laut.de-Kritik
Enorm spielfreudiges Edutainment in der Zürcher Roten Fabrik.
Review von Adrian MeyerScheinbar die ganze Hornbrillen- und Lederschuh-Fraktion Zürichs versammelte sich am Sonntag vor den Toren der ausverkauften Roten Fabrik. Die Stammgäste Tocotronic ("Wir sind IMMER hier", wie Sänger Dirk von Lowtzow meinte) traten an, um dem Schweizer Publikum eine erneute Lektion in foucaultianisch angehauchtem Diskursrock zu erteilen.
Vorweggenommenes Resümee der Tocotron'schen Lesung: Selten findet sich jemand, der musikalisches Edutainment besser beherrscht als Dirk, Arne, Rick und Jan aus Hamburg.
Zwischen Melancholie und Wut
Von der Schweizer Tagespresse im Voraus als "Beste Band der Welt" betitelt (sorry, liebe Ärzte), leisteten sie an diesem Sonntagabend, was nur wenigen gelingt: Sie gaben ein nahezu komplettes Konzert. Die Meister des kontrollierten Ausbruchs vermochten die Zuhörenden mit einem perfekten Stimmungsbogen das ganze Konzert hindurch in ihren Bann zu ziehen.
Immer an der Grenze zum (gewollten) Kontrollverlust pendelte die Band zwischen jaulenden Gitarrenfeedbacks und kristallklarem Gesang, Melancholie und Wut, Ernst und Blödeltum – und hatten sichtlich Freude daran, erneut auf Tour zu sein: "Vielen herzlichen Dank. Es macht Spaß", rief Von Lowtzow den Gästen zu. Man glaubte es ihm gerne.
Support Dillon: schwerer Stand
Als Supportband versuchte die Berlinerin Dillon das Zürcher Publikum mit ihrer fantastischen Stimme zu verzaubern. Nur mit Keyboard und zeitweise einem Mitmusiker an der Akustikgitarre gingen die spärlich instrumentierten Songs leider im anhaltenden Gequassel der Konzertgänger unter. "Ihr seid so laut", beklagte sie sich mehrmals - und erfolglos. Es half nichts, die Gäste wollten den R'n'R.
Ob es an Dillons einlullenden Songs oder an der Pseudo-Lässigkeit der Konzert-Szenis lag, so richtig Stimmung wollte beim Publikum in den ersten Minuten allerdings nicht aufkommen - trotz sichtlicher Spielfreude auf Seiten Tocotronics. Vielleicht waren die Leute aber auch einfach nur baff, als Dirk von Lowtzows Bassstimme bei "Eure Liebe Tötet Mich" den Saal erfüllte. "Die Folter Endet Nie" sang die Band dann selbstironisch, bevor schließlich das ganze Publikum lautstark "Aber Hier Leben, Nein Danke" mitskandierte.
Der Sympathie-Bonus steht immer
Einer der Höhepunkte des Abends war der Wechsel von Drummer Arne Zank ans Mikrofon, um eine sympathische Version von "Bitte Gebt Mir Meinen Verstand Zurück" zum Besten zu geben. Sowieso konnten die Zürcher fast nicht anders, als die Band zu mögen. Sympathisch, grundehrlich und mit enormer Leidenschaft: Noch immer präsentieren sich Tocotronic wie die Jungs von nebenan, denen es eine Ehre zu sein scheint, vor so viel schönem Publikum zu musizieren.
Nach einer eindrucksvollen, zweistündigen Darbietung alter und neuer Glanzstücke aus Tocotronics Musiksammlung kam die Band zehn Minuten nach der zweiten Zugabe spontan noch mal auf die Bühne zurück und verabschiedete den nur noch halb gefüllten Saal mit "Pure Vernunft Darf Niemals Siegen".
Und diejenigen Unvernünftigen, die nicht gleich zur Garderobe stürmten, dankten es ihnen mit frenetischem Jubel.