22. April 2015

"Damon ist ein verrückter Typ"

Interview geführt von

Seit 2009 ist der alte Britpop-Tanker Blur wieder auf Kurs. Kapitän Damon Albarn (Gesang) und sein Chief Graham Coxon (Gitarre) beendeten die jahrelange Eiszeit und ließen sich gemeinsam mit Pflichtverteidiger Dave Rowntree (Drums) und Käsehersteller Alex James (Bass) auf britischen Riesenfestivals als UK-Pop-Ikonen standesgemäß feiern.

Das Märchen der wiedererlangten Harmonie findet mit dem neuen Studioalbum "The Magic Whip" nun seinen vorläufigen Höhepunkt. Beinahe wäre es nie erschienen. Wir sprachen mit Dave Rowntree über die wundersame Geburt im fernen Hong Kong.

Dave, auf einer Skala von eins bis zehn: Wie wahrscheinlich war es in den letzten sechs Jahren seit eurer Bühnenreunion, dass irgendwann ein neues Blur-Studioalbum erscheinen wird?

Ich habe immer geglaubt, dass es passieren könnte. Auf der Skala gebe ich also mindestens eine Fünf. Aber natürlich hat nicht jeder in der Band so gedacht.

Gitarrist Graham Coxon darf man als Geburtshelfer der Platte bezeichnen, da er letztes Jahr die dem Album zugrunde liegenden Demos vom Sommer 2013 mit Produzent Stephen Street in Eigenregie bearbeitet hat. Damon Albarn erzählte in Interviews häufig, dass das Jammen zwar Spaß gemacht habe, dabei aber nichts Zählbares herausgesprungen sei. Warst du derselben Ansicht?

Etwas anzufangen ist immer leichter als etwas zu beenden. Man muss bedenken, dass wir insgesamt nur fünf Tage im Studio waren. Da hat man gerade mal Zeit, ein paar Ideen auszutauschen und das ein oder andere auszuprobieren. Wir waren daher alle überrascht, als Graham und unser langjähriger Freund und Produzent Stephen Street uns wieder mit diesen Demos konfrontierten. Wir stellten fest, dass da wirklich einige gelungene Ideen dabei waren, die wir völlig vergessen hatten. Jeder von uns hatte eigentlich das Gefühl, dass damals nicht viel Herausragendes zustande gekommen ist.

Ihr habt euch in Hong Kong also ohne Vorbereitung spontan entschieden in ein Studio zu gehen und einfach mal loszulegen?

Generell läuft es bei uns im Studio so, dass Damon als unser Hauptsongwriter mit einem bestimmten Sound ankommt, mit einer Idee für die Strophe oder Versen für den Refrain. Er gibt uns einen Anhaltspunkt, von dem aus die Reise losgeht und dann suchen wir alle gemeinsam nach einem Weg.

Ihr wart zuvor aber Ewigkeiten nicht mehr fünf Tage am Stück zusammen im Studio. Ging euch das denn so leicht von der Hand, als wären die 16 Jahre nie vergangen?

Als Mitglieder von Blur haben wir mittlerweile alle gelernt: Sobald sich eine Gelegenheit bietet, muss man sie beim Schopfe packen. Niemand von uns hatte damals den Plan, geschweige denn die Zeit, ein neues Album aufzunehmen. Wir steckten mitten in unserer Tournee und als ein neues Festival in Japan kurzfristig abgesagt wurde, waren wir plötzlich mit fünf freien Tagen in Hong Kong konfrontiert. Es hätte keinen Sinn gemacht, nach Hause zu fliegen, denn dafür braucht man allein eineinhalb Tage und dann kannst du dich grade wieder in einen Flieger zurück setzen.

Also suchten wir nach einem Ort, an dem wir Musik machen können. Glücklicherweise fanden wir ein Studio, das nur ein paar U-Bahn-Stationen von unserem Hotel entfernt lag. Es war toll dort, es erinnerte uns sehr an das Matrix in London, wo wir am Anfang unserer Karriere unsere ersten Songs komponiert haben. Ein ganz schlichtes, einfaches Studio ohne Swimming Pool und sonstigen Schnickschnack. Wenn man dort ist, kann man nur Musik machen. So lief das auch in Hong Kong.

Die Vielzahl musikalischer Aktivitäten von Damon wurde in den letzten Jahren oft als Hauptgrund angeführt, warum von Blur kein neues Album mehr zu erwarten sei. Stimmt diese These?

Niemand von uns ist mehr ausschließlich Mitglied von Blur. Wir haben alle ein Leben außerhalb der Band. Deshalb kann mit Blur nur etwas passieren, wenn jeder von uns Zeit investiert und andere Pläne zurück stellt.

Wie lange habt ihr im Londoner Studio an "The Magic Whip" gearbeitet, nachdem Graham und Stephen euch das neu bearbeitete Material präsentiert haben?

Zunächst mal ist es Graham und Stephen gelungen, diesen Demos Struktur zu verleihen und die guten von den schlechten Ideen zu trennen. Damit hatten sie einige Monate lang zu tun. Danach machte sich jeder von uns Gedanken und brachte neue Ideen ein. Als sich Damon um den Gesang kümmern wollte, merkte er, dass viele Textzeilen die Zeit damals in Hong Kong reflektierten. Es wäre seltsam gewesen, diese Songtexte in London zu vollenden. Deshalb ist er um Weihnachten herum noch mal nach Hong Kong gegangen, um den Spirit unserer Sessions einzufangen. Im Januar wurde die Platte gemixt und komplett fertig war sie eine Woche vor der offiziellen Ankündigung.

Wie lange hast du gebraucht, um deine Drumspuren einzuspielen?

Oh, nicht lange, vielleicht eine Woche oder zwei lange Wochenenden.

Klingt ja nicht gerade nach unendlich viel Arbeit.

Nun, ich musste ja nicht die ganze Platte neu einspielen, sondern nur Passagen, die wir verändern wollten. Wir haben vierzig Stunden aufgenommenes Material aus Hong Kong mitgebracht. Es herrschte also ganz sicher kein Mangel an Drumspuren. Man muss etwas neu einspielen, wenn man das Tempo eines Songs drastisch verändern will. Oder wenn man ein größeres Drumkit und mehr Mikros braucht. Ich weiß nicht, ob du die Fotos aus dem Studio gesehen hast: Es war ein kleiner, enger Raum, ich hatte ein sehr reduziertes Kit und genau ein Aufnahmemikro. Das kommt einigen Songs sicher zugute, aber bei allen hätte es nicht funktioniert.

Sind die grundlegenden Strukturen der zwölf Songs dann letztlich doch eher nachträglich in London entstanden?

Nein. Zwei Drittel dessen, was auf der Platte zu hören ist, wurde in Hong Kong aufgenommen.

Die Platte wird als erstes richtiges Blur-Album in 16 Jahren beworben, weil Graham beim letzten Album "Think Tank" 2003 nicht mehr in der Band war. Dennoch ist euch damals ein starkes Album gelungen. Wie beurteilst du die Zeit und die Platte?

Das war keine einfache Zeit damals. Graham war nicht mehr in der Band, und wir sind nach Marrakesh geflogen, um dort die Platte fertig zu stellen. Keine schöne Zeit. Ich mag das Album, es hat seine Momente, aber es ist kein Blur-Album weil Graham fehlt.

"Ich liebe es, mit Damon zusammen zu spielen"

Damon war damals schon mit den Gorillaz sehr erfolgreich und blieb auch in den Folgejahren musikalisch aktiv. Hast du nicht manchmal einen seiner Songs im Radio gehört und gedacht 'Fuck, ich sollte mit dem Typen spielen'?

Nein, aber natürlich liebe ich es, mit Damon zusammen zu spielen. Er ist meiner Meinung nach einer der besten Songwriter unserer Generation und obendrein einer der verrücktesten Typen, die ich kenne.

Wie stehst du Bands gegenüber, die ein Album-Comeback wagen? Würde dich eine neue Platte von Pulp oder den Stone Roses interessieren?

Ich bin an guter Musik interessiert. Ob sie von einer jungen Band kommt oder von einer, die seit Ewigkeiten dabei ist, finde ich zweitrangig.

Wie siehts mit New Order aus? Wird ihr neues Album, das erste ohne Ex-Bassist Peter Hook, so gut werden wie ihre alten?

Ich kann ihnen nur wünschen, dass es nicht so klingen wird wie ein Blur-Album ohne Graham.

Die Veröffentlichung von "The Magic Whip" habt ihr bemerkenswert gut verheimlichen können. Selbst viele Fanpages erfuhren die gute Nachricht erst am Tag der Pressekonferenz. Mich hat das sehr an den Überraschungseffekt von David Bowies "The Next Day" erinnert. Durftet ihr, wie das bei Bowie gehandhabt wurde, auch praktisch niemandem von den Londoner Studiosessions erzählen?

Es war klar, dass wir es so wenig Leuten wir möglich erzählen dürfen, wenn es ein Geheimnis bleiben soll. Als der Tag der Pressekonferenz näher rückte, wussten naturgemäß ziemlich viele davon: Wir hatten die Hyde Park-Show angekündigt, mit dem Isle Of Wight Festival liefen noch die Verhandlungen und natürlich wussten auch die Leute von der Plattenfirma und vom Verlag Bescheid. Der Kreis der Eingeweihten wurde größer und größer. Von daher war ich wirklich überrascht, wie lange es geheim geblieben ist. Erst am Tag vor der Pressekonferenz druckte es eine britische Zeitung.

Wenn man so will, hatte diese Aktion auch einen kleinen Nachteil. Normalerweise kündigst du eine Album drei Monate vorher an und buchst dann in aller Ruhe eine Tournee. Das war in unserem Fall nicht möglich, also müssen wir jetzt Tag für Tag schauen, welche Termine für uns in Frage kommen. Aber die Tour wird ohnehin nicht so ausgeprägt sein wie bei früheren Alben. Schließlich sind wir seit 2009 quasi pausenlos unterwegs. 2014 war das erste Jahr, in dem wir keine Konzerte gespielt haben.

"Eine Freundin von mir arbeitet als Strafverteidigerin ..."

Als die Band 2009 wieder zusammen kam, warst du als Jurastudent an der Uni eingeschrieben. Hat man dich dort dann allmählich wieder erkannt?

Es war eigentlich vom ersten Tag an kein Geheimnis, dass ich Drummer in einer Band bin. Sowas kann man praktisch nicht für sich behalten.

Heute arbeitest du als Anwalt und bist auch Aktivist für die Labour-Partei. Waren diese beruflichen Entscheidungen Ausdruck eines Bedürfnisses nach einem tieferen Sinn im Leben, den Musik zu geben nicht imstande ist?

So würde ich das nicht sagen, aber es war schon eine Art Sinnsuche. Als Musiker siehst du viele Dinge bei deiner täglichen Arbeit gar nicht. Du sitzt im Studio, hast mit vergleichsweise wenig Menschen zu tun und versuchst, eine gute Platte zu machen, die dann in einen Laden oder auf eine Website kommt, wo andere Menschen sie kaufen können. Die Reaktion der Leute auf deine Arbeit findet dann sehr entfernt statt. Was ich an den Drums anstelle, hören andere erst sechs Monate später. Sicherlich hat gute Musik die Kraft, das Leben von Menschen zu verändern, aber als Musiker bemerkst du das kaum.

Dann gibt es die Konzerte, wo du dein Publikum vor dir hast, aber auch das ist eine sehr ungewöhnliche Verbindung. Auf einem großen Festival aufzutreten, ist einerseits eine unglaubliche Erfahrung, aber gleichzeitig fühlt es sich manchmal auch unpersönlich an. Man hat diese riesige Masse an Menschen vor sich, und es fällt einem schwer, sich auf eine Person zu konzentrieren, für die man spielt. Weshalb ich nach wie vor gerne in kleinen Clubs auftrete.

Worauf ich hinaus will: In meinem neuen Job wollte ich ganz gezielt mit Menschen auf Augenhöhe sein, ihnen nah sein und dabei Gutes tun. Bei einer Freundin von mir, die als Strafverteidigerin arbeitet, sah ich genau das. Wie sie Menschen beratend unterstützte, die vor wirklich dramatischen Situationen in ihrem Leben standen oder schuldige Menschen verteidigte, denen Gefängnis drohte und damit der Verlust ihrer kompletten Existenz, Familie, Haus etc. Ganz zu schweigen von unschuldigen Menschen, die ebenfalls über Nacht alles verlieren können. Ihre emotionale und juristische Intelligenz hat mich enorm beeindruckt, und ich spürte, dass mir genau so eine Arbeit in meinem Leben gefehlt hat.

Mit welchem Blick siehst du dann heute auf dein Leben als Popstar?

Wie gesagt, das ist eine völlig andere Welt. Ich bin jedoch in der glücklichen Situation, in beiden Welten heimisch zu sein. Ich als Person bin nicht besonders berühmt, aber ich spiele in einer sehr berühmten Band. Deshalb kann ich von den Vorteilen, berühmt zu sein, profitieren. Praktisch alle Türen gehen von alleine auf. Ich will eine bestimmte Person treffen? Es mag etwas dauern, aber es wird mir möglich gemacht. Gleichzeitig kann ich mich unbehelligt in der Öffentlichkeit bewegen und werde nur hier und da mal nach einem Foto gefragt, das wars.

Hattest du vor der Reunion denn noch Hoffnung, dass Damon und Graham ihr Kriegsbeil irgendwann begraben würden?

Ja. Ich habe immer gedacht, dass sie sich lange genug kennen, um sämtliche Hürden überwinden zu können. Am wichtigsten für beide war wohl, sich eine Weile aus dem Weg zu gehen. Bei uns gibt es das Sprichwort: Durch die Ferne wächst die Liebe. Es ist immer alles eine Frage der Perspektive. Von daher war ich guter Hoffnung, dass alte Wunden heilen können, wenn Dinge ausgesprochen werden, die ausgesprochen werden müssen. Und dass danach beide wieder Freunde werden können.

Welche ist deine Lieblingsstelle in Alex James' Autobiographie "Bit Of A Blur"?

Habe ich nicht gelesen. Ich meine, ich war dabei, warum sollte ich es lesen? Außer er hat über völlig andere Sachen geschrieben, als ich es getan hätte. Vielleicht sollte ich es besser doch lesen. Nein, ich war dabei und erinnere mich noch gut an alles.

Er hat dir aber doch sicher ein Exemplar zugeschickt?

Hat er? Weiß ich gar nicht mehr. Er hat es mir sicher persönlich gegeben. Ich bin ja zu seiner Buchvorstellung in London gekommen, um ihn zu unterstützen. Alex kann sehr gut schreiben. Sehr unterhaltsamer Stil.

In der Öffentlichkeit bist du seit jeher der Stille von Blur. Gleichzeitig bist du für das Intro des berühmtesten Blur-Songs verantwortlich: "Song 2". Wie befriedigend war das?

Haha, es war ein großer Spaß, diesen Song aufzunehmen, denn er war sofort im Kasten. Manchmal ziehen alle an einem Strang und es gibt kaum Differenzen. Für "Song 2" haben wir weniger als einen Tag gebraucht.

Was war zuerst da, dein Intro oder Grahams Riff?

Weiß ich nicht mehr.

Zurück zur neuen Platte: Das Hauptriff von "Pyongyang" erinnert mich an den alten The Cure-Song "Cold". Sind einem als Musiker solche Parallelen manchmal bewusst oder blendet man das aus?

Popmusik ist voller Ähnlichkeiten, gerade in der Gitarrenmusik. Die Gitarren sind alle in einer gewissen Tonlage gestimmt. Oder schau uns Drummer an: Viele spielen auf eine bestimmte Art und Weise, die an andere Drummer erinnert. Am Ende hat jeder zwei Stöcke und zwei Füße zum Spielen. Die wenigsten setzen sich mit dem Vorsatz ans Kit, etwas abartig Bizarres zu spielen. Man verlässt sich ganz natürlich auf die eigene Intuition.

Unser Album-Rezensent war voll des Lobes und würdigte "The Magic Whip" mit einer 5/5-Wertung. Hat er recht?

Das ist wirklich sehr freundlich von ihm. Es steht ihm eher zu als mir, darüber zu urteilen. Gute Kritiken sind natürlich immer eine schöne Art der Anerkennung.

Mein Eindruck ist, dass die Platte von der Musikkritik fast durchgehend gut angenommen wird. Haben dich schon böse, gar verletzende Kommentare erreicht?

Eine vernichtende Kritik kam mir bislang noch nicht unter. Die meisten Kritiker schreiben: Das hier ist toll, das da gefällt mir nicht so gut. So sind Plattenkritiken nun mal aufgebaut und das ist auch eine menschlich völlig nachvollziehbare Argumentation. Letztlich können wir jetzt sowieso nichts mehr daran ändern. Selbst wenn jemand stichhaltig ausführen würde, warum die Drums dieses Songteils viel besser zu einem anderen gepasst hätten, und du plötzlich denkst: 'Verdammt, er hat recht, das wäre sicher super gewesen.' Es ist zu spät. Unser Job ist getan. Jetzt sind die Journalisten mit ihrem Job dran.

Auch was die Fans davon halten, kann man vorher nicht wissen. Werden sie die Platte kaufen und aufs Konzert kommen? Deshalb sind Reviews ziemlich direkte Rückkopplungen für einen Musiker. Es liegt in der Natur der Sache, dass Kritiker oft Querverweise finden, auf die ein Musiker gar nicht kommen würde. Wie in deinem Fall mit dem The Cure-Song. Sie interpretieren Texte anders und erstellen Bezüge zum Weltgeschehen oder zu aktuellen Vorkommnissen in ihrem jeweiligen Land, die der Komponist gar nicht beabsichtigt hat. Aus diesem Grund finde ich Kritiken immer sehr spannend. Sie können selbst deine Sicht auf die eigene Platte immer wieder verändern.

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