laut.de-Biographie
Die Ärzte
Die lange und ereignisreiche Geschichte der Ärzte beginnt 1980 in Berlin: der Dekorateurslehrling Dirk "Bela B." Felsenheimer trifft auf Gymnasiast Jan "Farin Urlaub" Vetter im Punkschuppen Ballhaus Spandau. Jan steigt als Gitarrist bei Dirks Band Soilent Grün ein, doch Anfang '82 zerbricht die Band. Hauptgrund ist die von Jan und Dirk entwickelte Idee, anstatt immerzu Staat und System anzuprangern, lieber den Humor in den Punkrock zu holen.
Ein grandioser Wurf: Mit dem von der Band Frau Suurbier abgeworbenen Basser Hans "Sahnie" Runge werden Die Ärzte gegründet und erste Songs wie "Zum Bäcker" und "Vollmilch" erscheinen auf dem Punkrock-Sampler "Ein Vollrausch In Stereo" und vier weitere Frühnummern kommen auf die EP "Zu schön um wahr zu sein". Songs, die bis heute unveröffentlicht geblieben sind, hören auf solch furchterregende Namen wie "Jack Der Schlitzer" oder "Eva Braun" (sic!). Das erste Ärzte-Konzert findet am 26. September 1982 im "Besetzereck" statt, einem besetzten Haus in Berlin.
Dem selbstgesteckten Ziel, Millionen von Mädchenherzen zu erobern, kommen Die Ärzte 1984 mit dem Gewinn des Berliner Senatsrockwettbewerbs und der anschließend veröffentlichten Mini-LP "Uns Geht's Prima", ein Stückchen näher. Die CBS nimmt die jungen Wilden unter Vertrag und veröffentlicht Ende 1984 die später indizierte LP "Debil" und die Single "Paul".
Dennoch reicht der Bekanntheitsgrad der Band kaum über die Stadtgrenzen Berlins hinaus. Erst als die Jugendzeitschrift Bravo "in einer Art Sommerloch" (O-Ton Urlaub) drei Wochen hintereinander Die Ärzte zum Thema macht, sprechen plötzlich auch Kids auf Schulhöfen außerhalb der späteren Hauptstadt über die Nonsens-Brüder. Dadurch entsteht die bizarre Situation, dass die Band nun von der Öffentlichkeit als echte Popstars wahrgenommen wird, die Mitglieder aber noch immer in abgerissenen Löchern hausen und "jeden Tag Fischstäbchen essen" (Bela B.). Geld verdienen sie zu jener Zeit eigentlich nur mit Konzerten, weshalb man auch ständig auf Achse ist.
Anfang 1986 hat sich die Band bereits einen beachtlichen Fankreis erspielt, was ihrem Bassisten Sahnie deutlich zu Kopf steigt; dieser will nur noch des Geldes und der Groupies wegen auftreten und halluziniert öffentlich von PR-Auftritten in Limousinen und Playback-Shows, zu viel für Bela und Farin. Sahnie fliegt aus der Band und hat somit wieder genügend Zeit für sein BWL-Studium.
"Die Ärzte" wird 1986 als Duo aufgenommen und der Bassist Hagen Liebing von der lokalen Band The Nirvana Devils als Livemusiker engagiert. 1987 tritt die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften ins Leben der Ärzte und indiziert "Geschwisterliebe" und nachträglich die "Debil"-Songs "Claudia hat 'nen Schäferhund" und "Schlaflied". Bei Konzerten umgehen Die Ärzte das Aufführungsverbot, indem sie die Lieder anspielen und das Publikum singen lassen.
Über Nacht steigt die Band zur Kultband auf, deren (verbotene) Songs plötzlich jeder Jugendliche besitzen muss. Erstmals fallen Mädchen in den ersten Reihen von Ärzte-Konzerten in Ohnmacht und die Band spielt vor ausverkauften Häusern. Presseberichte über die indizierten Songs und der Wirbel um eine Uwe Barschel-Bemerkung beim München-Konzert heizen den Hype weiter an.
Für die damalige TV-Sendung "Live aus dem Alabama" im Bayerischen Rundfunk (mit Moderator Günther Jauch!) spielt das Trio ein Konzert und hält sich nicht an die mit der Sendeleitung vereinbarte Abmachung, schön brav zu sein. Vor "Geschwisterliebe" warnt Farin nach einem ironischen Schlagabtausch mit Bela die Fans: "Singt dieses Lied nicht, Uwe Barschel hat es gesungen und ihr wisst, was aus ihm geworden ist!". Der Bezug auf den tags zuvor tot aufgefundenen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten gerät zum Skandal, Günther Jauch entschuldigt sich schmallippig und selbst Edmund Stoiber, Leiter der bayrischen Staatskanzlei, rügt den Sender.
Während der "Wahrheit"-Tour beschließt die Band, am 9. Juli 1988 auf Sylt ihr Abschiedskonzert zu spielen (ein allerletzter Playbackauftritt findet am 28. August in Straßburg statt). 1993 verraten Bela und Farin, dass auch Kreativitätsprobleme die Entscheidung beeinflusst hätten. Die daraus resultierende 3-LP-Livescheibe klettert bis auf Platz 1 der deutschen Verkaufscharts. Von 1988 bis 1993 versuchen sich Farin und Bela mit den erfolglosen Bands King Kong und Depp Jones und beschließen 1993 mit Ex-Rainbirds/Depp Jones-Bassist Rodrigo Gonzalez den Neuanfang. Für das Album, das später als "Die Bestie In Menschengestalt" erscheinen soll, geben die Berliner nach Beendigung der Aufnahmen eine ganzseitige Anzeige im Musik-Branchenblatt "Musikmarkt" auf: "Die beste Band der Welt sucht Plattenfirma". Metronome erhält den Zuschlag. Das Comeback-Album übertrifft sämtliche Erwartungen und die Band spielt in jeder Stadt ein bis zwei Zusatzkonzerte.
"Schrei Nach Liebe" ist 1993 der Song, den Deutschland braucht. Plötzlich ist alles anders. Von den gewalttätigen Übergriffen auf Ausländer in Hoyerswerda, Rostock und Solingen angewidert, schreiben Die Ärzte erstmals einen politischen Text, der nicht deutlicher ausfallen kann. Farin Urlaub vertiefte während der Ärzte-Pause seine Liebe zur straighten Stromgitarre, deren Sound die Band nun deutlich prägt. Zuerst weigern sich die Radiosender "Schrei Nach Liebe" aufgrund der "Arschloch!"-Ausrufe zu spielen. Nachdem der Hessische Rundfunk Botschaft über die eigene Spießigkeit stellt und nach und nach alle weiteren Sender folgen, entwickelt sich der Song zum bis dato größten Hit der Band und zu ihrem Aushängeschild.
Ex-Basser Hagen, der sich mittlerweile als Berliner Journalist verdingt, ist derweil von seiner Nichtberücksichtigung schwer enttäuscht. 2002 kommt es zur Live-Reunion beim Ärzte-Geburtstagsfest "15 Jahre netto" in Berlin, wo er für "2000 Mädchen" auf die Bühne kommt. 2003 verarbeitet der Ex-Bassist seine Zeit mit der Band im Buch "Meine Jahre mit Die Ärzte". 13 Jahre später stirbt Hagen Liebing mit nur 55 Jahren an den Folgen eines Hirntumors. Seine Rolle wird in Stefan Üblackers Bandbio "Das Buch Ä" (2016) noch einmal angemessen gewürdigt.
Die Ärzte toppen mit Rod ihre eigenen Erfolge aus den 80ern - in Sachen Platten-, Konzert-, und sicher auch Merchandiseverkäufen, ohne sich dabei dem Verdacht des Konsumverrats auszuliefern. Sie geben Konzerte in 500-Mann-Clubs unter falschem Namen und informieren ausschließlich Fanclubmitglieder, sie verkaufen im Handel nicht erhältliche EPs auf Konzerten (1995 die EP "1,2,3,4 Bullenstaat") und stehen beim Abschlusskonzert der "Attacke Royal"-Tour 1998 im Kölner E-Werk geschlagene drei Stunden und 43 Minuten auf der Bühne.
"Männer Sind Schweine" vom Erfolgsalbum "13" gerät 1998 zu ihrem ersten Nummer Eins-Hit. Deutschlands größter Boulevardzeitung verweigert die Gruppe nun noch genüsslicher jedes Interview und kümmert sich stattdessen um eigene Interessen. Etwa dem Verfassen einer drei Kilo schweren Bandbiographie namens "Ein überdimensionales Meerschwein frisst die Erde auf".
Auch Soloaktivitäten stehen bei allen drei Mitgliedern hoch im Kurs und füllen fortan die Pausen zwischen Aktivitäten der Ärzte. Im Spätsommer 2002 ziehen die Berliner nach Grönemeyer und den Fanta Vier als dritte deutsche Band für MTV den Stecker ("Rock'n'Roll Realschule").
"Geräusch" wird 2003 das erste Studio-Doppelalbum ihrer Karriere, 2005 erscheint das einstmals indizierte "Debil"-Frühwerk als "Devil" und unter dem Motto "Ärzte statt Böller" feiert die Band am 31. Dezember 2006 im Kölner Rhein Energie-Stadion mit den eigenen Fans Silvester.
Längst zählen Die Ärzte zu den beliebtesten Bands der Republik, die auch nach mehrjähriger Auszeit aus dem Stand die größten Hallen ausverkaufen. So lassen sie zwischen den Alben "Jazz Ist Anders" und "Auch" ganze fünf Jahre ins Land ziehen. Der Titel ihrer 2012er Tour lautet zwar gewohnt großspurig "Das Ende ist noch nicht vorbei". Trotzdem spricht danach einiges fürs Gegenteil. Das Trio geht wieder seiner eigenen Wege, Farin und Bela veröffentlichen Soloalben, Rod produziert andere Bands und dreht die Musikdoku "El Viaje".
Schlagzeilen macht die gemeinsame Band Die Ärzte in dieser Zeit ohne das Zutun ihrer Mitglieder. 2015 ruft der Musiklehrer Gerhard Torges nach Übergriffen auf Asylbewerberheime die "Aktion Arschloch" gegen Fremdenfeindlichkeit ins Leben. Ziel: Den Ärzte-Song "Schrei nach Liebe" über diverse Aufrufe in den Sozialen Medien wieder an die Spitze der Charts zu bringen. Schnell berichten zahlreiche Medien über die Idee, einige Radiosender spielen den Song mehrfach hintereinander. Tatsächlich landet der Anti-Nazi-Klassiker von 1993 dadurch erstmals (!) auf Platz eins der deutschen Singlecharts, pikanterweise vor einem neuen Song der Böhsen Onkelz, die im Text von "Schrei Nach Liebe" erwähnt werden.
2016 stirbt Ex-Bassist Hagen Liebing im Alter von 55 Jahren. Seine Ex-Kollegen gedenken ihm in einem Nachruf: "'The incredible' Hagen Liebing ist gestorben. Wir sind sehr traurig! In einer kurzen, aber nicht unwichtigen Phase seines Lebens war er Bassist der besten Band der Welt. Nie wird jemand den Song '2000 Mädchen' schöner ansagen können, als er es tat - so viel steht fest. Er war ein Mensch mit einem unfassbar guten Musikgeschmack und vor allem ein wunderbarer Musikjournalist, der besonders den Berlinern sehr fehlen wird. Und uns sowieso. Unser Mitgefühl gilt jetzt besonders seiner Familie."
Im selben Jahr treten Farin, Rod und Bela spontan und unangekündigt auf Einladung von Madsen beim "Jamel rockt den Förster–Festival für Demokratie und Toleranz" in Mecklenburg-Vorpommern auf und spielen - natürlich - "Schrei nach Liebe". Für viele ein genialer Schlusspunkt unter eine einmalige Karriere. Doch nicht mit der Besten Band der Welt: Die Ärzte sind noch lange nicht bereit fürs Altenteil. Nur einen Tag nach dem Rock am Ring-/Rock im Park-Festival-Wochenende 2018 wird bekannt, dass Die Ärzte 2019 exklusiv beim Zwillingsfestival auftreten werden (sowie in der Schweiz beim Open Air St.Gallen und in Österreich beim Novarock). Inwieweit in diesen Coup ein neues Studioalbum involviert ist, weiß vorerst niemand, die Chancen dürften aber alles andere als schlecht stehen.
Zumal das Trio wieder ordentlich Gas gibt: Vor den Open Airs geht man im Mai 2019 auf Clubtour im Ausland und veröffentlicht außerdem die Megabox "Seitenhirsch" mit dem eigenen Gesamtwerk auf 33 CDs. Darin befinden sich sämtliche Die-Ärzte-Alben, Singles und B-Seiten sowie Songs aus der Entstehungsphase der Band, darunter seltene Tracks, bislang unveröffentlichte Demos und rare Studioaufnahmen sowie neue Interviews und Fotos. Besonders interessant dürfte ein nie veröffentlichtes Album auf englisch sein. "They've Given Me Schrott – Die Outtakes" beinhaltet ausschließlich das unveröffentlichte Bonusmaterial der Box, so dass alle Fans angemessen bedient sind. Auf der Clubtour verraten die Drei auch, dass ein neues Studioalbum zu erwarten sei, wovon kurz darauf auch die Songs "Abschied" und "Rückkehr" künden.
Die für November und Dezember 2020 geplante, im Handumdrehen ausverkaufte "In The Ä Tonight"-Tour durch die größten Hallen in Deutschland, Österreich und der Schweiz verschiebt sich coronabedingt zunächst auf 2021. An der geplanten Album-Veröffentlichung ändert das Virus aber nichts. Mit den neuen Songs "Morgens Pauken" und "True Romance" steigern die Berliner die Vorfreude. Der "Auch"-Nachfolger hört auf den Namen "Hell" und erscheint am 23. Oktober. Inhalt: 18 neue Songs auf 61 Minuten.
Hoffnungen auf eine große Live-Sause müssen aber trotz der anlaufenden Impfkampagne weiter nach hinten verschoben werden. Die auf 2021 verschobene Tournee kann erneut nicht stattfinden und wird letztlich abgesagt. Als Trostpflaster erscheinen im September schon wieder neue Songs: Der "Hell"-Nachfolger" nennt sich "Dunkel" und enthält sogar einen Song mehr. Live kann man die Band wohl Mitte 2022 sehen: Die "Buffalo Bill in Rom-Tour" findet an der frischen Luft in Stadien statt.
1 Kommentar mit 3 Antworten
wie findets ihr die neue single vong den ärzten : weltuntergang
ähnlich wie deine postings: bescheiden
Die neue Single der Ärzte ist genial, Banause
ZaphodB reg dich nicht auf, Sodhahn ist das was man einen klassischen Wutbürger nennt