laut.de-Kritik
Was reimt sich auf verschicken?
Review von Michael SchuhEin Livealbum der Ärzte mit allen Hits drauf. Zu schön um wahr zu sein. Aufgeregt lief ich zu meinem Freund aus der Nachbarschaft oder er zu mir, weiß ich nicht mehr genau. Verbreitung konnte diese Neuigkeit jedenfalls nur durch die Bravo, Popcorn oder "Formel Eins" gefunden haben, viel mehr Informationsquellen standen mir 1988 in Südbaden nicht zur Verfügung. Doch bald tauchte ein neues Problem am Horizont auf: 3 LPs bzw. 3 Kassetten? Wer sollte das denn bezahlen können?
So wurde eine wunderbar bescheuerte Idee geboren: Mein Freund und ich legten zusammen, jeder rund 15 Mark. Ein Monatstaschengeld für eine gemeinsame Anschaffung. Klang fair. Doch das war nicht die ganze Wahrheit. Einer bekam zwei Platten, der andere die dritte und die beigelegte Bonus-Single "Der Ritt auf dem Schmetterling" ("Geschwisterliebe" akustisch). Hatte man dann die ersten zwei Alben, wollte man unbedingt die Sprüche-Seite auf dem dritten Vinyl hören und wenn man die hatte, fehlten einem praktisch alle Hits. Man war nie zufrieden. Die Freundschaft hielt danach nicht mehr lange, aber warum sollte es einem besser ergehen als Farin und Bela?
Wunderbar bescheuert: So könnte man auch die erste Ärzte-Karriere von 1982 bis 1988 zusammenfassen, die dem gigantisch ausgelebten, zu anfangs noch völlig substanzlosen Größenwahn mit der Band-Auflösung zum kommerziell ungünstigsten Zeitpunkt die Krone aufsetzte. Die ganze Welt (außer Russland) hat Bela und Farin geliebt. Als sie so jung auseinander gingen, waren alle Menschen betrübt. Denn ihre radikal anarchische Auflehnung gegen jegliche Erwartungshaltungen und sittlichen Gepflogenheiten in Musik, Text und Gestus schien irgendwie gar nicht in diese bleiernen 80er Jahre zu passen und zog wahrscheinlich daraus seine Faszination.
Schon ihre frühen Auftritte waren Demonstrationen jugendlichen Irrwitzes jenseits bekannter Stereotypen. Ein dilletantisches, oft makabres, noch öfter infantiles, jedenfalls bewusst albernes Entertainment-Kabarett erteilte dem dogmatischen Szenegehabe der true Punks eine klare Absage. Wie überall rief der Erfolg Neider auf den Plan, vor allem alte Weggefährten. Deutschpunks krakeelten Verräter und Bravo-Punks.
Das Charts-Establishment beachtete die vermeintlichen Kasper erst gar nicht. Schließlich sangen Die Ärzte in diesen hoch politischen Zeiten nicht gegen die Startbahn West oder Atomkraftwerke, sondern über Teddybären und Vollmilch. Lebensmotto: Uns geht’s prima! Wie soll man so etwas ernst nehmen? Eine Überschrift in den Westfälischen Nachrichten aus dem Jahr 1987 lautete: "Die Kinderärzte aus der Schwachsinnsklinik".
Doch es kam der 27. Oktober 1988, der Tag der Abrechnung. Bela und Farin programmierten längst ihre Zukunft, kamen aber noch einmal auf die Erde zurück, um alle Hater endgültig zu terminieren. Die Schar der Ungläubigen, darunter Behörden, Stadtverwaltungen, Frauenorganisationen und zahlreiche Medien erfasste eine Sintflut, deren biblische Ausmaße nicht einmal die Schöpfer vorhersehen konnten. Die Livescheibe wurde zum bis dato einzigen Dreifach-Album, das jemals Platz eins der deutschen Albumcharts erreichte. Von einer Band, die sich bereits aufgelöst hatte. Besser kann Rache vermutlich nicht schmecken.
Das Ärzte-Label CBS, anfangs noch in Panik ob der Band-Forderung eines derart üppigen Formats, hoffte zunächst auf Verkaufszahlen um die 40.000. Binnen kürzester Zeit setzte "Sintflut" 250.000 Stück ab. Das erste Gold-Album für Die Ärzte. Legendär ist der Anruf Peter Maffays bei der Grafikagentur, die damals auch Die Ärzte betreute. Der Deutschrocker wollte wissen, "wie so eine Scheiße auf Platz eins geht."
Es steht zu vermuten, dass sich der Siebenbrückensänger aus Siebenbürgen an den vorgeblichen Meistern der Sittenverrohung störte, die nach der Indizierung der Alben "Debil" und "Die Ärzte" durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften ab 1987 landesweit (schlechte) Presse erhielten. Das ist sein gutes Recht, man muss die Ärzte-Texte nicht mögen, so ist das mit der Kunst. Als Profimusiker, der Maffay 1988 zweifellos schon war, würfe es allerdings ein fragwürdiges Licht auf ihn, hätte er damals die musikalische Vielfältigkeit des Trios verkannt.
"Nach uns die Sintflut" zeichnet den wahnwitzigen Stil- und Zitatemix der vorhergehenden Alben nach, nur alles in fast doppeltem Tempo. Die Dreifach-Chöre à la Dion & The Belmonts in "Mädchen" und die lupenreine Rock'n'Roll-Verbeugung vor Chuck Berry beim finalen Riff, die Beatles-Harmonien in "Buddy Holly's Brille", Beethovens "Freude schöner Götterfunken" als C-Teil in "Frank'n'Stein", das "You Really Got Me"-Riff am Anfang von "Dein Vampir", zackiger Rockabilly ("Sweet Sweet Gwendoline", "Sie Kratzt"), oder schlicht der allumfassende Sunshine-Poppunk, der den Geist der Undertones mit ein paar Spritzern Stray Cats atmete. Das gabs nur einmal, das kommt nie wieder. So dachte man jedenfalls noch 1989.
Doch man konnte das Phänomen Die Ärzte nie unter Ausschluss ihrer Texte diskutieren, was die Protagonisten später in ihren englischsprachigen, frappierend erfolglosen Soloprojekten noch zu spüren bekamen. Es gab in den 80ern einfach keine andere Band, die es schaffte (oder die die Notwendigkeit sah), zwei so unterschiedliche Personen wie Jutta Ditfurth und Theresa Orlowski in einem Song unterzubringen. Getreu der Maxime: Kein Niveau, das sich nicht lohnte, unterschritten zu werden. Was reimt sich noch mal auf verschicken?
Einen ähnlichen Hang zu kruder Absurdität kannte man damals höchstens noch von Trio, deren Brillanz aber früh versiegte. Es gab später musikalisch und aufnahmetechnisch bessere Ärzte-Livealben ("Wir wollen nur deine Seele", 1999), doch "Nach Uns Die Sintflut" ist die Mutter aller Livescheiben, ein 100-minütiges Fun House, das zum Monolith des deutschen Funpunk-Genres wurde. Schon das Intro zählt großspurig von 10 runter und kündet "Die beste Band der Welt" an, die dann ein leidenschaftliches wie räudig aufgenommenes Livealbum in Ton gießt.
Viele Töne sitzen nicht da, wo sie hingehören, aber hauptsache Party. Und es fehlt halt auch kein Hit (bis auf "Käfer" vielleicht). Kurios: Bela musste seinen Gesang nachträglich im Studio noch mal neu aufnehmen, da die Qualität seines drahtlosen Mikrofons auf Sylt einfach zu mies war. Hat nie jemand gemerkt, denn sein Studio-First Take entspricht den Live-Bedingungen.
Ob ich seine dunklen Vampir-Fantasien generell so anziehend fand, weil die "Der kleine Vampir"-Verfilmungen mit Gert Fröbe meine Kindheit prägten, ist nur einer von vielen Erklärungsansätzen. "Alleine In Der Nacht" ist auch eine Bela-Nummer. Schon mit dem Songtitel konnten sich sicher 95% aller pubertären, männlichen Ärzte-Fans zu 105% identifizieren. Dazu fand ich den Plot ungeheuer faszinierend, weil (bis auf den Whiskey) äußerst lebensecht: Wie da jemand in einer Kneipe (bei mir freilich kirchlicher Jugendtreff) das Objekt seiner Begierde erblickt, diese ihm aber keinerlei Beachtung schenkt. Wie sie dann von einem anderen angequatscht wird. Bis hierher schon eine Preziose aus Verlangen und Fatalismus, den emotionalen Triebfedern jugendlichen Heranwachsens.
Auch die nun folgende, komplett irrationale Wendung der Story erschien mir damals absolut logisch: Nachdem er das Mädchen bekommt und sie auf dem Motorrad heimbrausen, werden sie von der Polizei gestoppt, die in ihr eine gesuchte Bankräuberin erkennt, ergo: Der Typ ist "sieben Jahre lang allein". Welch Teenie-Melodram. Die großen Hits stammen dagegen meistens vom großen Blonden: "Zu Spät", "Teenager Liebe" oder "Westerland". Öfter gehört als die Standpauken der Eltern.
Die letztlich zur Band-Trennung führenden Schreibblockaden manifestierten sich vereinzelt schon in Songs des Abschlussalbums "Das ist nicht die ganze Wahrheit". So klangen "Popstar" und "Siegerin" im Vergleich mit älteren Stücken eher nach eindimensionalem Bubblegum-Hardrock, und obendrein schienen die Ärzte von der plötzlichen Starwerdung so ergriffen, dass sie sich diesem Thema gleich doppelt widmeten.
"Madonnas Dickdarm", eigens für die Abschlusstour von Bela, Farin und The Incredible Hagen komponiert und eine Art zusammenhangloses Text-Brainstorming, scheißt endgültig auf einen roten Faden und ist so etwas wie der songgewordene Bruder der Sprüche-Seite. Hüben wie drüben passt zwischen Gut ("Und wenn es einmal soweit ist / will ich auf meinem Skateboard sterben") und Böse ("Ich wär gern Gynäkologe / ja dann hätt ich viele Frauen") oft kein Blauer Brief. Sogar Schillers "Glocke" muss für eine Strophe herhalten.
Die eventuell von Freddie Mercury übernommenen Echo-Spiele mit dem Publikum waren damals revolutionär. Bela ließ die Fans Sätze nachgrölen wie "Ich schwöre, niemals eine andere Band außer den Ärzten zu hören" und schickte sie danach zum T-Shirt-Stand. Die auf 18 Minuten zusammengeschnittene Sprüche-Seite mit ihren Bühnenansagen, nun ja, heute kann man sich das nicht mehr geben. Ebenso das "Highway To Hell"-Cover "Ich Bin Wild" - es gibt Dinge, die funktionieren nur im entsprechenden Zeitgefüge.
Und trotzdem: Der Abend des 9. Juli 1988 hallt bis heute nach. Ein Abschlusskonzert auf einer Ferieninsel, sechs Jahre nachdem man sich im Berliner Rentnerparadies Spandau getroffen hatte, da schloss sich ein Kreis. Die Westerland-Show war seinerzeit eines ihrer längsten Konzerte, zwei Stunden und dann noch mal eine Stunde Improvisieren und wildes Herumcovern (Lüde & Die Astros, Die Toten Hosen). Viele Weggefährten im Publikum: Rocko Schamoni, Mimmis-Fabsi, Die Goldenen Zitronen und ein gewisser Rodrigo Gonzalez.
Bei der Aftershow-Party soll Fabsi gleich losgeheult haben: "Jetzt gibt's nur noch die Hosen". So sah das auch Farin Urlaub, der sofort auf Campinos Idee ansprang: Der Hosen-Sänger wettete mit dem Berliner um 1000 DM, dass Die Ärzte ihren Entschluss keine fünf Jahre durchhalten würden. 1993 fand Campino einen Brief in der Post, ohne jeglichen Kommentar, Inhalt: ein Tausender.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
44 Kommentare mit einer Antwort
\m/
Ja!
schöne Rezi!
Vielleicht liegt es daran das ich ein Kind der 90er bin und ich die Alben der Ärzte mehr oder weniger rückwärts, als von Neu zu alt gehört habe, aber ich finde die 80er Periode einen Tick besser, weil anarchischer und ausgeflippter als das spätere Zeug. Das tut der Musik gut und passt einfach ins Konzept. Außerdem ist das selbstbetitelte "Die Ärzte" bis heute das beste Album der Ärzte, knapp vor der 13 (kleine Anmerkung: "Die Ärzte" ist übrigens bis heute die einzige Ärzte-Scheibe auf dem Index, Geschwisterliebe hält sich wacker ).
Das Westerland manchmal im Formatradio neben Bon Jovi und Robbie Williams läuft - geschenkt, setzt dem Sarkasmus des Songs fast das i-Tüpfelchen auf.
super Sache, die Ärzte haben für ihr frühes Schaffen diesen Meilenstein verdient. Was hab ich die in den 80ern gefeiert!
Ganz ehrlich; Rod ist bei den Rainbirds nicht so recht aufgefallen- ein guter Gitarrist, aber die Rainbirds spielten auch auf einem sehr guten Niveau generell. Bei Depp Jones auch nicht so recht. Aber bei den Ärzten erkennt man deutlich Rods Handschrift; sie haben seit seinem Einstieg einen derartigen Sprung in der Qualität der Songs, im Sound und im Niveau des Vortrags, da kann man nur den Hut vor ihm ziehen. Vermutlich spielt er auf den Alben sämtliche wichtige Gitarren- und Bassparts- was ja nicht verkehrt ist. Sagt Farin ja auch selbst. Für ihr Image und die Ärzte PR war natürlich dieses Album sehr wichtig; als Album meiner Wahl wäre da eines mit Rod, zB le Frisur.