laut.de-Kritik

Der Thin White Zombie weiß genau was und wohin er will.

Review von

Was musikalische Langzeitprognosen angeht, konnte ich mich schon immer auf meinen Riecher verlassen. Scooter? Mit "Hyper Hyper" zum Glück nur ein One Hit Wonder. Rammstein im Vorprogramm der Ramones? Naserümpfend den Saal verlassen. Nirvana 1989 im Schwimmbad Musik-Club in Heidelberg? Aus denen wird nie was! Meinen bisher letzten großen Klops, für den ich mich hier offiziell entschuldigen möchte, habe ich wohl in meiner "Ziggy Stardust"-Rezension zum 40. Geburtstag der Platte geleistet.

Neun Jahre nach "Reality" und sechs Jahre nach seinem letzten Liveauftritt hatten selbst die unverbesserlichsten Optimisten den Glauben an ein neues Album verloren. Aber wer will es dem Thin White Duke nach unzähligen Meisterwerken schon übel nehmen? Na, da habe ich wohl mal wieder gewaltig daneben gelegen. Zum Glück.

Allein stand ich mit meiner Vorhersage aber sicher nicht. Während die Quoten für einen neuen Longplayer also von Woche zu Woche ins Bodenlose purzelten, bastelten Bowie und Produzent Tony Visconti über zwei Jahre streng abgeschirmt an "The Next Day". Pünktlich zum 66. Geburtstag des Mannes, der einst vom Himmel fiel, ließ Bowie die Bombe platzen und zeigte mit "Where Are We Now?" allen Skeptikern eine lange Nase.

Aufgrund der langen Wartezeit und der Ungewissheit und einem bis heute ungebrochenen Schweigen von Seiten des Großmeisters, bauten sich fast unerfüllbare Erwartungen auf. David Bowie steigt vom Berge Sinai und überreicht uns seine vierzehn Gebote. Nach dem ganzen Hype bin ich nun fast enttäuscht, dass ich mit "The Next Day" nur eine weitere Bowie-Platte und nicht die erste Kontaktaufnahme mit außerirdischem Leben in der Hand halte.

Wenn man die Schnappatmung überwunden hat, stellt man mit Erstaunen fest, dass sich im Grunde nicht viel verändert hat. Nach seinem ersten Comeback "Black Tie White Noise" strauchelte Bowie lange, bis er unerwartet mit "Hours..." eine Art entspanntes Spätwerk einleitete, das sich mit dem brillianten "Heathen" und "Reality" fortsetzte. Anstatt unwürdig schnelllebigen Trends hinterher zu hetzen, standen plötzlich mit relaxter Grundhaltung die Songs im Mittelpunkt. Bei allem Bohei und trotz aller deutlichen Ecken und Kanten geht "The Next Day" den selben Weg. Bowie verwaltet sich selbst und seine Vergangenheit und wirft für uns Fans diverse wohl platzierte Angelhaken aus, die zurück zu seinen Großtaten aus den 1970ern führen.

Legt das salbungsvolle "Where Are We Now?" musikalisch mit seiner fragilen Zärtlichkeit vielleicht noch eine falsche Fährte, deutet der Text doch in genau die richtige Richtung und bereitet optimal auf "The Next Day" vor. "Sitting in the Dschungel / on Nürnberger Strasse / a man lost in time near KaDeWe / just walking the dead." Ein mit dem Vorschlaghammer verteilter Flashback zur Berlin-Triologie. Das überpappte "Heroes"-Cover trägt seinen Rest dazu bei.

"Here I am, not quite dying, my body left to rot in a hollow tree." Bowie bedient die üblichen Grundmotive (Stars, Space, Boys). Außerdem bestimmt Gewalt das vermöbelte Gesicht von "The Next Day". Der Titeltrack bietet einen rabiaten Einstieg, direkt aus der Bowie/Osterberg-WG. Kontrollierte Hysterie unterlegt die Geschichte eines mittelalterlichen Tyrannen, der von einem wütenden Mob dahingerafft wird. "They work with Satan while they dance like saints".

Für "Dirty Boys" steigt "Fame" untot und schleichend aus seinem Grab empor. Der Thin White Zombie gibt sich mit vergiftetem Soul die Ehre. Steve Elsons Baritonsaxophon unterlegt den ruckartigen Rhythmus. Ein monochromer Beat, penetrant wie Lebertran, wälzt "Love Is Lost" voran. "It's the darkest hour / you're twenty two / the voice of youth / the hour of dread." Gitarrenfetzen durchtrennen drakonische Keyboardflächen. Die klare Botschaft: Ab jetzt wird es nur noch schlimmer. "Wave goodbye to life without pain". Bowie at his best.

Neben seinen düsteren Tiefen kennt "The Next Day" auch schwindelerregende Höhen. Selbst Fans des Haarspray-Bowies aus den 1980ern kommen mit "(You Will) Set The World On Fire", einem Zwitter aus "Time Will Crawl" und "You Really Got Me" von The Kinks auf ihre Kosten. Die zweite Single "The Stars (Are Out Tonight)" mit ihrem mustergültigen Refrain dürfte zu den besten Singles der letzten drei Jahrzehnte gehören. Unterhalb der butterweichen Celebrity-Fassade von Brigitte, Jack, Kate und Brad gruselt es gewaltig. "They burn you with their radium smiles and trap you with their beautiful eyes."

Im Laufe von "The Next Day" lotet Bowie immer wieder sämtliche Alternativen seiner Stimme aus. Er pendelt zwischen zerbrechlich ("Where Are We Now?"), zickig ("Valentine's Day") und pathetisch ("You Feel So Lonely You Could Die"). In "I'd Rather Be High", einem ansonsten eher faden Track mit Militärrhythmen und Smiths-Anleihen, klingt er gar jugendlich wie zu Decca/Deram-Zeiten.

Im Refrain des Staccato-Rocks "How Does The Grass Grow?" spielt der Engländer mit Apache von The Shadows. Ruppige Gitarrensoli kappen den Teletubbie-Chorus vom restlichen Song ab. Ein schrilles und nervendurchdringendes Keyboard trifft in "If You Can See Me" auf hastige Gitarren. Bowie gräbt noch einmal die Rastlosigkeit der "Earthling"-Ära aus. Drum'n'Bass-Rhythmen und "Look Back In Anger" prallen aufeinander.

"Time takes a cigarette / puts it in your mouth." Was mit "You Feel So Lonley You Could Die" als Schunkelballade beginnt, entwickelt sich zu einer epischen Erzählung über Einsamkeit und selbstmörderischer Depression. Eine melancholische und melodramatische Todesvision in der zu guter Letzt der Schlagzeugeinstieg aus "Five Years" zitiert wird. "Oblivion shall own you, death alone shall love you." Die Hölle friert zu, sobald Bowie in "Heat" seinem Idol Scott Walker zu "Climate Of Hunter"-Zeiten nacheifert. Ein dunkles Gebet zu einem singenden Fretless-Bass vorgetragen. Akustische Gitarre, Lärm, Schuld und Schande. "I am a seer, but I am a liar."

Wenn auch manche lauwarme Nummer ("Dancing Out In Space", "Valentine's Day", "I'd Rather Be High") das erstklassige Gesamtbild ein wenig verwässert; nach dreißig Jahren und den Unwegsamkeiten der 1980er ist David Bowie nicht mehr auf der Suche. Bei sich selbst angekommen, weiß er genau, was und wohin er will. Sein nächster Tag liegt in der Vergangenheit, im bewussten Konzentrieren auf seine Stärken. Vielleicht klingt "The Next Day" auch deswegen bisweilen ein wenig zu sehr kalkuliert und nüchtern. Trotzdem ist ihm ein formidables Comeback gelungen. Wieder einmal hänge ich wie ein zappelnder Fisch an seiner Angel.

Trackliste

  1. 1. The Next Day
  2. 2. Dirty Boys
  3. 3. The Stars (Are Out Tonight)
  4. 4. Love Is Lost
  5. 5. Where Are We Now?
  6. 6. Valentine's Day
  7. 7. If You Can See Me
  8. 8. I'd Rather Be High
  9. 9. Boss Of Me
  10. 10. Dancing Out In Space
  11. 11. How Does The Grass Grow?
  12. 12. (You Will) Set The World On Fire
  13. 13. You Feel So Lonely You Could Die
  14. 14. Heat

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14 Kommentare

  • Vor 11 Jahren

    Review geht in Ordnung, für mich sind's vielleicht sogar 5/5. Die 2 Singles sind für mich so ziemlich die 2 schwächsten Tracks auf der Platte.

  • Vor 11 Jahren

    Im Augenblick pegele ich mich nach drei Durchläufen auch auf der 4 ein. Wichtigste und beruhigendste Erkenntnis: er kann's noch.
    Die Rezension geht in Ordnung, auch wenn ich momentan noch nicht sicher sagen kann, ob "Valentine's Day" oder "I'd Rather Be High" wirklich so lauwarm sind - klar, kreativer Höhepunkt geht anders, aber ich finde, sie passen ganz gut auf's Album.
    Gruß
    Skywise

  • Vor 11 Jahren

    hauptsache, das album ist besser als "heroes" (wenn das cover den vergleich schon unbedingt erzwingen möchte, bitte).