laut.de-Kritik
Geglücktes Konzert-Experiment auf zwei Etagen.
Review von Philipp SchiedelEs hat wohl niemanden großartig verwundert, dass die Weilheimer Urgesteine sich zur Veröffentlichung ihrer neuen Platte etwas Außergewöhnliches einfallen lassen. Und wer außer ihnen würde schon auf die Idee kommen, ihren elektronischen Sound durch mitgebrachte Transistor Radios des Publikums auf die Bühne zu tragen? So was überlässt man keiner einfachen Rockband.
Notwist vs. Console. Die Band oben im Theater, Martin Gretschmann unten im Keller. Während Notwist mit ihrem Frickelmann wenigstens durch das Radio verbunden ist, wird Console-Gretsche die Gitarren nicht hören, sondern seine Mitstreiter nur auf einer Leinwand sehen. Zwei Räume, ein Sound. Oben jedenfalls. Um halb elf wird im Pathos Transport Theater immer noch eifrig an der Sendersuche geschraubt. Aus den meisten Kofferradios tönt aber nur ein Rauschen und auch der überdimensionale Ghettoblaster von Kollege Friedrich will kein sauberes Bayern 2 aus dem Äther zapfen.
23 Uhr. Die Nachrichten des Bayerischen Rundfunks hallen durch das Theater. Niemand hört zu, sondern man dreht immer noch irgendwelche Rädchen und drückt auf Knöpfchen, deren Funktion man nicht kennt. Selbst um 23.04 Uhr (eine Minute vor Beginn der Radioübertragung) hat sich das Rauschen im Radio immer noch nicht in den Wetterbericht verwandelt.
Aus den meisten Lautsprechern neben den Ohrmuscheln der Zuschauer dröhnen inzwischen die ersten Töne aus dem Keller. Dazu erklärt ein Radiomoderator noch einmal wie die Sache in den nächsten Sekunden zu funktionieren hat. Dann beginnt ein leises Intro: Gretschmann klickt, die Celli streichen und eine verzerrte Vocoder-Stimme begrüsst die Zuschauer: "Mal sehen ob das so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben. Ähh .. Ähh ... der Computer macht am Ende ja doch was er will." Die Acher-Brüder und Schlagzeuger Mecki Messerschmidt stehen mitsamt zwei Cellisten und einem Percussionist auf der Bühne und lassen die ersten Takte von "Pick Up The Phone" in das Intro hineinfließen. Der Sound klingt holprig und ungewohnt. Ohne vorherige Radioprobe der Band auch kein Wunder.
Beim zweiten Song, die erste Singleauskopplung "Pilot", scheint die Nervosität schon etwas verflogen zu sein. Console und Notwist ergänzen sich perfekt, auch wenn sie nicht nebeneinander stehen. Mein Radiorauschen hilft ihnen dabei wenig. Mit der Zeit wird die Musik aber stimmiger und bei Song Nummer Drei findet selbst "No Encores" vom Vorgängeralbum "Shrink" zu meiner großen Freude seinen Weg in die Setlist.
"Kann ich mal hören", fragt mich mein Nebensteher während sein Ohr zur Radiobox gleitet. Als er nach den Console-Geräuschen zu "Off The Rails" sucht, ertappt er mich: "Viel hört man ja nicht". Peinlich berührt huscht ein Grinsen auf mein Gesicht, aber der gute Mann hat Abhilfe parat und gibt mir den Tipp, doch mal auf Mono zu schalten. Mitgedacht hat was gebracht, denke ich und sofort verschwindet das Rauschen und endlich kann auch mein Radio seinen Teil zur musikalischen Symbiose beitragen. Danach kann man nur noch das Lautstärkerädchen zum Anschlag aufdrehen und Gretschmann genießen.
Der überzeugt natürlich so, dass es einen nicht länger im Theater hält. Console ruft aus dem Keller und ich folge. Dort unten sitzt er dann in einer rotbeleuchteten Ecke und werkelt. Vor ihm zwei Apple-Laptops und um ihn herum allerlei elektronischer Krimskrams, an denen er mal hier und da ein paar Knöpfchen dreht. Ein Stockwerk höher ist man ihm hilflos ausgeliefert. Gretschmann gibt den Sound vor und die Band muss hilflos folgen. Damit enthüllen Notwist, vielleicht unbeabsichtigt, vielleicht auch gewollt, dass sie inzwischen von Martin Gretschmann abhängig geworden sind. Im Sessel sitzend erkennt man in seinen Laptop-Sounds keinen Notwist-Song. Was die Band oben spielt ist in diesem Moment egal, denn Gretschmann funktioniert hier im Keller ganz wunderbar alleine, was man ein Stockwerk höher sicherlich nicht behaupten kann (diese These sei jetzt mal auf die Songs der neue Platte beschränkt).
Nach 55 Minuten ist dann mit einem langen elektronischen gretschialischen Zerren plötzlich Schluss und zum ersten Mal hört man auch im Keller das jubelnde Publikum aus dem Transport Theater. Unten klatschen nur ein paar wenige Leute.
Die Radioübertragung ist zu Ende. Das Konzert (besser: das Experiment) auch. Und es ist fantastisch geglückt und hat gezeigt, wie Rock heutzutage aussieht: die ursprüngliche Form der Musik lasst sich vom Computer den Weg zeigen. Wer anderes glaubt, den darf man dezent auf einen T-Shirt-Spruch der bayerischen Landjugend hinweisen: "Fuck you, we are from Weilheim".