18. Januar 2022

"Ich bin kein Musikfan"

Interview geführt von

Vor einigen Jahren hielt Ian Anderson ein neues Album unter dem Namen Jethro Tull noch für keine besonders gute Idee. Glücklicherweise hat die Prog-Legende ihre Meinung geändert.

Mit "The Zealot Gene" erscheint das erste Album der Band seit 18 Jahren. Eigentlich ist aber fast alles beim Alten: Das aktuelle Line-up ist das langlebigste der Bandgeschichte, Anderson tut nach wie vor das, was er am besten kann ... und überlegt sich dann von Fall zu Fall eben, ob sein jeweiliges neues Werk ein Soloalbum oder eins unter dem Banner der legendären Band wird. "The Zealot Gene" klingt so, wie man sich das als Fan der 1967 gegründeten Band erhofft — und dass es schon bald mehr geben könnte, stellt der bekannteste Querflötist der Rockmusik in unserem Gespräch ebenfalls in Aussicht.

Mr. Anderson, wann kam Ihnen die Idee, dass Sie nun doch wieder ein Album unter dem Namen Jethro Tull veröffentlichen wollen?

Nun, die Entscheidung, ob es ein Ian-Anderson-Album oder ein Jethro Tull-Album wird, treffe ich normalerweise zu dem Zeitpunkt, an dem ich mit der Arbeit an der Platte beginne. Mit dieser Platte begann ich im Jahr 2017. Ich beschloss, ein Album mit neuem Material zu machen und es unter dem Namen Jethro Tull zu veröffentlichen, weil die Jungs in der Band seit durchschnittlich 15 Jahren mit mir auftreten, die auf drei oder vier Alben mitspielten, aber noch auf keinem offiziellen Jethro-Tull-Album. Es ging mir darum, ihre langjährige Rolle in der Band zu ehren. Für einige Leute ist das neue Album aufregender und wichtiger Teil ihres Lebens. Aber ich denke, für die meisten Leute ist es einfach nur ein bisschen Neugierde, um zu sehen, was ich diesmal vorhabe. Wir werden sehen, wie es in der Öffentlichkeit ankommt.

Als Sie 2014 "Homo Erraticus" veröffentlichten, erklärten Sie, dass Sie sich nicht sicher seien, ob eine weitere Jethro-Tull-Platte eine gute Idee sei.

Nun, damals war ich mir eben nicht sicher. Aber das war 2014. Drei Jahre später, als ich mit der Arbeit an diesem Album begann, entschied ich eben, dass es ein Jethro-Tull-Album werden würde. Im Nachhinein betrachtet hätte ich wahrscheinlich schon 2014 die Entscheidung treffen sollen, "Homo Erraticus" als Jethro-Tull-Album zu veröffentlichen, aber ich war mir einfach nicht sicher. Ich richte mich danach, wie ich mich fühle. Ich arbeite seit letztem Samstag an einem neuen Album, ich habe mit dem Schreiben und Aufnehmen eines neuen Albums begonnen, das im Jahr 2023 erscheinen soll. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wie es heißen wird und worum es geht. Ich treffe diese Entscheidungen also zu diesem bestimmten Zeitpunkt.

Wollen Sie schon verraten, ob es wieder ein Jethro-Tull-Album wird?

Ich denke, es ist zu früh für mich, um darüber zu sprechen, wie ein Album im Jahr 2023 heißen wird oder worum es geht. Ich glaube, das behalte ich noch eine Weile für mich. Vielleicht werde ich den Leuten Ende nächsten Jahres sagen, worum es geht.

Erzählen Sie mir doch ein wenig chronologischen Verlauf der Arbeiten an "The Zealot Gene".

Der Zeitplan sah so aus, dass wir im März 2017 fünf Tage geprobt und vier Tage aufgenommen haben. In dieser Zeit haben wir sieben Tracks aufgenommen, von denen ich vier später im Jahr fertiggestellt habe. Aber wir sind die meiste Zeit auf Tour, also habe ich sie nicht sofort fertiggestellt. Am Ende des Jahres hatte ich, glaube ich, vier von ihnen fertig. Sie waren schon noch etwas durcheinander, wir reden nicht von den finalen Mixes. Ich nahm an, dass ich irgendwann im Laufe des nächsten Jahres oder so die letzten fünf Songs aufnehmen würde. Aber 2018 und 2019 waren wir sehr viel auf Tour — und dann kam die Pandemie. Irgendwann dachte ich, dass es ein guter Zeitpunkt wäre, das Album fertigzustellen. Aber wir befanden uns im Lockdown. Ich konnte mich nicht mit der Band treffen. Und selbst nach dem Ende des Lockdowns erschien es mir unklug, dass wir gemeinsam in einem kleinen Raum dieselbe Luft atmen sollten. So beschloss ich Anfang dieses Jahres, da die Dinge wieder in Bezug auf die Pandemie wieder schlimmer wurden, dass ich einfach weitermachen und es alleine zu Hause fertigstellen würde. Also habe ich gesagt, dass ich die letzten fünf Songs nur mit einer Akustikgitarre und einer Flöte und ein paar anderen Instrumenten aufnehme, und einige der anderen Jungs haben ihre Parts hinzugefügt, indem sie mir ein paar Audiodateien geschickt haben, die ich in den endgültigen Mix eingebaut habe. Das mag ein Kompromiss sein, aber ich denke, dass es ein gutes Ergebnis lieferte, weil es bedeutete, dass das Album, klanglich gesehen, fünf Songs enthielt, die ein anderes Gefühl und eine andere Art von Instrumentierung hatten. Wir waren nicht zwingend auf Schlagzeug-und-Bass-Rocksongs aus. Ich finde, dass es dem Album am Ende zugute gekommen ist, dass es dadurch diese Vielfalt, diese dynamische Bandbreite bekam. Besonders das erste Jahr der Pandemie war für Musiker ziemlich schlimm, weil sie mehr oder weniger nicht auf Tour gehen konnten.

"Es war ein ziemlich deprimierendes Jahr"

Wie verbrachten Sie denn dieses erste Pandemiejahr?

Ich habe die meiste Zeit im Büro gesessen, Sachen abgesagt, versucht, Flugtickets zurückzubekommen. Es war ein ziemlich deprimierendes Jahr, weil wir immer wieder Konzerte verschieben mussten.

Das jetzige Line-up ist das dienstälteste Jethro-Tull-Line-up der Geschichte — davon abgesehen, dass Joe Parrish 2019 für Florian Opahle hinzugekommen ist. Erzählen Sie uns doch ein wenig von der musikalischen Dynamik innerhalb der Gruppe.

Florian Opahle hat 2005 angefangen, mit mir zu spielen. Und er ist ein paar Mal für Martin Barre eingesprungen, als der nicht für Konzerte zur Verfügung stand. David Goodier, der Bassist, begann 2004 mit mir zu arbeiten, John O'Hara dann 2005. Scott Hammond, der Schlagzeuger, begann 2010. Und dann kam Joe Parish im Februar 2020 dazu. Aber wir haben es nur geschafft, zwei Konzerte zu spielen im Jahr 2020, wegen der Pandemie. Wir haben eine Gruppe von Leuten, die unterschiedliche musikalische Hintergründe haben: John O'Hara kommt aus der Welt der klassischen Musik und David aus der Welt des Jazz. Scott Hammond ist eine Art Jazz-Funk-Schlagzeuger. Florian ist ein Rock-Gitarrist, und Joe Parish würde ich als Folk-Rock-Gitarrist bezeichnen, weil er eine Affinität zu progressiver Folk-Musik hat. Der musikalische Hintergrund ist also recht vielfältig. Aber ich denke, das ist eine gute Sache. Denn man kann Elemente des Musikstils und der Performance einbringen, die die Stärken der Leute sind. Aber es ist auch gut, sie herauszufordern, indem man sie Musik spielen lässt, mit der sie manchmal nicht so vertraut sind oder die nicht ihre Lieblingsmusik ist. Ich glaube, das ist für uns alle gut, auch für mich, der ich manchmal an musikalischen Darbietungen teilnehme, die weit außerhalb meiner Komfortzone liegen. Deshalb spiele ich manchmal auf den Platten anderer Leute mit und muss versuchen, innerhalb eines Musikstils eine Möglichkeit für mich zu finden. Das ist etwas, was ich vielleicht gar nicht so sehr mag. Aber wissen Sie, es ist eine gute Disziplin, eine gute Herausforderung.

Was wäre denn die übliche Herangehensweise im Studio gewesen, wären wir nicht in einer Pandemie?

Die üblichen Methoden, denke ich, gehen wahrscheinlich auf die frühesten Tage zurück. Auf den Gedanken, dass es gut ist, Musik zu proben, dann ins Studio zu gehen und sie so weit wie möglich so aufzunehmen, als würde man das Ganze gerade live auf der Bühne machen. Ich glaube, das ist meine bevorzugte Art und Weise. Das habe ich bei einigen frühen Alben oft gemacht, und auch "Thick As A Brick" wurde außerhalb des Aufnahmestudios geprobt.

Dann kamen wir ins Aufnahmestudio und nahmen alles auf. Nachdem wir es durchgespielt hatten, nahmen wir den größten Teil des Albums auf, so als wären wir auf der Bühne. Wir haben also geprobt, dann sind wir ins Aufnahmestudio gegangen und haben es alle zusammen im Studio gespielt, was ich für die befriedigendste Art halte. Aber manchmal stellen die Leute später fest, dass einige Elemente ihrer Performance nicht zu ihrer Zufriedenheit sind, und sie wollen einen Teil der Musik nochmal machen. Naja, das ist in Ordnung, das müssen wir alle manchmal tun. Der Spirit einer Live-Aufführung, den mag ich am liebsten — und das ist auch die Art und Weise, die wir am häufigsten aufgenommen haben. Aber es gibt Zeiten, wo es eben Overdubs sein müssen. Vor allem, wenn man Projekte macht, bei denen man viele Instrumente selbst spielt, und man kann sie natürlich nicht alle gleichzeitig live spielen.

Wie durchkomponiert sind Ihre Songs denn, wenn Sie sie ihren Kollegen präsentieren?

Sie bekommen alle Texte, sie bekommen die Musik, die Chord-Sheets, sie bekommen ein paar Demos, die ich gemacht habe, die sie in die richtige Richtung bringen, und dann haben sie etwas Zeit, sich vorzubereiten. Anschließend können wir im Studio proben und die Songs durchspielen. Dann nehmen wir die Feinabstimmung vor.

Wir feilen dann ein oder zwei Tage daran und kommen zu dem Punkt, an dem wir ein endgültiges Arrangement haben. Sie haben also alle die Möglichkeit, den Teilen des Stücks ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Aber in den letzten 15 Jahren haben sie in der Regel eine ziemlich gute, solide Vorstellung davon bekommen, worum es in den Songs geht und wie das allgemeine Arrangement aussehen sollte. Wenn sie die Musik vorbereitet haben und sich anhören, was ich ihnen geschickt habe, haben sie zu 60 Prozent ihren Beitrag geleistet. Ich schreibe ihnen nicht jede einzelne Note vor, die sie spielen müssen. Ich versuche einfach, ihnen einen guten Überblick zu geben, damit sie wissen, wo sie ansetzen sollen.

"Ein Wegweiser, der sagte: Progressive Rock? In diese Richtung!"

Sie gelten als einer der Wegbereiter des Progressive Rock. Hören Sie selbst noch Musik?

Nun, ich war nie wirklich ein großer Musikhörer, und ich bin kein Musikfan in dem Sinne, dass ich Musik zur Entspannung höre oder um Spaß zu haben. Ich erinnere mich, dass ich Anfang der 70er Jahre dachte: Ich habe jetzt genug Musik in meinem Leben gehört. Von Blues, über Jazz, bis hin zu klassischer Musik, Folkmusik und religiöser Musik. Und, wissen Sie, ich habe genug Einflüsse für den Rest meines Lebens. Mitte der 70er Jahre habe ich dann wirklich aufgehört, Musik zu hören.

Ja, ich höre manchmal Musik, aber meistens nur Musik, mit der ich bereits vertraut bin, Händel, Beethoven oder Muddy Waters. Aber normalerweise nur, wenn ich im Flugzeug sitze und versuche, mich von den Turbulenzen abzulenken. Manchmal ist Musik eine beruhigende Sache. Aber ich höre nicht wirklich Musik, ich spiele sie, ich verdiene damit mein Geld. Das ist es, was ich tue. Ich bin ein Musiker. Ich höre also nicht wirklich viel von der Musik anderer Leute, weder früher noch heute. Wenn Sie mich 1970 gefragt hätten, was in den Top 10 der Charts war, hätte ich das nicht beantworten können. Und wahrscheinlich hätte ich von der Hälfte der Künstler, die in den Top-10-Charts waren, noch nie etwas gehört. Das Gleiche gilt auch heute noch. Ich bin einfach nicht wirklich daran interessiert, meine musikalische Erfahrung zu erweitern, indem ich mir zeitgenössische Musik anhöre. Und vielleicht liegt das zum Teil daran, dass ich, wenn ich es tue, sofort die musikalische Abstammung nachvollziehen kann.

In gewisser Weise scheint es für viele Leute eine neue musikalische Erfahrung zu sein, vielleicht auch für die Leute, die die Musik machen, also die Leute in ihren Zwanzigern. Für sie ist alles glänzend und neu, und für ihre Fans ist es etwas, das sie vielleicht noch nie gehört haben. Aber ich bin seit 60 Jahren in der Welt der Musik unterwegs, und es ist schwer für mich, etwas zu hören und zu denken: 'Wow, das habe ich noch nie gehört.' Ich kann die Ideen zurückverfolgen, sie scheinen ziemlich vorhersehbar zu sein. Lyrisch interessiert mich wenig von dem, was ich in den letzten 40 oder 50 Jahren gehört habe, ich habe nicht wirklich das Gefühl, dass Musiktexte für mich interessanter geworden sind, sie sind normalerweise ziemlich simpel, und ich bin nicht sehr beeindruckt von den meisten Dingen, die ich höre. Weshalb ich wahrscheinlich mehr Freude an klassischer Musik habe.

Klar, damals gab es durchaus Dinge, die wirklich bahnbrechend waren. Es ist erstaunlich, wenn man sich das erste Pink-Floyd-Album "Piper at the Gates of Dawn" anhört. Es war eine einzigartige und neue Erfahrung, dieses Album zu hören. Es war ein Wegweiser für diejenigen von uns, die 1967 Musiker werden wollten. Ein Wegweiser, der sagte: Progressive Rock? In diese Richtung. Es war der Beginn der progressiven Musik.

Und das ist eine wichtige Erfahrung. Aber ich glaube nicht, dass ich etwas Vergleichbares gehört habe, was die Musik angeht, die ich von anderen so genannten progressiven Rockbands höre, die es heute gibt. Ich bin also nicht wirklich ein Musikfan, aber das würde ja auch niemand erwarten, oder? Ich verbringe im Durchschnitt jeden Tag meines Lebens drei oder vier Stunden damit, Musik zu spielen und die Musik zu hören, die ich spiele oder lerne oder probe oder schreibe. Warum sollte ich mehr Zeit mit dem Hören von Musik verbringen wollen als das? Das ist ungefähr so viel, wie ein Mensch ertragen kann vor allem, wenn man Flötist ist, was einen nach zwei Stunden in den Wahnsinn treibt.

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