laut.de-Kritik

Als die Geisha from outer space zur Kriegerin mutierte.

Review von

Nachdem Alexander McQueen im Februar 2010 tot in seiner Wohnung in London gefunden worden war, der bedeutende britische Modedesigner litt an schweren Depressionen, erinnerte sich Björk noch einmal an ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem Provokateur McQueen, dem Lady Gaga posthum sogar einen Song widmete: "Fashion Of His Love".

Er war es auch, der das höchst außergewöhnliche Frontcover für Björks drittes Album "Homogenic" gemacht hatte. Björk: "Ich erklärte ihm, dass die Person, die diese Songs geschrieben hat, in einer ausweglosen Situation gefangen ist. So ausweglos, dass sie eine Kriegerin werden muss. Eine Kriegerin, die nicht mit Waffen kämpft, sondern mit Liebe."

McQueen sollte die damals 32-jährige Isländerin, die sich bis dato als mädchenhaftes Mythenwesen inszeniert hatte, tatsächlich in eine Art japanische Kriegerin verwandeln. Eine Geisha from outer space. Björk hatte unlängst ein Faible für japanische Avantgarde entwickelt. Für das Cover ihres Remix-Albums "Telegram" war sie von dem Fotografen Nobuyoshi Araki erstmals als sinnliche Frau in kühlem Blau inszeniert worden.

Und nun also dieses schockgefrorene, hochsymmetrische Selbstbildnis mit dem seltsamen Haarungetüm, angeblich zehn Kilogramm schwer, den durchdringenden Alien-Augen, dem feuerroten Herz auf den Lippen, einem bleiernen Kimono-Gewand, von Eisblumen übersät, und diesen krallig-metallischen Nägeln, die selbst einer Lana Del Rey zu lang gewesen wären.

"Ich wollte, dass die gesamte Emotionalität des Albums in diesem einen Bild steckt", sollte Björk später in einem Interview sagen – angesichts dieser zehn Songs ein geradezu radikaler Gedanke. Dabei werden der kühle Blick und die strenge Körpersprache Björks innerhalb der japanischen Kultur eigentlich als Zustand seelischer Gesundheit gedeutet.

Dass sich eine derart starke Gefühlskontrolle jedoch in der Moderne auch ins extreme Gegenteil, nämlich eruptive Gewalt und schicksalsmächtiges Leid, verkehren kann, zeigt gerade der japanische Film auf oftmals erschütternde Weise. Es ist durchaus möglich, dass sich Björk gerade an diesen sozialpsychologischen Widerspruch heranzustasten versuchte, drohte sie doch im Vorfeld von "Homogenic" an ihrer exponierten Rolle als Islands einziger Popstar zu zerbrechen.

Björk war nach der Auflösung der Sugarcubes 1992 nach London gezogen und hatte sich dort um den Produzenten und Co-Autoren Nellee Hooper, den Film-Surrealisten Michel Gondry ein weitverzweigtes Netzwerk mit audio-visuellen Spezialisten und Visionären aufgebaut, die ihre künstlerischen Metamorphosen in den kommenden Jahren mitentwerfen sollten.

Schon das alternative Dance-Album "Debut" war 1993 ein internationaler Erfolg gewesen, bei den Brit Awards 1994 gewann Björk direkt in zwei Kategorien. Auf dem Nachfolgealbum "Post", das mit "Army Of Me", "It's Oh So Quiet" und "Hyperballad" in England immerhin gleich drei Top-10-Singles generiert hatte, integrierte Björk bereits orchestrale Elemente, Trip Hop und den Warp-Zeitgeist in ihren eklektischen Pop, der schon damals ganz auf sie als leidenschaftliche Solistin zugeschnitten war.

Es ist vor allem die emotionale Temperatur, in der sich das rehäugige "Post" und das deutlich kühlere "Homogenic" voneinander unterscheiden. Björk selbst glaubt, "Post" reflektiere die Gefühle eines Mädchens, das seine Heimat verlässt und in eine neue, unerforschte Welt aufbricht. "Homogenic" handle davon, was sie dort, quasi als Person des öffentlichen Lebens vorgefunden habe – nichts Gutes.

Björk, die bereits eine Ehe mit dem Sugarcubes-Gitarristen Þór Eldon hinter sich hat, muss innerhalb kurzer Zeit gleich zwei gescheiterte Beziehungen verdauen. Nachdem sich die Rivalen Goldie und Tricky in einer Bar einen Hahnenkampf liefern, bleibt sie beschämt allein zurück. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Björk beide Affären auf dem Album aufgearbeitet hat. In "Immature" grollt sie: "How could I be so immature/ To think he would replace/ The missing elements in me". Und im Refrain der Beat-Oper "5 Years" ist sie resigniert: "You can't handle love".

Am Flughafen von Bangkok ohrfeigt sie eine Boulevard-Journalistin, die ihren elfjährigen Sohn anspricht. Und der Fall Ricardo Lopez wird publik. Der Stalker aus Florida hatte Björk, in der er seine Tochter sah, im September 1996 eine Briefbombe zuschickt, die jedoch von Scotland Yard abgefangen wird. In seiner Wohnung wird der 21-Jährige anschließend mit rasiertem Kopf und Kriegsbemalung tot aufgefunden. Ein 20-stündiges Video dokumentiert seine Obession für Björk bis in den Selbstmord mit einer Schusswaffe.

Die Isländerin flieht vor dem plötzlichen Rummel um ihre Person in die spanische Küstenstadt Málaga, wo sie die Arbeit an einem neuen Album mit dem Arbeitstitel "Homogeneous" wieder aufnimmt. Sie setzt Nellee Hooper ab und verpflichtet stattdessen in Markus Dravs, Howie B, Guy Sigsworth und dem federführenden Mark Bell von den britischen Techno-Pionieren LFO eine erlesene Produzentenriege. Die Streicherarrangements stammen von dem brasilianischen Jazz-Musiker Eumir Deodato.

Auch ihrer Heimat und den dortigen Pop-Traditionen wendet sich Björk wieder verstärkt zu. Weihnachten 1996 reist sie nach Island und schreibt dort mit dem Schriftsteller Sjón unter anderem den Song "Jóga", in dem sie von emotionalen Landschaften und Katastrophenzuständen singt. "Homogenic" sollte, so Björk, die beiden wichtigsten Facetten eines modernen Islands widerspiegeln: Die raue, unkontrollierbare Natur mit Vulkanen und Geysiren - und eine hochtechnisierte Gesellschaft.

Natur und Technik werden auch auf ihrem iPad-Album "Biophilia" aus dem Jahr 2011 noch die beiden tragenden Säulen ihres künstlerischen Schaffens sein. Die Björk des Jahres 1997 beschließt einen radikalen Imagewandel. Obwohl sie die Flamenco-Studie "So Broken" im letzten Moment vom Album auf die "Jóga"-Single verbannt, will sie ihre emotionale Zerissenheit in den Lyrics deutlich zulassen. Allerdings nur um den Preis einer starken Schutzhülle.

Das Mädchen Björk tanzt also davon und kehrt erst in der tragödischen Rolle der Selma in Lars von Triers "Dancer In The Dark" kurzzeitig zurück. Es folgt die Reinkarnation als Kriegerin, als bedächtige, zischende Jägerin, die bereits im sinistren Eröffnungsstück "Hunter" einer Lebenslüge abschwört: "Thought I could organise freedom/ How scandinavian of me"-

Eine unwirklich extrovertierte Björk auf dem Cover verkörpert auch die sonischen Extreme von "Homogenic" vortrefflich: Satte, fast cinematographische Streicherarrangements des Icelandic String Octet beißen sich zunächst scheinbar mit den hypernervösen Hightech-Beats der britischen Intelligent Dance Music (IDM), die Mitte der 90er Jahre eine der wenigen revolutionären Zellen internationaler Popmusik gewesen war.

Dass in dem experimentellen, ganz und gar nicht kitschigen Crossover aus Klassik, IDM und den archaischen bis theatralischen Exorzismen Björks eine tiefere, zeitlose Wahrhaftigkeit verborgen sein könnte, erschloss sich vielen treuen Fans erst auf den zweiten oder dritten Anblick. Dabei funktioniert das Album bei aller vulkanischen Divergenz, die für eklektische Pop-Produktionen der Gegenwart selbstverständlich ist, gerade wegen der Einfachheit seiner Songs wie ein Pop-Album.

In der fantastischen Miniaturballade "Unravel", die Thom Yorke als sein Lieblingslied bezeichnet hat, sind ein pochender Rhythmus, ein hin und her spulender Loop und verwehte Bläser nichts weiter als das unaufdringliche Bühnenbild für die Schauspielerin Björk, die mit großer Geste am janusköpfigen Wesen der Liebe verzweifelt.

Obwohl "Homogenic" gerade als ästhetischer Großentwurf eine immense Sogwirkung entwickelt, lassen sich jedoch zwischen den Zeilen weitere Hits ausmachen: die orchestrale Pop-Parabel "Bachelorette", "Alarm Call" mit seinem beschwingten Hip-Hop-Beat und der schroffe Electro-Punk von "Pluto".

Im abschließenden "All Is Full Of Love", das wegen Chris Cunninghams filmischer Utopie eines Roboter-Liebesspiels zu einem der Klassiker der MTV-Ära wurde, wiederholt Björk inmitten einer Versuchsanordnung mit umprogrammierten Geigen und einer elektronisch zirpenden Heuschreckenherde unaufhörlich ein grenzenlos romantisches Mantra, das einem inneren Abschied von der Figur der Kriegerin gleichkommt: Die Liebe, sie ist überall!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Hunter
  2. 2. Joga
  3. 3. Unravel
  4. 4. Bachelorette
  5. 5. All Neon Like
  6. 6. 5 Years
  7. 7. Immature
  8. 8. Alarm Call
  9. 9. Pluto
  10. 10. All Is Full Of Love

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25 Kommentare

  • Vor 11 Jahren

    Yep! Meilenstein! Jetzt ist mir Bjork auch zu anstrengend...Mag aber auch daran liegen, dass die karge Freizeit/Ruhezeit ohne Kinder etwas flacher gefüllt werden will.
    Aber die ersten 4 Alben sind schon großartig. Und Homogenic ist wohl die beste Ihrer Platten...

  • Vor 11 Jahren

    Yep! Meilenstein! Jetzt ist mir Bjork auch zu anstrengend...Mag aber auch daran liegen, dass die karge Freizeit/Ruhezeit ohne Kinder etwas flacher gefüllt werden will.
    Aber die ersten 4 Alben sind schon großartig. Und Homogenic ist wohl die beste Ihrer Platten...

  • Vor 7 Jahren

    Absolutes Meisterwerk. Nach dem ich das erste mal 'Pluto' angehört hatte brauchte ich erst mal ne Pause damit ich keinen Herzkasper bekomme und die gefühlvollen, emotionsgeladenen Stücke schlagen auch ein wie eine Bombe.