21. April 2023

"Hip Hop ist ein toller Lehrer"

Interview geführt von

Alfa Mist zählt zu den spannendsten Figuren einer neuen Generation britischer Jazz-Musiker. Auf seinem vierten Album "Variables" verbindet er ausufernde Improvisation, Loop-basiertes Songwriting, Einflüsse aus afrikanischem Folk und gelegentliche Rap-Passagen. Im Interview spricht er über seinen Werdegang.

Alfa Mists Wurzeln liegen in der Londoner Grime-Szene. Sein erstes größeres Release war ein R&B-Album mit der Sängerin Emmavie, er rappt, baut Beats, spielt Klavier, kollaborierte mit Ólafur Arnalds und einem Orchester, hat ein Faible für analoge Aufnahmen und als Produzent die Finger in diversen anderen Projekten, verankert seine eigenen Platten seit Jahren in improvisationsgetriebenem Jazz – und strebt danach, eines Tages Musik für Filme zu komponieren. Es gab also eine Menge zu besprechen, als wir den 31-Jährigen anlässlich seines neuen Albums "Variables" in Berlin zum Gespräch trafen.

Du stellst mit deinem neuen Album "Variables" die Frage, wo du im Moment stehst und wie du dorthin gekommen bist. Fangen wir also dort an: Wie würdest du den aktuellen Stand deiner Musik beschreiben und wie lief die Entwicklung bis hierhin ab?

Alfa Mist: Ich glaube ich befinde mich musikalisch an einem Ort des Selbstvertrauens. Das bedeutet nicht, dass ich vorher kein Selbstvertrauen hatte, aber es wächst jeden Tag in Bezug darauf, wer ich bin und wie stark ich als Person bin. Alle Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe, trugen dazu bei, mich hierhin zu führen. Am Anfang machte ich Hip Hop-Beats. Das führte dazu, dass ich die Quellen der im Hip Hop verwendeten Samples hörte. So entdeckte ich andere Musik und fing an, Klavierspielen zu lernen, um diese andere Musik zu verstehen. Schließlich schrieb ich selbst solche Musik wie die in den Samples. All das führte mich an den Punkt, wo ich heute stehe. Erkundung war der Schlüssel. Und ich werde auch lange nach diesem Album noch nicht aufgehört haben, zu erkunden.

Wie du sagst, liegen deine Wurzeln im Hip Hop, vor allem in der Londoner Grime-Szene. Inzwischen steckst du dagegen tief im Jazz. Das sind auf den ersten Blick zwei ziemlich verschiedene Welten. Welche Parallelen siehst du trotzdem zwischen ihnen?

Als wir damals anfingen, Grime-Beats zu bauen, improvisierten wir mit den uns zu Verfügung stehenden Werkzeugen. Keiner wusste etwas über Musiktheorie. Alle hatten bloß Fruity Loops Studio, Computer und Infrarot auf dem Handy, um Beats auszutauschen. Ich drückte einfach wahllos Tasten und schaute, welche schön zusammenpassten. Ich improvisierte also, ohne zu wissen, was Improvisation ist, und ohne musikalisches Hintergrundwissen. Jazz steht am anderen Ende des Spektrums, funktioniert aber irgendwie ähnlich. Hier hast du so viel über Musik gelernt, du kennst dich bestens in Harmonielehre aus, musst aber trotzdem improvisieren. Wenn du einen Akkord spielst, weißt du nicht, was als nächstes kommen wird. Wie beim Grime kenne ich also nicht den Schritt, den ich als nächstes machen werde. Darin sehe ich durchaus eine Parallele zwischen Grime und Jazz. Beim Grime bezieht sich das vor allem auf die Produktion, vielleicht nicht das letztendliche Feel davon, aber das ist definitiv mein Ansatz: Improvisation.

Elemente deiner Hip Hop-Sozialisation finden sich ja noch immer in deiner Musik wieder. Während du anfangs Jazz gesamplet hast, um Grime-Beats zu basteln, bringst du jetzt Hip Hop-Einflüsse in den Jazz ...

Damals samplete ich Jazz im Grime-Kontext, um die Musik "echter" klingen zu lassen. Ironischerweise machen jetzt wiederum Hip Hop und Grime mich "echt". Wenn ich heute Jazz mache, möchte ich einfach ich selbst sein. Das passiert nicht bewusst. Hip Hop, Grime und all das sind immer noch ein Teil von mir. Würde ich das zurücklassen, ließe ich einen Teil von mir selbst zurück. Es ist auch keine bewusste Entscheidung, Jazz zu machen. Es kommt einfach raus, was rauskommt – kanalisiert aus all den Dingen, die ich absorbiert habe. Früher dagegen wollte ich ganz bewusst andere Musikstile in meinen Hip Hop bringen. Das machte es auch aus. Hip Hop ist ein toller Lehrer in Bezug auf andere Genres – besonders für Produzent:innen. Du suchst nach Samples und begibst dich an die entferntesten Ecken der Erde, um etwas zu finden, das seltsam oder anders für deine Ohren klingt.

Apropos andere Einflüsse: Im Song "Genda" hast du mit einer Phrase gearbeitet, die du als Kind bei deiner Mutter aufgeschnappt hast: "Genda eri". Was assoziierst du damit?

Witziger Fakt über mich – oder vielleicht ist das auch normal für Migrantenkinder: Ich kann kein Wort Luganda sprechen. Das ist die Sprache meiner Mutter, sie stammt aus Uganda. Sie sprach Luganda, als ich aufgewachsen bin, weshalb ich jeden Aspekt der Sprache zwar verstehe, aber nicht sprechen kann. Musste ich einfach nicht. Wir waren ja nicht in Uganda, also musste ich nicht in der Sprache antworten. Die ersten Dinge, die ich in der Sprache lernte waren typische Anweisungen, wie sie Eltern eben geben: "Bring das mal her", "Tu dies, tu das" und "Genda eri" – "Geh weg!" Ich spreche das übrigens nicht mal richtig aus. Ugander:innen würden mich auslachen dafür. Auf dem Song singe ich im Duett mit meiner neunjährigen Nichte. Sie ist also noch eine Generation später als ich und musste die Sprache definitiv nicht mehr lernen. Wir beide singen da mit unseren britischen Akzenten.
"Genda eri" heißt zwar "Geh weg", aber auch wenn ich es als elterliche Anweisung gehört habe, verbinde ich sehr glückliche Erinnerungen damit. "Geh weg" zu einem Kind zu sagen hört sich zwar schlimm an, aber die Art und Weise wie meine Mutter es sagte, war eher spielerisch, im Spaß. So erinnere ich es zumindest. Deshalb habe ich es eingebaut. Es ist eine sanfte Erinnerung daran, woher ich komme.

Du bringst deine Familie damit nicht zum ersten Mal auf ein Album. Dein Debüt "Antiphon" kreist thematisch um Gespräche mit deinen Brüdern, bei "Structuralism" war deine Schwester involviert. Was bewegt dich dazu, deine Familie recht eng in deinen kreativen Prozess einzubeziehen?

Meine Familie ist eine Erweiterung von mir selbst. Ich bringe mich selbst in die Musik ein und sie als Extension. Ich frage sie immer nur nach Dingen wie ihren Ideen über das Leben. Du erfährst nichts über meine Brüder außerhalb ihrer Gedankenwelt. Das gleiche gilt für meine Schwester. Es geht nicht wirklich um ihr Leben und wie sie es leben. Das erzähle ich über mich selbst. Wenn Leute mehr über ihre Leben erfahren wollen, müssten sie mit ihnen direkt sprechen. Aber jeder kann über Konzepte, Philosophie, Ansätze ans Leben und Gedanken zu bestimmten Dingen reden. Solche Gespräche führe ich mit meinen Familienmitgliedern, um herauszufinden, was sie über bestimmte Dinge denken. Denn wie gesagt: Sie sind eine Erweiterung meiner selbst und ich finde es wichtig, zu erfahren, was die Menschen um mich herum denken. "Du bist eine Summe der Leute um dich herum", sagt man doch oder? Mit diesen Menschen bin ich aufgewachsen. Meine Art zu denken und ihre Art zu denken sind zusammengenommenen unsere Art zu denken. Deswegen finde ich es wichtig, das in meine Musik mit einzubeziehen.

"Es war definitiv eine Solo-Schlafzimmer-Reise"

Im Stück "Borderline" thematisierst du deine Herkunft und endest mit der prägnanten Zeile: "Three options: music, sport or crime", um überspitzt die Perspektiven der Jugend in deinem Viertel darzustellen. Welche Rolle spielte deine Familie dabei, dir zu helfen, eine Musikerkarriere zu verfolgen?

Naja, in meiner Familie gibt es sonst gar nicht besonders musikalische Leute. Dafür galt schon immer: Du musst dein eigenes Ding durchziehen. Wenn du eine Ambition hast, arbeite dafür, es zu verwirklichen. Meine Familie hilft mir dabei, einfach indem sie existiert. Sie motivierten mich, meine Leute zu finden und uns aus unserer Situation freizuschwimmen. Es gibt Leute, die in viel schlimmerer Lage stecken, als wir damals, aber Menschen um dich herum zu haben, zeigt dir, dass du alles nicht nur für dich selbst, sondern auch für andere tust. Daher kommt die Motivation, die ich brauchte. Das "Music, sport or crime"-Ding ist eine Mentalität. Wo ich herkomme, sah man nicht sonderlich viele erfolgreiche Leute in anderen Bereichen als Musik, Sport oder eben Kriminalität. Das ist ein Problem der Gesellschaft, nicht unseres. Die Gesellschaft sollte mehr Personen aus unterschiedlichsten Bereichen eine Fläche bieten, gesehen zu werden. So schafft man Motivation, nach etwas zu streben. "Music, sport or crime" war nicht die Realität, aber es wurde aus gesellschaftlichen Gründen zu unserer Mentalität. Wir sind Produkte davon. Darauf bezieht sich "Borderline". Es ist der falsche Weg zu denken. Es ist nicht die Wahrheit. Aber wenn du verwirrt bist und gezwungen bist, zu glauben, diese drei Optionen seien die einzigen die du hast, ist das echt traurig. Das wollte ich ausdrücken. So dachte ich. Das ließ uns die Gesellschaft glauben.

Inzwischen bist du eine der Personen, die als von der Community als Vorbilder gesehen werden können. War aus dieser scheinbaren Sackgasse rauszukommen für dich letztlich mehr ein Gemeinschaftsakt oder ein Alleingang?

Es gab zwar die Grime-Community und Freizeit, Sport und all das macht man zwar in einer Gemeinschaft, aber die Musik die ich jetzt mache, zu machen, wo ich herkomme, wäre unmöglich gewesen. Das war definitiv eine Solo-Schlafzimmer-Reise. Das ist auch Teil meiner Persönlichkeit. Ich gehe nicht sonderlich viel raus. Ich zog mich zurück in meinen Kopf und machte die Musik, über die ich stolperte. Das trieb mich voran. Um atmen zu können, musste ich gewissermaßen diese Musik machen. Es ist meine Version von Selbsthilfe. Ich respektiere meine Community! Aber in Bezug auf meine musikalische Reise gilt definitiv das Einsamer-Wolf-Ding.

Erinnerst du dich noch an die Phase, als du aktiv von Sampling dazu übergegangen bist, die "Samples" lieber selbst zu schreiben?

Das war ungefähr zu der Zeit, als ich einen SoundCloud-Account erstellt habe. Ich hatte einfach keine Lust darauf, Samples rechtlich klären zu müssen. Also machte ich eigene Musik, um nicht die Musik von jemand anderem samplen zu müssen. Das ist zwar eine sehr trockene Sicht darauf, half mir aber, mich in die Richtung der Musik zu pushen, die ich heute mache. Eine alberne Entscheidung wie diese änderte grundlegend, was ich machte, haha.

2020 hast du sogar eine EP mit Soloklavierstücken veröffentlicht – "On My Ones". Besteht die Chance, davon in Zukunft mehr zu hören?

Ja, ich habe vor, das Solopianozeug als "Volumes" zu veröffentlichen – "On My Ones, Vol. 2", "On My Ones, Vol. 3" und so weiter. Vielleicht mache ich das zwischen den normalen Alben. Kommen werden sie definitiv.

Neben deiner Musik betreibst du auch noch ein Plattenlabel, Sekito Records. Hat das mit dem vorhin von dir erwähnten Anspruch zu tun, Leuten aus deiner Community eine Plattform zu geben, sie sichtbar zu machen?

Ja, Sekito ist gemacht für Leute um mich herum, die Talent haben und heimlich Musik machen. Ich möchte ihnen Aufmerksamkeit verschaffen. Ich weiß ja schon, dass die Leute um mich herum großartig sind und möchte sichergehen, dass das auch andere Menschen mitbekommen. Das ist die Grundlage von Sekito. Die nächste Phase ist dann, dass ich komplette Projekte für sie produziere und herausbringe.

Jemand dessen Album du kürzlich auf deinem Label herausgebracht hast, ist der Gitarrist Jamie Leeming, der auch seit Langem auf deinen eigenen Alben spielt – ebenso wie Bassistin Kaya Thomas-Dyke. Wie hat sich eure kreative Beziehung über die Jahre hinweg entwickelt?

Kaya und Jamie sind im Grunde von Beginn an Teil meiner Band. Kaya hat die Artworks für all meine Alben gemacht, spielt Bass in meiner Band und ist außerdem auf jedem Album als Sängerin vertreten. Jamie spielte Gitarre auf jedem meiner Alben, ist Teil meiner Band und genau: ich habe gerade sein Album "Resynthesis" auf Sekito veröffentlicht. Es ist einfach inspirierend, sie als Menschen um mich zu haben. Was sie einbringen, gewissermaßen wer sie sind, fließt durch ihr Spiel am Bass, an der Gitarre, im Gesang. Von kreativen Leuten umgeben zu sein, hilft auch mir, kreativ zu sein.

"Ich hätte auch ein komplettes Rap-Album machen können"

Du gehst immer wieder auch Kollaborationen außerhalb deiner Komfortzone ein, zuletzt etwa mit dem London Contemporary Orchestra sowie Ólafur Arnalds. Siehst du es als Herausforderung, verschiedene musikalische Bereiche zusammenzubringen?

Ja, ich denke es ist eine gute Herausforderung, mit Leuten außerhalb des eigenen, gewohnten Raums zusammenzuarbeiten. Jedenfalls sofern man Interesse an der entstehenden Musik hat. An dem Track von Ólafur Arnalds zu arbeiten war ein super Beispiel dafür. Ich hatte ja vorher schon die Solopiano-EP "On My Ones" veröffentlicht und stehe total auf so etwas, packe von diesem Teil aber eher wenig auf meine normalen Alben. In dieser Richtung möchte ich gerne mehr machen. Man ist irgendwie bloßgelegt...

Mit dem London Contemporary Orchestra zu arbeiten, war wie ein wehrgewordener Traum. Für jemanden, der keine Ahnung hat, wie man Noten liest, ist das Komponieren für Streicher wie das ultimative Ziel. Besonders für mich, da ich gerne irgendwann Filmmusik machen würde. Es ist super, damit konfrontiert zu werden, das hilft dir beim Wachsen.

Ist in punkto Filmmusik schon was geplant?

Nee, ich würde nur gern. Das war schon von Anfang an irgendwie mein Ziel. Ich liebe Filmmusik. Meine Alben sehe ich als Filmmusik für Filme, die nicht existieren. Irgendwann wird das zusammengehen und ich werde Scores für echte Filme schreiben. Das ist mein Ziel, aber momentan arbeite ich an nichts in dieser Richtung.

Hast du lieber die klassische Filmmusik – Streicher, Bläser etc., à la "Der Herr der Ringe" – oder darf es gerne auch moderner sein?

Ich mag beides. Einerseits sowas wie "Der Herr der Ringe" mit großer Motivik, aber andererseits finde ich auch sowas wie Antonio Sánchez' Arbeit für "Birdman" toll. Das war ja ein reiner Schlagzeug-Soundtrack. Ich mag es, wenn Leute ausreizen, wie Dinge klingen sollten, um bestimmte Moods für die jeweiligen Szenen zu erzeugen. Was Hans Zimmer bei "Dune" gemacht hat, mochte ich sehr, zum Beispiel. Er kombinierte Instrumente, die eigentlich nicht so richtig zusammenpassen. Stimmen mit schottischem Dudelsack und so weiter. So entstand dieser außerweltliche Sound. Hans Zimmer ist zwar wahrscheinlich die Pop-Version in Filmmusikkreisen, aber wenn mir Musik gefällt, gefällt sie mir eben. Mich interessiert, wie Musik Emotionen schafft.

Wenn du selbst einen Song schreibst, denkst du aktiv drüber nach, welche Gefühle du damit hervorrufen möchtest?

Es ist schwierig, Leute wirklich etwas fühlen zu "lassen". Aber in Filmmusik kommt man da teilweise ja schon recht nah ran. Es gibt fröhlich klingendes, traurig klingendes und so weiter. Das versuche ich so in meiner Musik eher weniger. Eher will ich einen Mood erzeugen, der verstärken soll, welche Emotionen du auch immer gerade fühlst. Ich kann nicht jemandes Tag komplett drehen, das schafft nicht einmal Musik. Aber ich hoffe, dass die Musik dich auf die ein oder andere Weise bewegt – sei es, um zu helfen, aus einer bestimmten Stimmung herauszukommen oder ein Gefühl zu verstärken. Allein schon zu wissen, das Musik die Kraft dazu hat, ist doch verrückt. Man kann es nicht wirklich erklären oder verstehen. Sowas interessiert mich total.

Deine Alben fühlen sich auch immer wie eine Reise an. Kommt das daher?

Vielleicht. Ich versuche auf einem Album immer, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wenn ich die Tracklist bastle, versuche ich also durchaus eine Art Reise zu konzipieren. Ich versuche, etwas zu fühlen, was man nicht wirklich beschreiben kann. Ich bin nicht so gut darin, mit Emotionen umzugehen – oder besser gesagt: Mir fällt es leichter, in Form von Musik mit ihnen umzugehen. Musik ist mein Vehikel, wenn es darum geht, zu erkunden. Vielleicht fühlt es sich deshalb an wie eine Reise, weil ich dabei selbst eine unternehme.

Wie entstehen deine Songs normalerweise?

Ich schreibe einfach dauernd Musik. Auf "Variables" stehen im Grunde zehn Songs, die allesamt eine eigene Richtung repräsentieren, die in die ich mich hätte aufmachen können. Alle hätten die Richtung für ein eigenes Album vorgeben können. Das war der Ansatz, den ich diesmal musikalisch hatte. Konzeptuell ging es bei "Variables" um die unendlichen Möglichkeiten des Lebens, die uns zu dem Punkt führen, an dem wir stehen – repräsentiert von den zehn individuellen Stücken. Ich habe das nicht absichtlich so komponiert, aber so denke ich über Musik nach. Ich erkunde gerne verschiedene Stile. Was es zusammenhält, sind die Gefühle, die ich reinstecke. Musik und Emotion korreliert. Ein Song kann also traditioneller Jazz sein, ein anderer ist gitarrenbasiert, ein dritter fußt auf Hip Hop – für mich ist das alles dasselbe und das war die Idee hinter "Variables". Ich hätte auch ein komplettes Rap-Album machen können oder ein Album voller Gitarrensongs.

Du erwähnst es schon, es gibt verschiedene Seiten des Albums, wo die eingangs schon erwähnten Jazz- und Hip Hop-Hintergründe aufeinandertreffen. Zum einen stehen dort Songs wie "Foreword", ein langer Track voller instrumentaler Improvisation steckt, zum anderen gibt es kurze Stücke wie "Borderline", die um einen Loop kreisen. Eigentlich zwei grundverschiedene Ansätze ans Songwriting. Wie gehst du damit um?

Das Leben ist doch genauso: Niemand funktioniert nur auf eine Weise. Jeder passt sich bestimmten Situationen an – egal ob man sich gezwungenermaßen anpassen muss oder ob das ganz natürlich passiert. In manchen Situationen muss man mit dem Flow gehen, in anderen übernimmt man die Kontrolle. Beim Loop-basierten Teil übernehme ich die Kontrolle über eine Situation: Ich mache einen Hip Hop-Beat und schreibe etwas dazu. Wenn ich rappe, soll sich die Musik nicht allzu sehr bewegen. Daher komme ich. Ich baue Loops und rappe darüber. Tracks wie "Foreword" dagegen sind pure Improvisation – ich weiß nicht, was passieren wird. Jeder einzelne Take ist komplett anders. Alles was bleibt, ist die grobe Richtung und das Motiv, aber die folgenden sieben, acht Minuten habe ich vorher noch nie gehört und ich werde sie auch danach nie wieder so hören. Es auf zwei verschiedene Arten anzugehen, bringt Balance ins Leben. Das hält Musik für mich interessant. Loops halten dich in einem hypnotischen Zustand, Improvisation ist frei. Ich brauche beides.

Durch die Verbindung verschiedener musikalischer Welten fällt inzwischen auch dein Publikum relativ divers aus und reicht von jungen Hörer:innen bis zu alten Jazzheads ...

Es ist ja schon verrückt, dass überhaupt jemand zu meinen Shows kommt, ehrlich gesagt. Aber wenn ich über die Diversität im Publikum nachdenke, finde ich mich gewissermaßen selbst darin. Die Altersrange repräsentiert ganz gut die Musik, die ich höre. Ich höre ja auch Musik von sehr jungen und sehr alten Menschen. Vielleicht liegt das am Internet, vielleicht auch an der Digger-Mentalität. Wenn du dir meine Musik anhörst, es bis zum Ende schaffst oder wenigstens einen Teil davon magst, bedeutet das, dass du auch gerne Sachen erkundest. Ich mache Musik einfach nach Gefühl. Das Genre mag sich ändern. Manchen Leuten gefällt ein Leben lang vielleicht nur ein Genre. Wenn jemand zu meiner Show kommt und sie ihm gefällt, entdeckt man wahrscheinlich gern. Es ist cool, andere Entdecker:innen im Publikum zu haben.

Apropos andere Genres: Du arbeitest auf "Variables" mit dem südafrikanischen Singer/Songwriter Bongeziwe Mabandla zusammen, im Stück "Apho". Wie habt ihr euch kennengelernt?

Durch mein Management Black Acre. Sie hatten vorher schonmal mit ihm gearbeitet. Ich wollte mich einem afrikanischen Künstler kollaborieren, am liebsten jemandem, der Folk-Music macht. Ich stieß auf einige, aber Bongeziwe kannte mein Management bereits. Als ich sie bat, Kontakt zu ihm aufzunehmen, kam direkt zurück: "Wir kennen ihn!" (lacht) Ich weiß Black Acre und mein ganzes Team wirklich sehr zu schätzen. Mit Bongeziwe zu arbeiten, war echt großartig. Das war mein erstes echtes Feature "nach außen". Sonst blieb ich immer innerhalb meiner gewohnten Kreise. Und wie ich vorhin in Bezug auf "Genda" erwähnt habe, bin ich stark mit Afrika verbunden. Dort liegen meine Wurzeln. Ich denke, es ist wichtig für mich, mit Leuten von dort zu arbeiten. Ich sprach auf meinen Alben mit meiner Familie, mit meinen Brüdern und Schwestern. Das muss ich musikalisch ebenfalls tun.

Du planst also, künftig mehr afrikanische Einflüsse einzubauen?

Ich habe vor allem vor, mit mehr Menschen aus Afrika zusammenzuarbeiten – jedenfalls wenn es zum Song passt. Wenn ich mich also nach Features außerhalb meiner Bubble umsehe, dann dort. Die Musiker:innen um mich herum sind großartig und ich möchte sie fördern, aber wenn ich jemanden außerhalb von ihnen brauche, möchte ich bei meinen Wurzeln anfangen. Und ja, ich habe vor, künftig mehr in diese Richtung zu unternehmen.

Eigener Aussage zufolge bist du kein "ein Album alle vier Jahre"-Typ, sondern veröffentlichst lieber jedes Jahr ein neues Projekt. Heißt das, du arbeitest bereits am nächsten Album?

Egal ob Album oder nicht, ich arbeite definitiv an "Projekten". Ich denke über sowas lieber als "Projekte" nach. Ich bin einfach gerne kreativ und wenn ich zu lange an einer Sache dranbleibe, gefällt sie mir vielleicht nicht mehr. Ich kristallisiere lieber einen Moment und hau ihn direkt raus. Es werden definitiv in naher Zukunft kommen, ich arbeite pausenlos.

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