15. April 2013

"Von nahem total abgefuckt"

Interview geführt von

Freilich ist es Ironie, dass diese Band sich ausgerechnet 'Stars' nennt. Denn – bei allem Respekt – der große Durchbruch ist den Kanadiern nie gelungen. Und das, obwohl die vier Herren und die Dame seit nunmehr knapp 13 Jahren zusammen musizieren.Die Songs an sich sind radiotauglich, doch mit ihrem synth-lastigen Gitarrenpop kamen sie in Europa nie recht über Support-Slots von mittelgroßen Acts wie Block Party hinaus. Dennoch: So zufriedene und ausgeglichene Menschen habe ich selten getroffen. Obwohl die Band dieser Tage, den schwindenden Plattenverkäufen sei Dank, innerhalb von knapp drei Wochen in 18 europäischen Städten spielt. Oder spielen muss.

Nachdem Sängerin Amy, mit der ich eigentlich verabredet war, allzu lange auf sich warten lässt (sie kümmert sich um die gemeinsame Tochter mit dem Bassisten Evan, die wohl gerade das Laufen lernt), setze ich mich mit Keyboarder Chris Seligman und Drummer Pat McGee schließlich an den mit allerlei Süßkrams und bayerischen Spezialitäten übersäten Tisch im Backstage des Hansa 39.

Im September habt ihr nach guten zwei Jahren euer neues Album "The North" veröffentlicht. Dazwischen musste die Band so einiges aushalten, unter anderem wurden Amy und Evan Eltern. War es schwierig, aus solch einer Phase heraus wieder geschlossen an einem Album arbeiten zu können?

Chris: Wir haben schon mit dem Schreiben angefangen, als ihr Baby noch nicht geboren war. Folglich hatten wir bereits eine ganze Menge an Arbeit hineingesteckt, bevor die Auszeit kam. Ich denke, das hat geholfen. Klar verschieben sich die Prioritäten, wenn man ein Baby bekommt. Irgendwann willst du aber wieder zurück aufs Pony, zurück an die Arbeit!

Pat: Es hat uns viel mehr Spaß gemacht, wieder zusammen zu schreiben, als wir anfangs dachten. Das überraschte uns. Zumindest mich persönlich. (lacht)

Chris: Der Vorgänger "The Five Ghosts" war auch eher eine schmerzhafte Erfahrung.

Pat: Herausfordernd!

Chris: Jedenfalls hat der Prozess dieses Mal definitiv mehr Spaß gemacht.

Warum war denn die Arbeit an der vorigen Platte so schwierig?

Pat: Wir waren irgendwie müde. Jedes Bandmitglied hatte zu damals mit unterschiedlichen emotionalen Belastungen zu kämpfen.

So dass ihr euch tiefer reinhängen musstet, um die Dinge ins Rollen zu bringen?

Chris: Ich weiß nicht, ob wir uns mehr anstrengen mussten. Manche von uns haben damals harte persönliche Erfahrungen gemacht und wollten deshalb vielleicht mehr Zeit für sich allein haben. Während der Aufnahmen zur neuen Platte hat jeder die Gesellschaft der anderen genossen.

Die Babypause hat also mehr geholfen, einen Prozess in die Gänge zu bringen, als dass sie ihn unterbrochen hätte?

Chris: Die Kinder brachten eine Art Freude mit sich. Es war schlicht neu. Du realisierst einfach, wie wichtig das Leben ist. Ein Baby gibt dir eine Perspektive.

Amys und Evans Tochter reist ja sogar auf der Tour mit!

Pat: Ja, sie ist ein Rock'n'Roll-Baby!

Ihr habt euch für die meisten Songs auf "The North" in eine Hütte zurückgezogen.

Chris: Vielleicht für drei oder vier. Manchmal fahren wir einfach anderthalb Stunden aus Montreal raus. Wir machen das öfter im Sommer und als Amy im siebten Monat schwanger war, haben wir uns im Winter dazu entschlossen. Dann sind wir für eine Woche in dieser Waldhütte zusammengezogen.

Pat: Ja, wir haben in der Hütte geschrieben, in Torqs [Torquil Campbell, Sänger – Anm. d. Red] Ferienhaus und im Studio.

Sieht so aus, als müsstet ihr aus der Stadt raus, um schreiben zu können?

Pat: Wir mögen das Ländliche! Das ist dann eine gute Entschuldigung, um mal abzuhauen und aus der Stadt rauszukommen. Du kriegst eine Menge hin, wenn du nicht durch die Stadt abgelenkt bist und praktisch nichts anderes zu tun hast, als zusammen Musik zu spielen. Die Isolation im Wald hat dann auch immer den Charakter eines psychologischen Experiments. (lacht)

Beeinflusst das euren Sound? Ich finde, dass besonders "The North" nach einer Art Pathos und Weite klingt.

Pat: Viele Songs sind zwar auf dem Land entstanden, aber wir haben das Album in der Stadt aufgenommen. Allerdings auch da an einem ziemlich ruhigen Fleck. Wie eine Ferienhütte mitten in der Stadt. Da war dieses alte Studio, mit vielen Holzvertäfelungen. Und es war Winter. Also haben wir uns einfach da hinein verkrochen. Ziemlich gemütlich. Also eigentlich wie auf einer Hütte.

"Das Habitat ist skurril und wahnsinnig."

Das Artwork des Albums beinhaltet Landschaften, aber ebenso Gebäude mit imposanter Architektur aus eurer Heimatstadt. Das Cover zeigt das "Habitat", ein alternatives Wohnprojekt aus den Sechzigern.

Pat: Ja, das Habitat war ein philosophisch-architektonisches Projekt, das für die Expo 67 gebaut wurde. Jetzt sind dort Eigentumswohnungen drin. Es wurde damals als Gegenentwurf zu den gängigen, pragmatischen Wohnflächen entworfen. Das Habitat in seiner Art ist skurril und wahnsinnig. Leider hat dieses Vorwärts-Denken nicht lange angehalten. Und sie halten das Gebäude nicht sehr gut instand. Von Weitem sieht es immer noch gut aus – aber von nahem ist es total abgefuckt.

Warum habt ihr die Fotos so ausgewählt?

Pat: Auf jeden Fall wollten wir etwas, das zeigt, woher wir sind.

Chris: Wir mochten aber auch, wie es ausgesehen hat ... Vor allem, wenn man Effekte drüberlegt. (lacht)

Pat: Ich meine, es ist ein sehr ergreifendes Gebäude. Hast du außer unserem Albumcover Bilder davon gesehen?

Ja, ich hab eins auf Wikipedia gesehen. Es war bei weitem nicht so hübsch wie auf eurem Albumcover.

Pat: Ja, es ist nicht sehr hübsch. Aber es sieht aus wie ein mesopotamisches Höhlensystem. Niemand würde das heute mehr so bauen! Okay, vielleicht in Schweden, weil sie das Geld für ein solch artistisches Projekt haben. In Kanada ist das jedenfalls heute nicht mehr so.
"The North" – das ist ein großes Gebiet und es war natürlich auch ein monströses Albumkonzept für uns. Wir konnten das auf einem Cover nicht einfach auf einen Gletscher oder auf Eisbären reduzieren und somit beschränken. Oder was immer du denkst, was es im Norden sonst noch so gibt. Nein, wir wollten die Menschen dort und deren Sinn für Kunst auch mit einschließen. Außerdem ist es gut, einen roten Faden im Auge zu haben, der sich durch das ganze Album zieht. Nicht unbedingt thematisch, aber wenigstens eine Vorstellung der Gesamtidee. Wenigstens ein bisschen konzeptionell also.

Chris: Manchmal denkt man, dass man schon alles ausprobiert hat. Schon bevor du mit den Arbeiten an einer Platte anfängst. Wenn du dich aber hineinstürzt und dir kommt eine Idee, dann folgt daraus die nächste, es entstehen Zusammenhänge. Wir arbeiten nur im Moment.

Kanadischen Bands sagt man ja gern nach, sie würden immer auf eine spezielle Art faszinierend klingen ...

Pat: Ist es so interessant für die Menschen da draußen, zu wissen, woher der kanadische Sound, der eigentlich gar kein einheitlicher Sound ist, herkommt? (lacht) Wenn du das fragen willst: Ich habe keine Ahnung, Mann!

Chris: Ich glaube, dass es so viele verschiedene Sounds gibt, dass das hart zu beurteilen ist. Das ist doch mit den schwedischen und englischen Bands genau dasselbe. Die wollen alle im Grunde nur gute Musik machen.

Pat: Ich finde es vor allem lustig, was die Menschen über kanadische Bands sagen. Es ist so ein riesiges Land und es gibt eine Menge Bands dort. Doch genau dasselbe ist es doch mit dem "schwedischen Sound" oder dem "englischen Sound". Ich habe keine Ahnung, wo der Ursprung dieses kanadischen Sounds sein soll.

Chris: Du kannst doch gar nicht anders, als von deiner Umwelt beeinflusst zu werden. Es fühlt sich einfach anders an, in Deutschland zu sein. Es riecht anders, der Käse ist anders ...

... die Schokoriegel sind anders!

Pat: (lacht) Ja, genau, selbst Twix ist ein wenig anders hier!

Chris: Und ich glaube, dass sich alle diese Dinge unterbewusst irgendwie auf dich auswirken.

Pat: Und kanadische Bands kommen ja auch nicht alle aus einer kleinen Stadt! Die kommen aus dem ganzen Land, das geografisch riesig ist. Aber da ist wohl etwas in unserer Kultur, das all diese Bands vereint. Nebenbei glaube ich, dass das beweist, dass – entgegen dem, was die Leute denken – Kanada tatsächlich eine Kultur besitzt! (lacht)

Also liegt der "kanadische Sound" in eurem historisch bedingten Selbstverständnis?

Chris: In der Selbstliebe!

Oh, ja, das ist großartig! In Deutschland kennt man das Wort "Selbstliebe" nicht, wegen dem Nazi-Ding. Das beeinflusst sogar noch unsere Generation!

Pat: Ich habe die Jugend in Deutschland eigentlich immer bedacht darauf erlebt, ihre Perspektive zu verändern. Deswegen fühlen wir uns hier sehr wohl!

Chris: Kanada hingegen ist ein junges Land, das nicht sehr viel Geschichte hat und in keine Weltkriege verwickelt war. Kanadier sind da ein bisschen naiv, die Nation fährt bisher gut, weil unsere Reise noch nicht so lange dauert. Wir hatten noch nicht mit vielen Grausamkeiten zu tun – wohingegen viele andere Staaten sehr wohl mit solchen in Berührung kamen.

Ihr habt vorhin angesprochen, wie riesig Kanada ist. Wie könnt ihr euch trotzdem erklären, dass so viele kanadische Bands untereinander ihre Mitglieder tauschen?

Pat: Das ist alles nur Fassade. Wenn du in einer kleinen Stadt groß wirst und jeder, den du kennst, macht Musik dann endet ihr irgendwann darin, wie ihr alle zusammen Musik macht. Das ist dasselbe, wie in einer großen Nachbarschaft. Ich glaube nicht, dass das vorgefasst ist. Wenn du dir mal Broken Social Scene, Arcade Fire und Bell Orchestre oder diese ganzen anderen Bands anschaust – das sind alles nur eine Hand voll High School-Freunde! Menschen rotten sich nun mal gerne mit Leuten zusammen, die ihnen ähnlich sind. Und dazu kommt, dass es nicht so viele Städte gibt.

Chris: Ich will nicht zynisch sein, aber es ist nicht so, dass beispielsweise Stars in Wolf Parade spielen und Wolf Parade in Stars. Es gibt kleine Gruppen und wir genießen es auf jeden Fall, mit anderen Musikern zusammen zu sein. Aber es spielt ja nicht jeder in allen Bands – es gibt Grenzen.

Pat: (lacht) Du könntest ja auch nicht in jedermanns Band spielen!

Ein Album ist heutzutage nur noch eine Visitenkarte.

Wenn wir gerade über die kanadische Musikszene reden: An eurer Bandgeschichte finde ich interessant, dass ihr euch in New York gegründet habt, obwohl ihr doch so stolz auf eure Heimat zu sein scheint.

Chris: Torquil und ich sind zusammen in Toronto aufgewachsen. Seit wir acht Jahre alt waren, sind wir Freunde. Die Stars haben wir aber tatsächlich erst in NYC gegründet.

Warum seid ihr dann nach Montreal zurück?

Chris: Als wir aus Toronto weg sind, haben wir fünf oder sechs Jahre in New York verbracht, wo wir ziemlich viel Spaß hatten. Irgendwann konnten wir aber finanziell nicht mehr, als das mit der Band anfing. New York ist allerdings großartig, um die ersten Erfahrungen mit einer Band zu sammeln. Um einfach rauszugehen und Musik zu machen. Nach einem bestimmten Punkt wussten wir aber, dass wir zurück nach Kanada wollten. Montreal schien uns dann der beste Ort, um weiterzumachen. Um größeren finanziellen Spielraum zu haben. Ich hatte Freunde und Familie dort. Und die Mädchen da sind sehr hübsch. (lacht) Die Stadt hat ein europäisches Flair – sie ist auf so viele verschiedene Arten attraktiv.

Pat: Ja, die Stadt hat die Dinge ein bisschen verlangsamt. Und da bin ich dann zur Band gestoßen, weil Chris und ich einen gemeinsamen Freund hatten.

Im Jahr 2007 seid ihr einem möglichen Leak eures Albums "In Our Bedroom After The War" zuvorgekommen und habt das Album zum kostenlosen Download freigegeben. Was hat euch veranlasst, von einem Leak auszugehen?

Pat: Damals waren die Bands sehr paranoid, wenn es um fertige Alben ging. In dieser Zeit hielten sich die Leute noch an dem Glauben fest, Alben verkaufen zu können. Und wenn es Raubkopierer veröffentlichen, dann ist die Qualität vielleicht schlecht oder sonst was. Rückblickend hört sich das alles so albern an. Heute ist das ja alles ganz anders. Ich meine, wir veröffentlichen es nicht mutwillig, aber im Endeffekt ist es sowieso im Internet verfügbar und es zahlt niemand dafür.

Chris: Wenn es nicht zeitnah zum Veröffentlichungs-Datum geleaked wird, dann ist es ein Zeichen, dass sich niemand darum schert! (lacht)

Pat: Ein Indikator für gute Musik! Um zur Frage zurückzukommen: Das war damals eine komische Zeit, in der wir versuchten herauszufinden, wie man sein Eigentum unter Kontrolle hält. Und so haben wir entschieden, es einfach zu verschenken. Die Leute holen es sich sowieso – stellen wir es ihnen halt selbst zur Verfügung.

Denkt ihr, dass das für die Zukunft ein plausibler Weg ist? Trent Reznor hat das ja auch mal gemacht, wollte aber eine beliebige Spende dafür, was keiner getan hat. Wäre das für euch zukünftig wieder eine Möglichkeit?

Pat: Ich weiß nicht. Es ist lächerlich, dass man heute alles für umsonst weggeben muss. Aber okay, ein Album zu machen ist ja nicht das gleiche, wie ein Auto zu bauen. Ein Album, das sind nur Sounds, die in die Welt hinaus gehen. Das mit den Plattenverkäufen hat genau so lange funktioniert, wie Label alles unter Kontrolle hatten, da die Musik an ein physisches Produkt gebunden war. Für was soll man nun bezahlen? Eine Album ist heute nur noch ein Visitenkarte, auf der steht: "Wenn du uns magst, kauf unser T-Shirt!"

Chris: Über den Gedanken, dass man noch Platten verkaufen kann, sind wir längst hinweg. Wenn man mal genau darüber nachdenkt, macht das einen schon depressiv. Da hängt ja eine ganze Existenz dran.

Pat: Da muss man einfallsreich sein. Die Ironie ist aber, glaube ich, dass Bands in früheren Jahren auch nicht unbedingt ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Selbst als die Leute noch Musik gekauft haben. Denn auch wenn ein Künstler viel Geld verdient hat, ging doch das meiste an die Plattenfirma.

Ich weiß nicht, wie groß das bei euch in Kanada ist. Aber in Europa gibt es inzwischen sehr viele Streaming-Angebote, wie Spotify …

Chris: ... an denen der Künstler nichts verdient! Wobei ich über Spotify verschiedene Meinungen gehört habe.

Deutsche Künstler beschweren sich jedenfalls immer, dass man dort nicht angemessen bezahlt wird.

Chris: Die Dinge verändern sich ja auch so schnell. Jetzt gibt es Streaming-Dienste. Da frag ich mich: Wird es in zwei Jahren noch MP3s geben? Aber die Künstler sind immer noch da draußen, spielen und arbeiten hart. Trotzdem müssen sie jetzt Anwälte beschäftigen die für sie verhandeln. Das ist alles schwer zu kontrollieren, weil es so verdammt schnell passiert.

Sind wir inzwischen so weit, dass ihr als Band beispielsweise wirklich keinen Cent mehr von den Plattenverkäufen erwartet?

Pat: Ich glaube, wir sind seit vier oder fünf Jahren nicht mehr für irgendwelche Verkäufe bezahlt worden. Weil die Labels daran nicht verdienen.

Chris: Wenn du einen Plattenvertrag hast, gibt dir das Label beispielsweise im Voraus 60.000 Dollar. Und dann ist noch nicht sicher, ob du genug Platten verkaufst, damit das für die Firma kein Minusgeschäft wird.

Pat: Labels bezahlen ja viele Dinge. Sie bezahlen dir die Werbung, das Management, deine Anwälte. Das müssen die ja irgendwie finanzieren. Also ist es sehr unwahrscheinlich, dass du als Künstler jemals viel Geld siehst. Und wenn du einmal viel Geld machst, nehmen sie dir mindestens die Hälfte wieder. Das macht denen ja auch keinen Spaß – Mann, muss Label-Manager ein beschissener Job sein! (lacht) Sie verdienen kein Geld!

Chris: An "Set Yourself On Fire" haben wir ein bisschen verdient. Das ist acht Jahre her! Jetzt ist es sogar schwer, in eine TV-Show zu kommen. Weil es so viele Bands gibt und die Leute von der Plattenfirma so viele Acts zur Auswahl haben. Da unterstützt man doch lieber den Musiker, der sein Album allein in seinem Schlafzimmer aufnimmt und deshalb nur 1.000 Dollar braucht. Und da gehören wir nun mal nicht dazu.

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