5. September 2025

"Tanzen kann Widerstand sein"

Interview geführt von

Curtis Harding lädt zu einem Gedankenexperiment ein: Wie wäre es, ganz allein durchs Weltall zu treiben? Zunächst hätte man endlich seine Ruhe. Doch nach einigen Stunden würden die Fragen lauter: Wie bin ich hierher geraten? Wie komme ich zurück? Und ist das vielleicht sogar eine Strafe für etwas, von dem ich nichts weiß?

"Kennst du den Film 'Und täglich grüßt das Murmeltier'?", fragt mich Curtis Harding, während wir durchs Treppenhaus des Berliner Hotels Michelberger laufen. "Nun, das hier ist mein Groundhog Day." Sein persönlicher Murmeltiertag sieht so aus: Aufwachen in einem neuen Hotel, in einer neuen Stadt. Frühstück und Zigarette. Dann eine Reihe von Interviews, unterbrochen von noch einer Zigarette, und noch einer.

So routiniert das klingt, so zurückhaltend wirkt der Soulsänger zunächst. Mit halbdurchsichtiger Seventies-Sonnenbrille sitzt er mir gegenüber, vermeidet den Blickkontakt und wirkt ziemlich schüchtern. Doch nach einer Weile lockert sich die Stimmung. Curtis beginnt zu erzählen: von seinem neuen, seit heute erhältlichen Album "Departures & Arrivals: Adventures Of Captain Curt", von seiner Faszination fürs Weltall und von der Spannung zwischen Macht und dem Gefühl der Machtlosigkeit.

"Departures & Arrivals: Adventures Of Captain Curt" ist ein selbstproduziertes Album, wie schon dein erstes Album "Soul Power" (2014). Wie darf man sich diesen Prozess vorstellen?

Man hat mehr Kontrolle, wenn man es selbst produziert. Nicht, dass ich bei meinen letzten beiden Alben nichts zu sagen gehabt hätte, aber beim Musikmachen ist es oft besser, wenn man eine Vision hat und nicht zu viele Köche am Werk sind. In dieser Hinsicht war die Arbeit an dieser Platte erfrischend. Ich hatte niemanden, mit dem ich mich über Ideen austauschen konnte, was auch gut war, da ich mir schon ziemlich sicher war, was ich machen wollte.

Du erwähntest gerade deine künstlerische Vision: Wie kamst du auf die Idee für das Album?

Ich bin einfach nach Gefühl gegangen. Der Titel und das Albumkonzept sind mir erst eingefallen, nachdem die Songs schon fertig waren. Ich habe einfach ein wiederkehrendes Thema erkannt: Distanz, Weltraum und Zeit. Einige der Songs wie "Time" und "Out In The Black" handeln von der Vorstellung, verloren zu sein, alleine im Weltraum zu schweben und zu versuchen, nach Hause zurückzukehren. Daher schien "Departures And Arrivals" einfach passend. Und dann habe ich die Zeile "the adventures of Captain Curt" hinzugefügt, weil das Leben ein Abenteuer ist.

Ist das dein erstes Konzeptalbum?

Ja, aber ich habe nicht aktiv versucht, ein Konzeptalbum daraus zu machen. Es ist einfach so entstanden. Ich dachte mir: Warum nicht?

Kommen wir noch einmal zum Produktionsprozess: Mir ist aufgefallen, dass Schlagzeug und Bass in der Abmischung sehr ausgeprägt sind. War dir das wichtig?

Ja, meine gesamte Musik ist ziemlich rhythmuslastig. Ich habe viele Songs auf dem Bass geschrieben, daher beginne ich oft mit Melodie und Rhythmus. Einfach, weil ich das Gefühl habe, dass das die Grundlage für alles bildet, was ich mache. Ich bin einfach im Groove. Ich habe das Gefühl, das Leben ist Rhythmus, also fühle ich mich einfach so. Und alles andere folgte irgendwie.

Auch dieses Mal spielte die orchestrale Untermalung eine große Rolle. Wurden die Parts tatsächlich von Streichern eingespielt? Und wenn ja: Schreibst du die Partitur selbst oder arbeitest du dafür mit jemandem zusammen?

Ja, das sind echte Streicher. Das war fast ein ganzes Orchester. Ein Typ namens Steve Hackman hat bei einigen Songs die Streicher arrangiert. Die Songs waren bereits aufgenommen, also habe ich ihm die Tracks geschickt und ihm ein paar Hinweise und Ideen gegeben. Er hat dann einfach sein Ding gemacht und ich konnte bei den Sessions dabei sein. Für mich sind Streicher super wichtig, weil sie für zusätzliche Dramatik sorgen. Sehr filmisch. Nachdem ich das Thema für die Platte gefunden hatte, dachte ich, Streicher wären toll, um den Songs noch einen dramatischeren Effekt zu verleihen.

Es gibt dieses Sprichwort "Ein Prophet gilt nichts im eigenen Land": Der große Erfolg blieb in den USA für dich bislang aus. In Europa bist du hingegen vergleichsweise erfolgreich. Versuchst du es immer noch, in den USA den großen Durchbruch zu schaffen, oder genügt dir Europa?

Ich nehme es einfach, wie es kommt. Es passiert, wo es passiert. Als ich meine erste Platte herausbrachte, hatte ich nicht die Absicht, auf Tour zu gehen oder so. Ich wollte einfach nur ein Album haben, ein Gesamtwerk, das ich geschaffen habe. Ruhm ist mir eigentlich egal, das ist nur so ein Beliebtheitswettbewerb. Natürlich hilft es, berühmt zu sein: Je beliebter man ist, desto mehr Geld verdient man und desto freier kann man sich bewegen und bestimmte Ideen umsetzen. Zum Beispiel mit dem Orchester auf Tour gehen und solche Dinge. Für mich ist Musikmachen einfach eine Freude. Ich weiß die Liebe zu schätzen, die mir entgegengebracht wird.

In Städten wie Chicago, New York und Los Angeles findet meine Musik zudem Anklang. Es geht langsam aufwärts. Das liegt vor allem daran, dass ich keine große Maschinerie hinter mir habe, ich bin bei einem Indie-Label. Es gibt da draußen viel Musik, die alleine deshalb so gefeiert wird, weil dahinter eine riesige Marketingmaschine steckt. Mit dieser Art von Musik kann ich nicht immer unbedingt etwas anfangen. Das heißt nicht, dass es nicht gut ist.

Du bist auf jeden Fall viel auf Achse, pendelst zwischen den Kontinenten und tourst um die Welt. Das Thema des Albums ist, wie du vorhin erwähntest, das Gefühl fern von der Heimat und dem Vertrauten zu sein. Hat deine Zeit in Europa deine Sicht auf die USA verändert?

Auf jeden Fall. Ich bin auch als Jugendlicher viel gereist. Europa war für mich immer interessant und schön zugleich. Ich glaube, meine Perspektive hat sich vor allem hinsichtlich der unterschiedlichen Arten der Fortbewegung geändert. In Amsterdam fahren alle Fahrrad. Auch hier in Deutschland habe ich das beobachtet. Das ist das Fortbewegungsmittel Nummer eins. Es sind die kleinen Dinge, die zeigen, wie Energiesparen und Umweltfreundlichkeit in den Alltag integriert werden können. Allein der Anblick solcher Dinge öffnet einem die Augen für Veränderungen.

"Tanzen kann Aktivismus und Widerstand sein"

Auf dem Album gibt es den Song "Power". Darin geht es um die Politik in deiner Heimat ...

Ich denke, es geht einfach um die Weltpolitik im Allgemeinen, nicht unbedingt nur in den USA. Es könnte auch nur eine persönliche Angelegenheit sein, zum Beispiel wenn man Probleme zu Hause mit der Familie hat oder Ähnliches. Tanzen, Loslassen und Spaß haben können Aktivismus sein. Sie können Widerstand sein. Es muss nicht immer eine große Sache sein. Manchmal hast du Streit mit deinem Partner und dann sagst du dir: "Scheiß drauf, ich gehe tanzen und lass es einfach sein." Und damit holst du dir deine Macht zurück. Auf diese Weise kann es auch das größere Thema der Politik ansprechen. Das ist das Schöne an der Musik. Meine Interpretation muss nicht unbedingt deine sein.

Wer hat deiner Meinung nach die Macht?

Ich glaube, die Macht liegt beim Volk. Ich glaube, sobald man sich informiert hat, fängt man an, das zu verstehen. Wenn wir zusammenkommen würden. "Die da oben" verwenden spaltende Schemata und Ideen und Dinge, um uns auseinander zu halten. Weil sie das verstehen. Sie wissen, dass sie mit vielen ihrer Taten nicht durchkämen, wenn wir alle an einem Strang ziehen würden. Wir, das Volk, hatten schon immer die Macht. Es geht nur darum, das zu verstehen und zusammenzukommen und uns zu organisieren.

Apropos Maschine: Die Obrigkeit hat den Großteil der Kontrolle. Denn ihnen gehören fast alle Medienunternehmen. Und das kann zu großen Spaltungen führen. Und Medien sind ein mächtiges Instrument. Aber noch einmal: Wenn man versteht, was passiert und die Auswirkungen, die es auf uns hat, dann können wir unsere Macht zurückgewinnen, wir müssen dabei allerdings aktiv und nicht faul sein. Dann haben wir die Möglichkeit, etwas zu verändern.

Kommen wir zurück zum Thema des Albums: das Heimweh. Du hast für dieses Album eine eigene Figur geschaffen, die ins All fliegt und sein Zuhause vermisst. Kannst du uns mehr darüber erzählen?

Die Figur bin ich. Ich denke, sie ist Teil meiner Persönlichkeit. "Captain Curt" ist einfach ein Wortspiel mit meinem Namen. Als ich jung war, sagten meine Freunde zu mir: "Hey, Captain Curt." Weil es lustig war. Wir haben als Kinder viel Star Trek geschaut. Wegen James T. Kirk blieb "Captain Curt" als mein Spitzname hängen. Zudem bin ich abenteuerlustig. Ich liebe es, Neues zu entdecken. Es machte einfach Sinn. Besonders die Sache mit dem Weltraum. Ich habe mir vorgestellt, Kapitän eines Raumschiffes zu sein.

In dem Song "Out In The Black" geht es darum, es alleine zu packen. Da heißt es "Du bist ein erwachsener Mann, du musst Sühne leisten." Sind das die Gedanken, die du im Weltraum haben würdest?

Ja. Ich könnte mir vorstellen, dass man in so einer Situation viele Gedanken haben würde. Das ist wahrscheinlich einer davon. Weil du da draußen allein bist. Und du denkst: Ist das eine Strafe oder was? Jedenfalls könnte ich mir vorstellen, dass man sich so fühlen würde. In meinem eigenen Leben hatte ich schon öfter solche Momente, in denen ich zu der Erkenntnis gekommen bin, dass man die Dinge grundsätzlich alleine regeln muss. Ich denke an den Film "Der Marsianer". Der Typ saß auf diesem Planeten fest. Er musste herausfinden, was los war. Er hätte einfach "Scheiß drauf" sagen und aufgeben können. Und blieb einfach dort. Aber aus alldem, was ihm widerfahren ist, hat er es alleine raus geschafft.

Auf einem früheren Album gibt es noch ein weiteres Lied, in dem du dieses Wort "Sühne" erwähnst. Der Song heißt "Wednesday Morning Atonement". Diesen alten Begriff hört man heutzutage ja nicht mehr so ​​oft. Warum taucht er immer wieder in deinen Texten auf?

Ich weiß nicht. Vielleicht, weil man ihn nicht oft hört (lacht). Vielleicht ist das meine Art, anders zu sein. Ich habe nicht wirklich an "Wednesday Morning Atonement" gedacht, als ich es geschrieben habe. Aber ja - ich schätze, wir müssen für Dinge, die wir getan haben, Wiedergutmachung leisten. Und das gilt nicht nur für mich persönlich. Ich schreibe meine Songs nicht immer nur aus der eigenen Perspektive. Manchmal versetze ich mich in fiktive Situationen. Und ich schreibe aus Beobachtung und versuche, mich in die Lage einer anderen Person zu versetzen.

Ich denke, es gibt in der Welt viel Bedarf an Sühne und Wiedergutmachung. Und ich muss auch selbst etwas dafür tun. Wir sollten alle an uns arbeiten. Manchmal müssen wir aber einfach mit uns selbst anfangen und mit der eigenen Vergangenheit ins Reine kommen. Verstehst du, was ich meine? Manche Dinge musst du dir selbst verzeihen. Und du musst dir selbst Wiedergutmachung leisten.

"Als Kind wollte ich Ozeanograf werden"

Sag mal, was ist eigentlich mit deiner Stimme in "Hard As A Stone" los?

Das ist ein Plug-in, das ich auf meine Stimme gelegt habe. Es fühlte sich einfach gut an. Prince hat das früher immer gemacht. Manchmal hat er die Gesangsspuren höher gestimmt. Ich fand, das passte gut zu meinem Gitarrenriff. Genau wie der langsame Tape-Beat, den ich verwendet habe. Es fühlte sich einfach richtig an.

In dem Song "Time" singst du: "An die Einsamen, die durch die Hölle gegangen sind: Helft euch selbst, indem ihr anderen helft." Ich finde diese Zeilen geben einen Impuls, der sich sehr gegen den vorherrschenden Individualismus der westlichen Kultur auflehnt. Oft heißt es hier so etwas wie: "Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott." Woher stammt diese Perspektive in deinem Lied?

Das ist einfach meine Einstellung. Ich habe oft das Gefühl, wenn man etwas durchmacht, dann ist das Beste, was man tun kann, auf andere Menschen zuzugehen. Zumindest fand ich das in meinem Fall immer hilfreich. Wenn du gerade eine schwere Zeit durchmachst, solltest du dich vielleicht mal an jemanden wenden. Wer weiß? Vielleicht hat die Person, an die du dich wendest, den Rat, den du gerade hören musst.

Ja, das ist ein guter Punkt. Vielleicht lebe ich auch in meiner eigenen kleinen Blase. Aber viele Ratschläge, denen ich in Ratgebern oder im Internet begegne, drehen sich darum, selbstzentrierter zu werden oder sich permanent zu optimieren.

Nein, du bist nie allein. Viele Menschen haben das Gefühl, in dieser einsamen Blase bleiben zu müssen. Auch wenn es nur darum geht, mit einem Therapeuten oder so zu sprechen: Wende dich an jemanden.

Das bringt uns nochmal zum Song "Power" zurück. Da singst du: "Gib jetzt nicht auf." Woher nimmst du die Motivation und Hoffnung für solche Lieder?

Meine Motivation und Hoffnung kommen von meiner Familie, von meinen Nichten und Neffen. Ich liebe das Leben, die Kunst, die Schöpfung, Filme und Fernsehen – all das inspiriert mich. Trotz all dem Scheiß, der gerade auf der Welt passiert, gibt es immer noch Schönheit, wenn wir die Augen offenhalten. Diese Fähigkeit hat eine eigene Kraft: das Gleichgewicht zu finden. Mich inspirieren andere Künstler, neue Ideen, Reisen, die Natur, Begegnungen mit Menschen – aber auch stille Momente und die Einsamkeit.

Und dann ist da die Vorstellung, dass es irgendwo da draußen andere Welten geben könnte. Mathematisch gesehen wäre es unmöglich, dass es sie nicht gibt. Ich liebe Geschichte, Wissenschaft und Science-Fiction. Als Kind wollte ich Ozeanograf werden – diese Idee, unbekannte Orte zu erforschen, fasziniert mich bis heute. Wir waren noch längst nicht so tief im Ozean, wie wir könnten. All das gibt mir Hoffnung.

Ich stelle fest: Was dich fasziniert, sind die unbekannten Räume, die unheimlichen Räume.

Ja, definitiv. Ich denke viel über Dimensionen nach. Wir sind leider nur dreidimensionale Lebewesen. Was wäre, wenn wir in vier oder fünf Dimensionen sehen könnten? Das wäre sehr interessant. Ich habe mich schon immer für solche Dinge interessiert. Ich bin nicht der Hellste in Quantenphysik. Aber ich bin sicher, dass da etwas dran ist.

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