehn Individuen in völliger Selbstauflösung gemeinsam für ihre Kunst.
Eine dicht gewebte wall of sound, undurchdringlich und dennoch euphonisch. Rastlosigkeit beherrscht die Protagonisten, treibt auch vermeintliche Nebenfiguren immer wieder ans Mikrofon. An diversen Instrumenten sind Miniaturkameras angebracht, welche die großen Augen und den Überschwang seiner Benutzer auf fischaugige Displays werfen. Sich diesen fast manischen Antlitzen zu entziehen, die es schon zum Covermotiv des Time-Magazins geschafft haben, Arcade Fires Hymnenhaftigkeit einfach an Ohr und Herz vorbeiziehen zu lassen: ein Ding der Unmöglichkeit. Warum auch? Perfekte Konzertabende kamen noch nie mit der Tagespost.