30. Oktober 2019

"Ich habe keine Angst mehr vor der Angst"

Interview geführt von

Leprous gehen ihren Weg der konstanten Veränderung weiter und veröffentlichten dieser Tage "Pitfalls", ihre sechste Platte. Darauf klingt die norwegische Progressive-Rock-Formation wiederum anders als zuvor und nimmt sich textlich ein schweres Thema zur Brust. Zeit für ein offenes Gespräch mit Bandkopf Einar Solberg.

350 Millionen Menschen leiden global nach einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation an Depressionen. Solberg war einer davon. Niedergeschlagenheit und nervöse Episoden bestimmten für eineinhalb Jahre sein Leben. Glücklicherweise geht es ihm inzwischen besser und er nutzte die neugefundene Energie, um ein ganzes Album über seine Erfahrungen im Umgang mit der Krankheit zu schreiben. Und so dreht sich das folgende Gespräch nicht nur um Musik, sondern auch um ein oftmals totgeschwiegenes Sujet.

Für das neue Album "Pitfalls" habt ihr den Leprous-Sound signifikant verändert. War das eine bewusste Entscheidung?

Das ist einfach so passiert. Für mich funktioniert es nicht, konkrete Pläne zu machen. Wenn ich was schreibe, ende ich meistens ganz woanders, als ich dachte. Ich lasse mich lieber treiben und schaue, wo ich lande.

Wie sieht denn der Schreibprozess bei Leprous aus? Wie kommt ihr auf all diese Ideen?

Ich schreibe immer in Abschnitten. Nach der ersten "Malina"-Tour habe ich begonnen, ein paar Skizzen anzufertigen. Ich hatte nicht geplant, so schnell mit dem Schreiben anzufangen. Aber dann saß ich da und programmierte ein paar Dinge und schon kamen mir einige Ideen. Für "Below", unsere erste Videosingle, hatte ich sehr schnell die Akkorde und Gesangslinien beisammen. Bei anderen Songs gestaltet sich der Prozess länger. Nicht weil diese komplizierter sind, sondern weil ich länger danach suchen muss, was ich eigentlich will. Wenn ich im Flow bin, kann ich jedoch auch einen komplizierten Song innerhalb einiger Stunden schreiben. Es gibt also keine klare Methode, es hängt alles mit meiner Stimmung zusammen, in der ich mich gerade befinde. Ein Unterschied bei diesem Album war, dass ich nicht alle Gitarrenmelodien komplett komponiert habe. Ich programmierte die Songs elektronisch und gab sie den anderen, damit sie dann ihr Ding damit machen konnten. Die meisten elektronischen Elemente habe ich dann später wieder entfernt. Der Prozess war also dieses Mal offener und weniger typisch, als man das bei einer Rockband vermuten würde.

Wie viel Einfluss haben die anderen Bandmitglieder denn auf das Schreiben von Songs? Die Credits für die Musik liegen ja fast ausschließlich bei dir.

Bei "Distant Bells" kam die ursprüngliche grobe Idee von Simen, unserem Bassisten. Aber davon abgesehen schreibe ich mehr oder weniger alles alleine. Und dann geht es anschließend um die Instrumentierung, da können sich die anderen einbringen. Ich lege grundsätzlich die Struktur eines Songs fest, aber der Prozess ist offen für jeden, der daran mitwirken möchte. Ich schreibe am meisten, mir macht es aber wohl auch am meisten Spaß.

Stichwort "Distant Bells": Bei diesem Song und auch auf dem ganzen Album gibt es längere Strecken, wo die Gitarristen nicht so viel zu tun haben. Sind sie damit glücklich?

Sie können machen, worauf sie Lust haben. Es ist also ihre Entscheidung, ich habe niemanden davon abgehalten. Wir haben uns die Songs zusammen angehört und gefragt: Was braucht der Song gerade? Denn darum geht es uns. Wir ziehen da alle an einem Strang. Nur auf diese Weise kann man richtige Dynamik erzeugen, meiner Meinung nach. "Distant Bells" wurde von unserem Bassisten begonnen, was lustig ist, weil der Bass erst beim letzten Teil des Songs einsetzt. Als wir den Song vorgestellt haben, sagten die Leute: Das klingt wie ein Soloprojekt von Einar. Dabei hatte ich die Grundidee nicht mal geschrieben, haha. Aber die Gitarristen spielen durchaus, in diesem Song gibt es beispielsweise viele Akustikgitarren. Die Platte ist sehr detailliert und man nimmt diese Feinheiten nicht sofort wahr. Bei "Below" und "Alleviate" spielen die Gitarren eine ganze Weile wirklich nichts. Live wird das so aussehen, dass einige Bandmitglieder andere Instrumente spielen werden, als ihr gewohnt seid.

Wenn man in neue musikalische Gefilde aufbrechen will, muss man etwas verändern. 99 Prozent der Rockbands heutzutage schreiben reine Gitarrenmusik. Aber damit limitierst du dich kreativ so sehr. Eine Wand von Gitarrensounds nimmt so viel Raum ein, ich lasse die Leute gerne etwas darauf warten und sich danach sehnen. Es gibt eine Menge Gitarren auf dem Album, aber sie spielen eine andere Rolle als auf einer traditionellen Metalplatte.

"Ich bin wirklich kein guter Rapper"

Die erwähnten Akustigitarren kommen auch bei "Observe The Train" sehr markant zum Einsatz. Habe ich sie vorher überhört oder ist das zum ersten Mal auf diesem Album der Fall?

Wir haben bereits dreimal mit akustischen Gitarren gearbeitet. Bei zwei Songs auf dem ersten Album, "Tall Poppy Syndrome" und auch bei "Mediocrity Wins" von "Bilateral". Aber wir haben noch nie etwas mit Nylonsaiten aufgenommen. Bei diesem Song war offensichtlich, dass wir welche benutzen würden, weil das Lied so ein akustisches Gefühl mitbringt. Mal abgesehen von dem Synth-Bass natürlich, aber es ist immer schön, solche Gegensätze zu haben.

"I Lose Hope" besitzt einen starken Dance-Vibe und könnte auch auf den Tanzflächen der Welt funktionieren, wäre da nicht diese düstere Atmosphäre. Wie ist das zustande gekommen?

Das war interessant, denn dieser Song hat sich deutlich verändert, als wir das Studio betreten haben. Unser Schlagzeuger und unser Bassist kamen auf die Idee, die Nummer etwas tanzbarer zu machen, und bastelten mit diesem leichten Hip Hop-Einfluss herum. Der hätte wunderbar mit Rap-Vocals zusammengepasst. Das haben wir im Studio auch mal ausprobiert und hatten eine Menge Spaß damit. Aber es wäre vermessen für mich, denn ich bin wirklich kein guter Rapper.

Vielleicht ein Gast-Rapper nächstes Mal?

Ich weiß nicht, das fühlt sich alles etwas sehr erzwungen und möchtegern-mäßig an. Schaut her, wie vielfältig wir sind, und so. Es ist toll, neue Territorien zu erschließen, aber man kann es auch übertreiben. Experimente wie dieser Song sind jedenfalls öfter passiert im Studio. Wir hatten gar nicht vor, das Stück aufs Album zu packen. Aber dann veränderte sich der Song so sehr bei den Aufnahmen. Er ist sehr Schlagzeug- und Bass-lastig. Du hörst jedes Detail beim Bass.

Wo du gerade die Experimentierfreudigkeit ansprichst: Kannst du dir vorstellen, mal einen Song auf Norwegisch aufzunehmen?

Vielleicht. Aber ich singe auf Englisch, seit ich 15 bin und hab so gut wie nie Norwegisch gesungen. Englisch ist als Sprache viel natürlicher für mich als Gesangssprache als Norwegisch. Natürlich habe ich einen norwegischen Akzent, aber Englisch fühlt sich näher an, ich weiß nicht, warum. Wir haben musikalisch keine enge Verbindung zu Norwegen, sind auch kein Teil einer Szene hier. Wir sind immer eine internationale Band gewesen.

Auf "Pitfalls" benutzt ihr viele Streicher. Einen sehr schönen Cello-Teil gibt es beispielsweise in "At The Bottom". Was kannst du mir darüber erzählen?

Dieses Cello spielt Raphael Weinroth-Browne. Er ist fast ein sechstes Bandmitglied, war auch schon bei "Malina" dabei und begleitet uns inzwischen auf den meisten Touren. Dieser Outro-Teil wurde halb von mir geschrieben und zur anderen Hälfte von ihm improvisiert. Das gibt dem Song eine ganz besondere Note. Er deutet meine Gesangsmelodien an, befreit sich dann aber davon und wir enden schließlich in einem komponierten Part. Raphael haben wir vor den Aufnahmesessions zu "Malina" kennen gelernt, ihn sofort angeheuert und seitdem ist er bis auf die Festival-Gigs immer dabei. Er ist kein offizielles Mitglied von Leprous, weil er weit von uns entfernt wohnt und wir außerdem nicht all unsere Zeit der Band widmen können.

Ist es denkbar, dass ihr mit einem kompletten Orchester aufnehmt?

Natürlich, wenn wir uns das leisten könnten. Aber früher oder später wird es passieren, denn unsere Musik besitzt ja oft diesen orchestralen Charakter. Es wird dann aber definitiv kein norwegisches Orchester zum Einsatz kommen, weil das ökonomisch unvorstellbar ist. Möglicherweise ein Orchester aus Prag oder Warschau, die sind hervorragend und deutlich erschwinglicher. Auf dem Album befinden sich viele Cello- und Violinen-Passagen, die sind dann jeweils geschichtet, um voller zu klingen. Unsere beiden Streicher haben tolle Arbeit abgeliefert.

Ist der Chor bei "The Sky Is Red" denn echt?

Ja, das ist ein echter Chor aus Belgrad in Serbien. Wir sind hingeflogen und haben die Passagen dort aufgenommen, es war ein sehr ambitioniertes Projekt. Die Harmonien sind sehr pointiert und schwierig zu singen. Ich hatte vorher nie für einen klassischen Chor geschrieben.

Wo habt ihr die anderen Teile aufgenommen?

Den Chor in Serbien und einen Großteil der Vocals in meiner Hütte in Norwegen. Der Produzent reiste mit seinem ganzen Equipment dort hin, also mit den Preamps, Kompressoren und Mikrofonen, die wir auch im Studio benutzen. Insgesamt haben wir 80 Tage im Studio verbracht und hatten zwischendurch alle Lust auf eine räumliche Veränderung. Also schlug ich meine gemütliche Hütte vor und der Produzent hatte Lust drauf. Da ist also ein dicker Anteil der Vocals aufgezeichnet worden und außerdem einige der akustischen Gitarren.

Eine Art Patchwork-Album also.

Ja, aber so machen es heutzutage alle. Der Unterschied besteht allerdings daran, dass der Produzent stets anwesend war, ob wir nun im Studio aufgenommen haben oder woanders. Niemand hat etwas zu Hause bei sich aufgenommen. Das kann eine ganze Ladung neuer kreativer Ideen nach sich ziehen, wenn man nicht alleine im stillen Kämmerchen hockt und an der Perfektion einer Idee herumfeilt. Der ganze Prozess wurde dadurch offener. Ich würde gerne wieder mit David (Castillo, Produzent - Anm. d. Red.) arbeiten, aber ich möchte nicht noch mal 80 Tage in dieser Garage verbringen, haha.

"In meiner Jugend sind dramatische Dinge geschehen"

Da ihr so viele Tage an der Platte gearbeitet habe, frage ich mich: Wie entscheidet man, dass es jetzt reicht, dass die Songs nun fertig sind?

Deadlines, haha. Wir wollten noch mehr Songs als Bonustracks aufnehmen und hatten damit auch angefangen. Aber dann wurde uns klar: Wir müssen genau jetzt entscheiden, welche Songs definitiv aufs Album kommen, weil uns die Zeit davonrennt und wir uns konzentrieren sollten. So war das. Aber das ist das Positive an Deadlines. Wenn du keine hast, arbeitest du langsamer und weniger effizient. Die Frist zwingt dich, fertig zu werden und abzuliefern. Daher setze ich immer Deadlines, sonst würde ich nie was geregelt bekommen. Ich schiebe zu gerne Dinge auf.

Lass uns etwas über das Artwork sprechen. Es wurde nicht speziell für das Album angefertigt, sondern existierte vorher schon. Was hat dich zu diesem Motiv hingezogen?

Wir hatten uns einige Entwürfe und Ideen fürs Cover angeschaut. Simen, unser Bassist, stellte mir dann diese Künstlerin vor, Elicia Edijanto. Als ich dann später nach Bilder von ihr googelte, tauchte dieses Gemälde auf. Und ich dachte: Wow, das passt perfekt zu dem gemeinsamen Thema der Texte. Wir haben sie also kontaktiert und das Bild gekauft.

Was bedeutet dir das Motiv denn? Ein Junge sitzt auf einer großen Buddha-Statue und spielt Flöte.

Ich habe keine Ahnung, was es der Künstlerin bedeutet. Aber darum geht es mir in der Kunst sowieso, dass man seine eigene Interpretation auf etwas legt und sich das Werk zu eigen macht. Kunst soll etwas geheimnisvoll sein. Für mich repräsentiert der Buddha Achtsamkeit und Gelassenheit. Der Junge stellt die Gedanken dar, die in dein Bewusstsein spielen. Diese Gedanken schießen in deinen Kopf, ob du willst oder nicht. Du kannst aber festlegen, wie viel Spielraum du ihnen einräumst. Bis zu einem gewissen Grad entscheidest du, wie viel du davon annimmst.

Deine Interpretation gefällt mir in Bezug auf die Texte des Albums sehr. Das ganze Album dreht sich um deinen Kampf mit Depressionen. Wann hast du gemerkt, dass du darunter leidest?

Schwierig. Du hast die Ursache und du hast die Trigger. Die Trigger lassen sich schnell identifizieren, aber die Ursache nicht. Denn diese gestaltet sich oft kompliziert und besteht aus einer Mischung von Dingen, die in deinem Leben passiert sind. In meinem Leben, speziell in meiner Kindheit und Jugend, sind einige dramatische Dinge geschehen. Ich möchte darüber aber nicht detailliert sprechen, aus Respekt gegenüber anderen Personen, die involviert waren. Viele Jahre habe ich die Zeichen ignoriert, und das funktionierte sehr lange. Man kann sich über große Zeiträume ablenken und mit anderen Sachen beschäftigen, sogar ganz tolle Zeiten haben. Du weißt aber, dass dort Dinge lauern, mit denen du dich auseinandersetzen solltest, es aber nicht tust. Das war meine Strategie.

Dann hatte ich eine gesundheitlich schwächere Periode und fiel irgendwie in diesen nervösen destruktiven Gedankenprozess. Die Realität ändert sich nicht, aber in deinem Kopf stellst du dir Gefahren vor, die dir geschehen könnten und steigerst dich rein. Irgendwann befand ich mich in dem Zustand, dass mir alles egal wurde, das mir vorher etwas bedeutet hatte. Ich schrieb zu dem Zeitpunkt noch Songs, aber sehr lustlos. Allmählich kamen wieder einzelne Lichtstrahlen herein und ich nutzte diese, um kreativ zu werden. Je mehr ich mich kreativ betätigte, desto heller wurden das Licht wieder. Doch ich fiel immer wieder in die dunklen Löcher, weil ich weiterhin dieselbe Strategie anwandte. Ich wollte die schlechten Gedanken unterdrücken und mich nur auf die positiven konzentrieren. Aber das ist der falsche Weg. Du musst die negativen Gedanken wahrnehmen und akzeptieren, dass sie ein Teil von dir sind. Mach deinen Frieden damit, dass du dich manchmal schlecht fühlen wirst.

Diese Erkenntnis war der Wendepunkt für mich. Es ist vollkommen okay, sich so zu fühlen. Es bedeutet nicht, dass dieses Gefühl für immer andauert. Also habe ich mich mit der Angst und der Nervosität angefreundet. Dann verschwand plötzlich die Angst vor der Angst, die mich so lange gefesselt hatte, und es blieb nur noch die Angst. Die Angst war aber kleiner als vorher. Diese neue Perspektive habe ich durch Achtsamkeitsübungen und Meditation erlernt. Man trainiert, die Gedanken achtsam zu betrachten, ohne mit diesen zu interagieren. Und sie vorbeiziehen zu lassen. Diese Gedanken sind nicht die Realität. Wir sind gut darin, uns vorzumachen, unsere Gedanken seien die Realität, wenn sie es tatsächlich oft nicht sind.

Das war der Durchbruch auf die andere Seite. Es bedeutet nicht, dass ich nie wieder etwas derartiges durchleben werde. Aber ich besitze jetzt viel mehr Werkzeuge, um mit solch einer Situation umgehen zu können. Ich habe nicht mehr diese große Angst, dass es wieder passieren könnte.

Hast du dir denn zwischendurch psychologische Hilfe geholt?

Ich bin zu ein paar Sitzungen gegangen, aber ich habe nicht die richtige Person gefunden. Man braucht den richtigen Psychologen, damit es funktionieren kann. Ich fand bald heraus, dass die Person mich in eine Schublade stecken wollte, in der ich mich nicht gesehen habe. Vorher hatte ich so viele Bücher gelesen und so viel Recherche betrieben, dass ich das Gefühl bekam, dass mir der Psychologe nur Dinge erzählte, die ich bereits wusste. Ich denke, für eine richtige Langzeittherapie bräuchte ich jemanden, der mich richtig versteht. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich immer viel Unterstützung von meinem Umfeld hatte und viel Hilfe erhielt. Also für den Moment bin ich aus der Sache raus, aber ich stehe einer langen Therapie offen gegenüber. Vor allem in den Phasen, wo ich mich nicht schlecht fühle, würde ich gerne noch mehr Werkzeuge an die Hand bekommen. Für den Fall, dass es mir wieder schlechter geht. Aber es muss die richtige Person sein. Bei dem letzten Psychologen bekam ich oft den Eindruck, ich sollte mich noch schlechter fühlen, als das der Fall war.

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