"See powder gets you hyper, reefa makes you calm / Cigarettes give you cancer, woo woo's make you numb / What you niggas know about the Dirty South? / What you niggas know about the Dirty South?" Eigentlich wollen die Herren von Atlantas Goodie Mob mit "The Dirty South" (zu finden auf ihrem Debüt-Album "Soul Food" von 1995) die Klischees in Frage stellen, die über Rap aus dem tiefen Süden kursieren. Nebenbei verpassen sie so einem überaus komplexen Phänomen einen griffigen Titel.
Wer bei der Betrachtung von US-Hip Hop sein Augenmerk lediglich zwischen Ost- und Westküste hin- und herschweifen lässt, dem bleibt Wesentliches verborgen. Abseits dieser blühenden Zentren entwickelt sich im amerikanischen Süden eine eigene Szene, wie sie vielfältiger kaum sein könnte.
Betrachtet man den Facettenreichtum, den Hip Hop hier an den Tag legt, wird schnell deutlich: "Dirty South" (auch Down South oder Southern Rap) bezeichnet weniger musikalische Besonderheiten, vielmehr aber die geographische Herkunft seiner Urheber. Anders wären der sexistische Miami Bass der 2 Live Crew, der Southern Hardcore-Style der Geto Boys, die lyrischen Ergüsse von Arrested Development, Bubba Sparxxx' Country-Raps und Traktorenrennen, flockiger Funk von Outkast, Lil Jons Crunk-Juice-getränkte Schreitiraden, der Strip-Club-Sound von Mike Jones oder den Ying Yang Twins und DJ Screws zerhackstückte und bis an die Schmerzgrenze verlangsamte Tracks kaum unter einen Hut zu bringen.
Die Aufzählung macht deutlich: Im dreckigen Süden ist man aufgeschlossen. Ganz verschiedene Strömungen finden Verwendung. Einflüsse aus unterschiedlichsten Genres werden in den meist synthie-lastigen Produktionen verwurstet und grenzüberschreitende Innovationen gewagt. Solange das Resultat tanzbar und clubtauglich gerät und man möglichst noch Gelegenheit bekommt, (vorzugsweise mit Hilfe glitzernder Juwelen und dicker Luxuskarossen) seinen Reichtum zur Schau zu stellen, ist die Welt in allerbester Ordnung. Sampling spielt im Dirty South eine eher untergeordnete Rolle. Dafür findet man hier zugleich die schnellsten und die langsamsten Rhythmen der Rap-Geschichte.
Die in den 80ern tonangebenden Hip Hop-Labels schenken Rap aus den Südstaaten keinerlei Aufmerksamkeit, was nicht weiter verwundert, operiert man hier doch fernab der riesigen Absatzmärkte New York und Los Angeles. Wer es in Houston, Miami, Atlanta oder New Orleans zu etwas bringen will, ist auf Do-It-Yourself und eine florierende Indie-Szene angewiesen. Mixtapes entwickeln sich zum Medium der Stunde.
Mitte der 80er hebt Miami Bass zu seinem ersten Höhenflug ab. In der Tradition von Luther Campbells 2 Live Crew bringen im Lauf der Jahre zahlreiche Acts die Bootys der Nation zum Schütteln, nicht wenige davon (wie beispielsweise Trick Daddy) unter dem Dach von Slip-N-Slide.
Weniger partylastig, dafür inhaltlich wie musikalisch näher am Gangsta-Rap der Westcoast, treten Ende des Jahrzehnts die Geto Boys auf den Plan. Ihr Debüt feiern diese Herren 1989 vor Ort in Houston, Texas und erregen damit die Aufmerksamkeit Rick Rubins, der nur ein Jahr später das USA-weite Debüt der Crew präsentiert. Mit "Mind Playin' Tricks On Me" verzeichnet der Süden seinen ersten Superhit. "Dieser Track hat Rap aus dem Süden Tür und Tor geöffnet", bringt es Andre 3000 von Outkast auf den Punkt. Houston rückt ins Scheinwerferlicht. Die hier ansässigen Rap-A-Lot Records avancieren zum wirtschaftlich erfolgreichen Southern Rap-Label Nummer 1, dessen Boss Scarface zum ersten rechtmäßigen Träger des Titels "King of the South".
Ein halbes Jahr nach den Geto Boys debütieren Arrested Development in Tennessee, und ihre Berichte aus "3 Years, 5 Months & 2 Days In The Life Of ..." haben mit Sexismen aus Miami ebenso viel gemein wie mit den Gangsta-Lyrics aus Houston: Nichts. Statt dessen ebnen Arrested Development den Weg für Acts wie Outkast, die Dungeon Family und Goodie Mob. "ATLiens" treten gleich reihenweise auf den Plan: Atlanta entwickelt sich zu einem Zentrum des Dirty South. Nach ihrem großartigen Debüt erleben Outkast 2000 mit "Stankonia" den verdienten Durchbruch.
Unterdessen verfolgt Percy Miller unter seinem Alias Master P eine ganz andere Strategie. Aus seinem in Richmond gegründeten Plattenladen geht das Label No Limit hervor, das in den späten 90er Jahren nach einem Umzug nach New Orleans seine Blütezeit erlebt. Weit kommerziellere Töne, als sie in Atlanta erschallen, dringen an die Ohren eines äußerst kaufwilligen Publikums. Unter dem diamantenbewehrten Panzer-Logo feiern Silkk The Shokker, C-Murder, Mystikal, aber auch Snoop Dogg beachtliche Erfolge. Bunte Cover und Bling-Bling bis der Arzt kommt sorgen für den nötigen Wiedererkennungswert.
Einem ähnlichen Konzept hängt man, ebenfalls in New Orleans, bei Cash Money Records an. Hier finden unter anderem Pastor Troy und Lil Wayne eine Heimat. No Limit allerdings stößt an seine Grenzen. 2003 steht Master P vor dem Bankrott und streicht die Segel, gründet aber schon kurz darauf unter dem ausgesprochen kreativen Titel The New No Limit Records das nächste Unternehmen.
Werfen wir doch noch einmal einen Blick nach Houston. Hier experimentiert DJ Screw seit Beginn der 90er mit seiner eigenen Interpretation des dreckigen Südens und macht dabei seinem gewählten Künstlernamen alle Ehre. Überall dreht sich die Welt immer schneller, Screw schraubt das Tempo zurück. Langsamer, noch ein bisschen langsamer, quälend langsam. Hypnotisch und unaufhaltsam schrauben sich die sirupartigen Klänge in die Gehörgänge. Hübsch garniert mit zerhackten, wieder und wieder abgespielten Zeilen, die gerne auch aus einem ganz anderen Track stammen dürfen, kreiert Screw ein Sub-Genre, dessen Name eigentlich alles aussagt: Seine Musik ist Chopped & Screwed.
Als DJ Screw im November 2000 das Zeitliche segnet, durchdringt der von ihm kreierte Sound bereits den kompletten Süden. Labels wie Swishahouse nehmen sich seiner an. Michael 5000 Watts, Mike Jones, Paul Wall, Chamillionaire, Slim Thug und zahllose andere kommen auf dieser Schiene zu Ehren. Nicht selten verkaufen sich die Chopped & Screwed-Versionen von Alben besser als deren Originalfassungen.
Während sich in Virginia um Missy Elliott, Pharrell und die Neptunes, Timbaland und Clipse eine weitere Hip Hop-Metropole herauskristallisiert und Bubba Sparxxx die Kühe über den Zaun muhen lässt, bricht um die Jahrtausendwende in Memphis und Atlanta der Crunk-Wahnsinn aus. Die volle Konzentration liegt auf der (Strip-)Club-Tauglichkeit. Das Verlangen nach politischen, sozialkritischen oder spirituellen Inhalten spült man am besten mit einem ordentlichen Schluck Sizzurp herunter.
"To the windoooow, to the waaaaall!" Einfachste, sich penetrant wiederholende Hooklines werden vorzugsweise markerschütternd gebrüllt vorgetragen. Schreihälse wie Lil Jon und die Eastside Boyz, die Youngbloodz oder die (für ihren Beitrag zum Soundtrack von "Hustle & Flow" sogar Oscar-prämierte) Three 6 Mafia haben ihre Bestimmung und auch einigen Mainstream-Erfolg gefunden. Zwischen all den Kings of Crunk trägt Ciara das Krönchen der Princess des Genres.
Ob in Atlanta, Georgia, Houston, Memphis, New Orleans oder Virginia: Der Süden der USA rockt, und das derbe, lauthals und vor allem dreckig. Nicht nur Usher hat's erkannt: "Yeah!"