laut.de-Kritik
Ein Fall für die Klangforschung: Hochdruck auf 3x5 Metern.
Review von Matthias MantheEine einfache physikalische Formel lautet p=F/A. Der Wert p beschreibt den Druck und entsteht aus dem Verhältnis Kraft F zu Fläche A. Je stärker eine Kraft und je kleiner eine Fläche, desto größer der resultierende Druck. Die Analogie aus leistungsfähiger Beschallungsanlage und kleiner Venue greift aber als Erklärungsansatz für 65daysofstatics überwältigende Darbietung an diesem Frühsommerabend zu kurz.
Die hochdruckgeschuldete Schneise der Verwüstung, die die Drum'n'Glitch-Heroen überall auf ihrer ersten Deutschland-Visite hinterließen, grenzt nämlich an physikalischen Irrsinn. Die Wissenschaft versagt angesichts der Transzendenz zweier Gitarren, Schlagzeug und Bass. Mit sechs Saiten weniger, Gesang und auf gänzlich anderem Terrain agiert hingegen die Vorband. Matt Boroff, gebürtiger Amerikaner und Vorarlberger der Liebe wegen, verlegt das Blue Shell eine unterhaltsame Dreiviertelstunde lang in siedenden Wüstensand.
Boroff setzt haufenweise Reminiszenzen an die seligen Neunziger. Tito & Tarantula lauern hinter jeder Ecke und ein latent psychopathischer Drummer in der Bühnenmitte. Der spielt sich zu Boroffs Erzählungen über "instant penetration" entweder beinahe selbst vom Hocker oder inspiziert ausführlichst die Steckdose an der Decke, was wohl auf den zeitnahen Gebrauch halluzinogener Substanzen zurückzuführen sein dürfte.
Anschließend wird es hektisch. Offenbar haben die Sheffielder die 3x5 Meter Raum für ihre ganz spezielle Druckerzeugung völlig falsch eingeschätzt, so etwas wie ein Hinterzimmer existiert vor Ort gar nicht - weshalb der Tourroadie den Gitarrenkoffer kurzerhand ins Publikum verfrachtet. Überhaupt wirken einige Bandmitglieder nervös: Während sich Schlagzeuger Rob Jones die Handballen massieren lässt und meditiert, zeichnet Leadgitarrist Joe Fro so manches Kreuzzeichen. Als endlich sämtliche Effektgeräte fußbereit liegen, heulen die flirrenden Samples des Albumopeners "Drove Through Ghosts To Get Here" auf. Was folgt, ist mit Ekstase noch milde umschrieben.
Wie im Wahn schlägt Fro auf sein Instrument ein, wirft es fiebrig zuckend von sich weg und trifft doch jeden Ton. Bassist Iain Armstrong liegt im Kampf gegen den Wasserverlust bereits nach zehn Minuten hoffnungslos zurück, immer wieder muss er seine Saiten an der clubeigenen Wandverkleidung trocken tupfen. Präzise wie ein Uhrwerk schlägt Jones zu und hält im Wettlauf Mensch gegen Drummachine über 75 Minuten das Unentschieden. Schonungslos. Verlustreich. Gegenwärtig. Die Instrumental-Berserker zerbersten ohne Unterlass vor kaum mehr als 100 Leuten und fluten Kaskaden aufgestauter Energie ins Auditorium. Ein ergreifendes Tête-à-tête von dichter Komplexität und ungezähmter Simplizität.
Im letzten Drittel erzwingen Kopfhörerprobleme wie schon bei vorherigen Auftritten eine Unterbrechung. Damit müsse man eben leben, wenn man von Bill Gates und Microsoft abhängig sei, scherzt das Quartett. "Radio Protector" beschließt etwas später den Husarenritt, dann steigt die Band völlig verausgabt von der Bühne. Für zwei weitere Höhepunkte kommen 65daysofstatic trotzdem zurück. Weil sie gar nicht anders können, weil sie brennen vor Leidenschaft. Die Variable p war mit Sicherheit selten größer als an diesem Abend. Nicht nur deswegen wahrscheinlich das intensivste Konzertereignis 2006.