3. November 2009

"Wir wollten nie eine Ska-Band sein"

Interview geführt von

Die legendären Madness nach Jahren mal wieder live erleben, unter freiem Himmel im Sommer, mitten in ihrer Heimat London. Melden gerade die MTV News. Verlockende Perspektive. Da wird nicht lange gefackelt. Die Reiseroute steht schneller als Steve Blame seine Abmoderation spricht.Wie zum Teufel ich im Jahr 1994 an Tickets für ein London-Konzert in der Prä-Internet-Ära gekommen bin, weiß ich zwar nicht mehr. Dass der Marathontrip zum zweiten Madstock-Festival sage und schreibe zwölf Stunden dauerte, da er die damals herkömmlichen und einzig bezahlbaren Transportmittel Zug und Fähre in Mitleidenschaft zog, allerdings schon.

Zurück ins Jetzt: Madness absolvierten inzwischen bereits fünf solcher Madstock-Auftritte, ihr Kult-Debütalbum "One Step Beyond" feiert 30-jähriges Jubiläum und unsere stürmische Festival-Begegnung liegt runde 15 Jahre zurück.

Live-Auftritt "in the middle of our street"

Einer dieser Gründe war der Stadt London offensichtlich mal wieder die besondere Ehrung wert, mit der Regent Street eine der Hauptverkehrsadern Central Londons an einem Sonntag im September für ein Open Air abzusperren. Ausrichter der Veranstaltung ist ein städtischer Radiosender namens Absolute Radio, der überdies Geburtstag feiert und neben dem Top-Act noch ein paar weitere Programmpunkte für die Feier verpflichtet hat.

Im Gegensatz zu den klingenden Namen Dawn Penn oder Ian Dury & The Blockheads, die ich vor 15 Jahren erleben durfte, stehen heute haufenweise Bands im Nachmittagsprogramm, die mit Ausnahme von Feelgood-Singer/Songwriter Newton Faulkner wahrscheinlich nur Absolute Radio-Stammhörern ein Begriff sind, etwa The Yeah You's, Theory Of A Deadman oder Scarlett & Viva. Aber man sollte sich nicht beschweren, zumal die Anreise in die Hauptstadt mit eineinhalb Stunden vergleichsweise paradiesisch ausfällt.

Interviews kurz vor der Show

Wie sich beim späteren Interview heraus stellt, besteht zumindest zwischen einem Live-Programmpunkt ein Link zu Madness. Scarlett und Viva heißen mit Nachnamen nämlich McPherson, genau wie Madness-Sänger Suggs. Ihren Auftritt, den der berühmte Papa nicht ganz unbelästigt zwischen Shoppern und Fans vor der Bühne studiert, sehe ich allerdings nicht, da ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg zum ebenfalls im Londoner Westend gelegenen Hotel befinde, wo die Interviews stattfinden.

Anlässlich des Konzerts (Stream-Ausschnitte in den Surftipps) und des nahenden Wiederveröffentlichungstrubels haben drei bis vier von sieben Madness-Mitgliedern eingewilligt, vor ihrer um 19 Uhr anberaumten, einstündigen Show ein paar Interviews zu geben. Auf meinem Zettel stehen Sänger Suggs und "ein weiteres Bandmitglied", letztlich ist es Drummer Woody Woodgate.

"Hast du meine Töchter gesehen? Haha!"

Anstatt in eine luxuriöse Suite führt mich der Labelkollege die schmalen Hoteltreppen hinauf ins Freie, wo es sich auf einer Dachterrasse mit Platz für 50 Personen ungefähr 70 bequem gemacht haben. Es herrscht dicht gedrängte Konzertatmosphäre: Menschen nippen an ihrem Getränk, Familienangehörige der Band drängen an die Bar und irgendwo singt La Roux ihr "Bulletproof", vielleicht auch auf der Terrasse, wer vermag das schon genau zu sagen.

Als ich mich dem Tisch von Suggs und Woody nähere, klärt der Sänger seinen Taktgeber hinter zwei Flaschen Becks gerade über den Auftritt seiner Töchter auf: "Hast du sie gesehen vorhin? War in Ordnung. Ich sags dir, sie haben ihre Tanzschritte die ganze Nacht lang geübt, aber noch heute Morgen sah das alles andere als toll aus, haha!"

In den folgenden 25 Minuten lässt es sich nicht vermeiden, dass die eine oder andere Tochter, Ehefrau, ein Neffe oder auch Medienmenschen den Madness-Sänger vom Gespräch ablenken. Da ihr Tisch genau am Terrasseneingang postiert ist, käme alles andere auch einem Affront gleich.

"'One Step Beyond' in der Hand zu halten, war unglaublich"

Eure neue Platte ist wieder eine Hommage an eure Heimat London. Habt ihr je darüber nachgedacht woanders zu leben?

Woody: Sehr interessante Frage.

Suggs: Es gibt auf der Welt einige Orte, die mir sehr ans Herz gewachsen sind.

Ihr seid aber nie weggezogen.

Suggs: Nein, eigentlich nicht. Oh, da kommt meine Familie: Hallo Sue, hallo Ann. Jamie, kannst du mal den Besucherstrom nach oben etwas einschränken in einer möglichst zivilierten Art und Weise? Schick sie an die Bar oder sowas, vielen Dank.

Ihr spielt heute mitten auf der Regent Street. Ist das eine Art Krönung eurer Karrirere, sowas wie das Abbey Road-Dachkonzert?

Woody: Das dürfte schwierig werden, denn wir stehen nicht auf einem Dach, sondern auf einer Bühne. Ich denke, es wird ein ganz normaler Auftritt, der nur zufällig mitten in unserer Straße stattfindet. (sagt tatsächlich: "in the middle of our street)

Suggs: Ich finde den Vergleich gar nicht so schlecht. Wir treten heute am Rande der Carnaby Street auf, in der Nähe von Saville Row, wo die Beatles ihr Ding gemacht haben. Dass eine große Straße in Central London für eine Band komplett abgeriegelt wird, ist keine Selbstverständlichkeit. Für mich ist es wirklich ein Privileg, durchaus vergleichbar mit dem Dachkonzert der Beatles.

Ist das jetzt ein ähnliches Gefühl so kurz vor dem Auftritt, wie vor einem eurer großen Madstock-Auftritte?

Woody: Nein, der Unterschied ist, dass wir heute ganz London, also das wahre London, unterhalten müssen. Die Leute werden von uns bespielt werden, ob sie wollen oder nicht. Ich habe heute schon mit ein paar Leuten gesprochen, die nur zum Shoppen gegangen sind und gar nicht wussten, was da heute geplant ist.

Suggs: Unser Publikum besteht heute aus glücklichen Shoppern. Nein, Madstock ist unser Festival für unsere Fans. Und obwohl ich annehme, dass auch heute einige wegen uns kommen werden, ist es doch ein schöner Gedanke, dass die Leute einfach nur einkaufen wollen und dabei trotzdem Madness sehen. Wenn wirklich eine halbe Million Leute kommen, wird das das größte Konzert sein, das wir je gespielt haben. Gleichzeitig aber auch das für die wenigsten Menschen, die je wegen uns gekommen sind.

Ihr feiert gerade mit einer großen Deluxe-Veröffentlichung euer 30 Jahre altes Debütalbum "One Step Beyond". Erinnert ihr euch noch an die Aufregung damals, als die Platte gerade erschienen ist?

Woody: Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als wir mit den Specials und Selecter auf Tournee gegangen sind und als das Album erschienen ist. Es war der 19. Oktober 1979, mein 19. Geburtstag. Im Roundhouse in Chalk Farm begann damals eine wundervolle Tournee, die mehr Aufregung mit sich brachte, als wir uns je erträumen konnten. Es waren einfach aufregende Zeiten damals.

Allein der Augenblick, als wir das erste Mal unser Album in der Hand hielten, mit unserer Band vorne und unseren Namen hinten drauf, das war - für uns als große Schallplattensammler - unglaublich. Vinyl ist ein haptisches Stück Geschichte. Dass die Platte dann noch so großen Zuspruch fand, war natürlich ebenso fantastisch.

Die Platte wurde praktisch über Nacht ein Erfolg. Wie hat der plötzliche Ruhm euer Privatleben verändert?

Suggs: Ich erinnere mich an zwei Fans, die eines Nachts auf mein Dach kletterten und meinen Namen riefen. Zumindest nehme ich an, dass es Fans waren, sie hatten gestreifte Pullis und Masken an und trugen große Säcke auf dem Rücken. Ja, es war seltsam am Anfang. All diese Leute, die einen belagerten. Ich erinnere mich, als ich einen Scheck über 30.000 Pfund bekam, was nach wie vor und in jeglicher Hinsicht eine große Menge Geld ist. Aber damals war es wie ein Scheck über drei Millionen.

Ich weiß noch, wie ich zu Dave Robinson (damaliger Boss von Stiff Records) sagte, dass ich das beängstigend finde und ich aus der Nummer vielleicht wieder raus will. Das passierte alles unglaublich schnell. Wir waren zwar schon eine ganze Weile zusammen seit den ersten Bandproben und spielten auch schon viele Konzerte, aber als es dann plötzlich abging - "One Step Beyond" stieg auf Platz 5 der Charts, als wir die Two Tone-Tour spielten, auch in Deutschland und Frankreich - waren wir plötzlich mitten in diesem unglaublichen Wirbelwind.

Wir hatten buchstäblich keine Zeit mehr, uns darüber Gedanken zu machen. Wir veröffentlichten ein Album und drei bis vier Singles pro Jahr, drehten Videos und wurden andauernd zu "Top Of The Pops" eingeladen.

Woody: Mein Privatleben änderte sich eigentlich vor allem dadurch, dass fremde Leute mich auf meinem Weg zur Wäscherei plötzlich mit meinem Vornamen grüßten. Ich hatte damals nämlich keine Waschmaschine und hing deshalb oft in der Wäscherei ums Eck herum.

Suggs: Eine Geschichte von damals ist relativ bekannt: Wir kamen einmal auf dem Flughafen Heathrow an und plötzlich empfingen uns tausende, kreischende Mädchen. Während wir uns noch an dem Anblick ergötzten, stürmte der Mob plötzlich über uns hinweg, weil der Flieger mit Duran Duran neben uns landete. Da waren zwei fette Mädchen mit Rucksäcken dabei - gut, fett darf man heute nicht mehr sagen - also, ich erinnere mich an zwei außergewöhnlich runde Mädchen ... (lacht) Insgesamt waren Madness am Anfang aber vor allem eine Jungs-Band. Erst als wir "My Girl" rausbrachten, änderte sich das ein wenig.

Aber wie Woody schon sagte, wir haben immer versucht, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben. Niemand von uns wurde von diesem Popstar-Virus infiziert, zumindest nicht übermäßig. Acht von zwölf Monaten im Jahr waren wir von zuhause weg wegen Tourneen und Albumaufnahmen, so dass die größten Beeinträchtigungen eigentlich jene waren, deine Freunde und deine Heimat so lange nicht zu sehen. Und übrig bleibt meistens nur schmutzige Wäsche, in Teilen öffentlich gewaschen.

Ihr habt die Specials erwähnt, die dieses Jahr eine triumphale Live-Rückkehr in England gefeiert haben. Habt ihr eine Show gesehen?

Woody: Nein, leider nicht, aber ich habe gehört, dass sie sehr gut waren. Es ist zwar etwas seltsam, dass Jerry Dammers nicht mehr dabei ist, aber der kocht wohl sein eigenes Süppchen in Sachen Specials. Ich hätte sie aber sehr gerne gesehen.

Sie holten Amy Winehouse auf die Bühne eines Festivals für "Ghost Town". Wenn ihr einen Gast einladen würdet, auf wen fiele eure Wahl und für welchen Song?

Suggs: Wir hatten Prince Buster mal für ein paar Songs auf der Bühne im Finsbury Park. Das war für uns als große Fans seiner Musik natürlich klasse, zumal nach 25 Jahren. Tja, wen würden wir einladen ... (wird abgelenkt) Hi Jim, die anderen hängen da hinten ab, siehst du? Dort drüben, genau ... Entschuldigung, wie war nochmal die Frage? Genau, mit wem wolltest du denn schon immer mal singen, Woody?

Woody: Also ich muss sagen, es gibt für mich keinen besseren Sänger als Suggs.

Suggs: Haa Haa Haa. (schaut rüber zur Bar:) Jim, wenn du schon auf dem Weg bist, bring mir doch noch ne Flasche Bier rüber, vielen Dank. Bei "Night Boat To Cairo" haben wir ja irgendwann mal angefangen, unsere Familien auf die Bühne zu holen, die ganzen Kinder eben und das wurde dann ein Selbstläufer und jetzt kommen immer Zuschauer zu uns hoch. Wir haben da gar keinen Einfluss mehr drauf.

"Letztendlich sind wir nichts als Träumer"

Woody erwähnte vorhin, dass die Specials ohne Dammers zurück kehrten. Wäre es denn möglich gewesen, dass auch Madness ihr Comeback nur zu sechst gefeiert hätten?

Suggs: Da sind wir jetzt natürlich mittendrin in einer alten Endlosdiskussion, denn manche würden gerne mehr machen und manche gerne weniger. Ich meine, wir haben oft mit einem Mann weniger live gespielt, weil der eine mal ein Baby bekam oder der andere einen Nervenzusammenbruch.

Es ist allerdings ein interessanter Punkt: Für mich persönlich sind Madness tatsächlich nur diese sieben Leute zusammen, deshalb ist es dieses Jahr auch so großartig. Nur unser Gitarrist Chris war zu Beginn der Albumaufnahmen zeitweise abwesend, aber wir warteten brav und irgendwann kam er wieder zurück. Ohoo, darf ich vorstellen, Ross Williams, der größte Radio-DJ des Landes.

Tach auch.

Suggs: Ross, wir sind hier gerade mittendrin in einer deutschen Radioshow.

Naja, sagen wir Online-Show.

Suggs: Meine Rede.

Ross Williams: Sieh an, ich dachte, ihr seid privat hier.

Suggs: Okay, sind wir auch. Wusstest du nicht, dass wir immer den Taperecorder mitnehmen, um unsere Gespräche aufzuzeichnen?

Es folgen ein zwei kurze Insider-Gags, bis sich der "größte DJ des Landes" dankenswerter Weise erbarmt und uns wieder alleine lässt.

Obwohl ihr schon Anfang der 80er Jahre eure Ska-Wurzeln zügig hinter euch gelassen habt, seid ihr den Ruf der archetypischen Ska-Band nie losgeworden. Auch zu euren Fans zählten stets zahlreiche Skinheads. Hat euch das nicht manchmal auch genervt?

Woody: Nein, man kann ja nicht sagen, dass man von den eigenen Fans genervt wäre, oder? People are people, aren't they? Wenn sie zu unseren Konzerten kommen und Spaß haben, sind wir glücklich. Wir können ja eh nicht bestimmen, wer unsere Musik hört und wer nicht.

Suggs: In den 80ern hatten wir tatsächlich mit dem Problem zu kämpfen, dass ein sehr geringer Teil unseres Publikums nicht nur kurze Haare hatte und sich amüsierte, sondern auch grässliche Weltanschauungen mit sich herum trug. Diese Leute sind - Gott sei es gedankt - längst verschwunden. Ich fand es immer toll, Menschen zu sehen, die die Ska-Musik lieben und gleichzeitig die Mode.

Dieser Style hatte auch auf uns einen großen Einfluss. Ansonsten gebe ich dir Recht: Wir wollten nie eine Ska-Band sein, wir hatten einfach nur ein paar Ska-Songs in unserem Repertoire. Und das ist bis heute so. In erster Linie machst du Musik ja, um selbst Spaß zu haben. Wenn das Publikum das genau so sieht, umso besser.

Woody: Ich glaube, am meisten haben uns immer die Menschen in der Band genervt.

Suggs: Haa haa, sehr schön gesagt. Ja, du solltest uns mal an einem typischen Samstag Abend erleben.

Bei eurem ersten Madstock Festival im Finsbury Park 1992 trat unter anderen Morrissey bei euch im Vorprogramm auf (1988 trat Suggs auf dessen Solodebüt "Viva Hate" als Gastsänger auf, Anm. d. Red.). Als er mit einer Union Jack-Flagge auf die Bühne kam und dazu den Song "National Front Disco" anstimmte, wurde er von euren Fans gnadenlos ausgepfiffen, mit Getränken beworfen und brach den Auftritt ab. Wie erinnert ihr euch an diesen Vorfall?

Woody: Er hat sich jeden einzelnen Gegenstand, der ihm um die Ohren flog, ehrlich verdient.

Orangensaft, habe ich gelesen.

Woody: Ja, kann sein. Sehr zum Wohle, Morrissey.

Suggs: Morrissey ist einfach ein provokanter Hund. Er wusste ganz genau, welchen Bären er mit solch einer Aktion aus dem Käfig lässt.

Du meinst, das war alles von langer Hand geplant?

Suggs: Ja klar. Hinter ihm waren ja auch Fotos von Skindheads auf einer großen Leinwand und dann ka er noch mit dem Union Jack. Zur damaligen Zeit war das in England einfach eine sehr provokante Idee für eine Livebühne.

Demnach haben euch Morrisseys Kommentare über die Einwanderungsprobleme Englands vor zwei Jahren wohl nicht sonderlich gewundert, nehme ich an. Habt ihr diese Debatte mitbekommen?

Suggs: Nein, Morrissey redet viel, wenn der Tag lang ist. Er weiß genau, was er sagen muss, damit es die Zeitungen drucken.

Glaubst du wirklich? Alles nur heiße Luft?

Suggs: Na logisch. Ich meine, ein in Italien lebender Ire redet von Einwanderungsproblemen in England, das ist doch völlig absurd. Er höre am Kensington Market keinen englischen Akzent mehr, soll er gesagt haben. So what? In Camden Town höre ich manchmal auch keinen englischen Akzent. Wir sind hier in London, diese Stadt ist voller Einwanderer, ist es immer gewesen. Was hätte er denn zu seinen Eltern gesagt, als die damals nach Manchester gezogen sind? Mum, Dad, ihr habt keinen englischen Akzent?

Euer Blick auf die Stadt und ihre Kultur ist so ziemlich das Gegenteil dieser Aussagen. In einem eurer neuen Songs heißt es: "Can we make it if we all live together as one big family".

Suggs: So ist es. Natürlich verstehe ich die soziale Problematik, wenn eine sehr große Zahl an Einwanderern in einem schmalen Zeitraum an einen bestimmten Ort ziehen. Wenn jemand von Ägypten nach Addis Abeba zieht, gibt es auch immer Menschen, denen das missfällt, weil sie Angst um ihre Kultur haben. Das ist verständlich. Aber ich persönlich glaube, man muss in dieser Hinsicht optimistisch sein.

Woody: Ein Freund von mir ist großer Verfechter der Theorie, dass die Menschheit wieder eng zusammen rückt, wenn die Aliens uns bedrohen.

Suggs: Ein weiterer, interessanter Ansatz. Ansonsten würde ich es so zusammenfassen: Wenn du älter wirst, entwickelst du dich immer in eine von zwei Richtungen. Entweder du wirst konservativ und suhlst dich in deiner Vergangenheit oder du bleibst aufgeschlossen und erkennst, dass jeder seinen Teil zum großen Ganzen beiträgt. Letzteres ist mein Ansatz.

Wo seht ihr dann eurer Meinung nach die größten Probleme im heutigen England?

Suggs: Ganz klar: Deutsche Journalisten, die dumme Fragen stellen.

Woody: Großartige Antwort. Dicht gefolgt von McDonalds.

Suggs: Vielleicht die Homogenisierung der Städte. Aber das betrifft heute ja die ganze Welt. Du läufst eine Straße in London entlang und du könntest überall auf der Welt sein.

Zurück zur Musik: Als vor zehn Jahren euer "Wonderful"-Album erschien, hätte ich geschworen, dies wäre euer letztes Album.

Woody: Echt? War es tatsächlich soo schlecht? (alle lachen)

In Deutschland hattet ihr jedenfalls so gut wie keine Presse. Wie kam es nun, zehn Jahre später, zur neuerlichen Band-Zusammenkunft für "The Liberty Of Norton Folgate"?

Woody: "Wonderful" erschien am Ende eines Jahrzehnts, in dem wir eigentlich nur unsere alten Sachen live gespielt haben. 1992 war die erste Reunion, danach spielten wir eigentlich jedes Jahr Weihnachtskonzerte in England, ein paar Madstocks und wagten uns ab und an auch mal nach Europa. 1999 war es dann einfach an der Zeit, mal wieder neue Musik zu komponieren. Damals kam schon kurze Zeit später die Idee auf, einfach mal ein paar Coverversionen alter Reggae- und Skanummern einzuspielen, nur zum Spaß. Bis wir das dann umsetzten, vergingen aber wieder viele Jahre, erst 2005 kam die Platte raus.

In dieser Zeit merkten wir aber, wie nah uns dieser Sound noch immer geht und so entstand nach und nach die Idee, wieder ein Album zu machen, das vom Spirit her an unsere alten Platten heran kommt, an "One Step Beyond" oder "Absolutely". Zu dieser Zeit bezogen wir auch ein neues Management und waren alle voller Engagement für diese Idee. Wir hatten die Nase voll, nur noch die ruhigen Madness zu sein, die alle paar Jahre ihre Hits raushauen. Die neue Platte gibt uns das Gefühl, einen großen Schritt nach vorne gegangen zu sein und dank unseres tollen Teams wurde die Platte diesmal im Gegensatz zu 1999 auch in Deutschland oder anderen Ländern gut beworben. Wir wissen heute einfach, worin wir wirklich gut sind.

Mit "Lovestruck" hattet ihr damals eigentlich schon die perfekte Single fürs Comeback im Gepäck.

Suggs: Wenn ich "Lovestruck" ab und zu mal im Radio höre, wundere ich mich tatsächlich immer, warum das kein Riesenhit geworden ist. Gut, in England war es in den Top 5, man sollte sich nicht beschweren. Aber wie Woody schon sagte, man braucht als Band immer ein gut funktionierendes Team um sich herum, das die eigenen Träume in die richtigen Bahnen lenkt.

Letztendlich sind wir nichts als Träumer. Vom Business haben wir keine Ahnung. Da ich aber wirklich glaube, dass wir heute als Band besser sind denn je, schauen wir heute auch mehr auf geschäftliche Dinge. Wir freuen uns zum Beispiel sehr über die anstehenden Veröffentlichungen unseres Back Catalogues. Das Zurückschauen bringt uns interessanterweise auch weiter.

Euer neues Album wird überall gefeiert, auch in Deutschland überwiegen positive Reaktionen. Habt ihr eine Idee, woran das liegt?

Woody: Da kanns nur einen Grund geben: It's a bloody good record!

Suggs: In England sprachen einige Leute von einem Meisterwerk, was ich so natürlich nicht für uns in Anspruch nehmen würde, aber wir haben verdammt viel Arbeit in diese Platte gesteckt. Nach unserem Reggae-Album vor vier Jahren reifte in mir nach und nach der dringliche Wunsch, vor meinem hoffentlich noch nicht allzu schnell eintreffenden Tod noch einmal ein richtig starkes Madness-Album abzuliefern.

Das ist ein tolles Gefühl nach all den Jahren des Trödelns und Herumlavierens. Nach dieser Platte kann ich beruhigt einschlafen und die Lider für immer schließen. Also metaphorisch gesprochen. Aber sowas sollte man ohnehin nicht laut sagen, denn es impliziert, dass man irgendwann keine bessere Platte mehr hinkriegen würde.

Immerhin hieß es, "The Liberty Of Norton Folgate" sei euer "Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band".

Woody: Schlimm genug, denn dann müssen wir noch "Abbey Road" und "Let It Be" nachlegen.

Suggs: Vergiss nicht das "White Album", oder war das vor "Sgt. Pepper"?

Woody: Nein, stimmt, du lieber Himmel. Das also auch noch.

Suggs' Frau kommt an den Tisch und wirft in die Runde, dass man sie in einem umliegenden Pub finden könne. Woody nutzt die Gelegenheit, sich bei ihr zu erkundigen, ob sie später den Madness-Auftritt anschaue. Schließlich habe man sich live in letzter Zeit extrem verbessert. Anne gibt Entwarnung: Sie wird kommen.

Ich bin heute im Übrigen zum zweiten Mal in London nach 1994. Damals kam ich wegen eures Madstock-Auftritts im Finsbury Park hierher. Erinnert ihr euch an diesen Auftritt?

Woody: Ganz ehrlich: Diese Auftritte verschwimmen in der Erinnerung alle zu einem einzigen großen Gig. Das erste Madstock war natürlich fantastisch. Dann war noch ein gutes in dem Jahr, als England bei der Europameisterschaft weiter gekommen ist.

Suggs: Genau, als sie Spanien im Elfmeterschießen rauskegelten. (1996, Anm. d. Red.) Wir waren in einem Pub und kurz vor den Elfmetern fiel der Fernseher von der Befestigungsstange. An dem Tag hatten wir sogar eine Polizei-Eskorte.

Insgesamt waren natürlich all diese Konzerte toll, aber aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass wir die Shows damals mehr oder weniger als selbstverständlich betrachteten. ie kamen, wir spielten sie, fertig. Heute erinnere ich mich viel besser an verschiedene Dinge aus den letzten Jahren. In den 90er Jahren war einfach noch viel zu viel Chaos in unseren Köpfen.

Auf der Bühne ist dieses Chaos natürlich seit jeher Willkommen: Der einstündige Auftritt gerät zur kompakten Hitsause, die auch den ein oder anderen Song aus dem neuen Studioalbum enthält. Hier erstaunt vor allem, wie nahtlos sich Songs wie "NW5" oder "Dust Devil" in den Großkaliber-Songreigen der Marke "House Of Fun" oder "Baggy Trousers" einreihen. Keine Frage: Madness sind auch nach 30 Jahren noch mehr als nur eine Oldie-Band. Auf die nächsten 15!

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