laut.de-Kritik
Drei volle Stunden verausgabten sich die New-Rocker im Grünspan in Hamburg.
Review von Gurly SchmidtBeim Eislauf gibt es die Pflicht und die Kür. Seit Hamburg ist klar, dass Live in ihrem früheren Leben Eisläufer waren - die Show glich einem Dreifach-Axel mit 56° -Schraube in der Luft: Drei volle Stunden verausgabten sich die New-Rocker im kleinen aber bezaubernden Grünspan in Hamburg - ausverkauft nach vier Stunden.
Kurz nach neun kommt Edward Kowalczyk auf die Bühne, allein. Aber was ist das? "Cut your hair, man!" schreit es im Publikum: Die jahrelange Glatze ist einem gelben Beany mit lockig-wallendem Nackenhaar gewichen. Doch was dann kommt, lässt diese modische Entgleisung bald vergessen. "Ich werde jetzt einen ziemlich rockigen Song akustisch spielen, sehr laut" sagt er und fängt an. "Simple Creed", die neue Single von Live. Ohne Trickys rauch-sprechigen Beitrag versteht sich, den kann Ed auch alleine singen. Dann kommt Chad Gracey, der Drummer auf die Bühne. Mit kleinen Bongos setzt er sich auf die Bühne - "toy-drums", wie Ed erklärt. Süß....
Nach und nach erscheinen alle Bandmitglieder und noch zwei mehr (der Keyboarder Michael Railo, der im Laufe der Show erstaunliche Stevie-Wonder-Qualitäten entwickelt und Adam Kowalczyk, Eds Bruder an der zweiten Gitarre). "Wir machen heute eine andere Show, versuchen es wenigstens", sagt Ed und tatsächlich ist die Show gänzlich anders: Keine Setlist - und das ist verdammt ungewöhnlich für Live -, Beratungsgespäche "was spielen wir jetzt", Liederwünsche aus dem Publikum werden erfüllt, hier und da ein paar kleine Patzer und das alles wirkt so echt wie nie zuvor.
Ed gibt alles mit seiner unverwechselbaren Stimme, redet wie ein Wasserfall, er ist vollkommen verwandelt, ja richtig aufgedreht. "Tequila für alle" schreit er und möchte das Geld seiner Plattenfirma mit allen verprassen. Hätte er mal selbst in die Tasche gegriffen, denn es reicht gerademal für ein Tablett, das er dann in den vorderen Reihen verteilt - vorne übrigens die Hardcore-Fraktion des "Nederlandse Live-Fansclubs" - logisch (Dank je wel Rik voor de foto's!).
Sie spielen alles. Und ich meine alles. Hätte man gedacht, die Show wird ein Promo-Streich für die neue Platte V - römisch 5 - (VÖ 17.09.01), wurde man überrascht und überwältigt: Gerademal vier Songs spielten sie von V (und die rocken gewaltig), der Rest ist Geschichte, die Geschichte von Live von Mental Jewlery über Throwing Copper, ein wenig Secret Samadhi und eine Prise The Distance to Here. Aus ihrem Hammer-Album Throwing Copper spielten sie so ziemlich alle Songs: Inklusive White, Discussion und Waitress - Songs die eigentlich nie live gespielt werden: Ein süßer Traum in Musik. Ed vergisst die Texte, holt Leute auf die Bühne, die ihm soufflieren sollen, fängt an, irgendeinen Quatsch zu texten, lässt sogar ein Mädel singen (grausam, aber hier zählt wohl der olympische Gedanke).... Sie spielen The Beauty of Gray, Pain Lies on the Riverside und die Menge fängt an zu schweben im feucht-tropischen Klima des Hamburger Grünspans.
Ed ist ein gewaltiger Poser, trinkt sich langsam einen an, raucht sogar eine Kippe auf der Bühne, schickt seine "hardworking Rockband" nach zwei Stunden zur Pinkelpause, spielt einen Song alleine, holt sie zurück "could my rockband please come back to the stage" und droht damit, bis sechs Uhr morgens zu spielen. Chad Taylor, der Gitarist (irgendwie mindestens zehn Kilos leichter als bei der letzten Tour) kommt auf die Bühne und erzählt Geschichten über die Anstrengung, mit einem Sänger namens Ed zu touren: "Keiner hat eine fucking Idee darüber, wie es ist, mit Ed auf der Bühne zu stehen, sein Ego andauernd zu befriedigen." Und er hat recht, denn Ed steht hinter ihm und macht ihm Eselsohren. Und als Chad T. seine Ansprache mit "...but I love this man" feierlich beendet, kann Ed es nicht lassen und drückt Chad einigermaßen gewaltsam einen Zungenkuss ins Gesicht. Hmmmmm.
"Ich kann nicht mehr" höre ich hinter mir, und nach drei vollen Stunden, mit einer kowalczyk'schen Reibeisenstimme, gehen sie dann von der Bühne. Erschöpfte Zugabenrufe- die Leute sind auch fertig- und Ed kommt nochmal raus, vollkommen glücklich und meint "fucking thank-you". Es geht nicht mehr, Chad G.'s Daumen sei deformiert und danke und überhaupt....happy Edward!
Die Kür war mal wieder wunderbar, das Publikum torkelte musik-betrunken über die nasse Reeperbahn nach Hause, in alle Winde, aus denen sie gekommen waren. Hoffen wir auf die Pflicht irgendwann im Oktober dieses Jahres, wenn Live ihr neues Album V in Deutschland betouren werden.