18. März 2005

"Ich war jeden Abend betrunken!"

Interview geführt von

Just another Hype? Sicher nicht! Denn My Chemical Romance haben mit "Three Cheers For Sweet Revenge" ein fulminantes Album vorgelegt und trotz ihres jugendlichen Alters bereits eine bewegte Bandgeschichte hinter sich. Als ich am Venue eintreffe, um die Jungs zu interviewen, bekomme ich gerade noch das Ende vom Sound-Check mit und sehe fünf Musiker, die auf der Bühne zu 70ies-Disko-Sound herumblödeln. Passt gar nicht so richtig zum Image der Band, aber im Gespräch mit Sänger Gerard Way und Gitarrist Ray Toro stellt sich heraus, dass nicht alles an dieser Band so einfach ist, wie es scheint.

Euer Album ist hier erst gestern erschienen, während es in den USA schon über ein halbes Jahr draußen ist. Eine komische Situation für euch?

Gerard: Ich finde es ganz spannend, denn es erinnert uns an die Zeit vor dem Release in den USA. Da waren die Shows ganz ähnlich. Sie waren sehr intim, sehr aufregend. Überall flogen Körper herum. Leider können wir uns den Luxus, diese Shows zu spielen, nicht mehr leisten. Die Shows werden immer größer und besser, aber es gibt in den Hallen auch Absperrungen und so. Die Intimität geht da verloren.

Ihr kennt die Songs ja schon recht gut, die Crowds hierzulande noch nicht.

Gerard: In Köln kannten sie alles, die alten und die neuen Sachen. Gestern Abend in München nicht so sehr. Sie kennen das Material nicht immer, aber sie schätzen uns als Band, oder sie sind einfach neugierig, oder sie wollen einfach ihren Spaß haben. Eigentlich reicht schon eines dieser Dinge, um einen guten Gig zu haben.

Ihr scheint hohe Erwartungen zu haben, was den europäischen Markt angeht.

Gerard: In der Tat. Nicht so superhohe, aber schon ein wenig. Immerhin hat man uns in Großbritannien zuerst gemocht. Noch vor den USA. Da haben wir noch im Untergrund gespielt, als wir dagegen in Großbritannien waren, haben wir gleich unsere Shows ausverkauft und viel Presse bekommen. Zuhause haben sie sich einfach nicht so für uns interessiert.

Dabei ist euer Sound doch eher untypisch für etwas, was auf der Insel groß wird. Eigentlich klingt ihr doch ziemlich amerikanisch.

Gerard: Das mag sein, aber ich finde, wir haben einen sehr britischen Vibe. Als wir im Studio waren, haben wir immer wieder gehört, dass die Platte sehr UK-typisch sei. Vielleicht wegen der Ironie und dem schwarzen Humor. Das kommt in den USA nicht immer so gut.

Und die morbide Grundstimmung. Das sticht bei euch ja schon etwas heraus. Wieso ist das so?

Gerard: Es ist einfach ein Thema, das die Band interessiert. Wir sind mit Morbidität aufgewachsen. Wir haben in gefährlichen Vierteln gelebt. Es gab viel Gewalt, Schießereien und so. Oft konnten wir als Kinder nicht mal zum Spielen raus. Das waren so Gang-Geschichten, oder Mafia-Sachen. Hatte viel mit Drogen zu tun. Dazu kommt, dass wir in Jersey alle sehr familiäre Menschen sind. Wenn man eine große Familie mit engen Verhältnissen hat, hat man automatisch auch viel mit Tod zu tun. Seit einem frühen Alter. In unserer Jugend kam dann noch hinzu, dass wir Einzelgänger waren. Horrorfilme und Comics waren unsere Welt.

Wie arbeitet ihr als Band? Gerard, du schreibst die Lyrics nehme ich an?

Ray: Ja, er schreibt die Lyrics, und die Musik stellt sich aus dem Input aller zusammen. Manchmal komm ich mit einem Riff an, und wir spielen dann, freestylen ein wenig, so ergibt sich dann eine Melodie.

Ist es manchmal schwer für euch, mit den Lyrics von Gerard klar zu kommen?

Ray. Nein, wir vertrauen Gerard voll und ganz. Manchmal kommt er auch zu uns und fragt uns um Rat. Wir lieben seine Lyrics.

Gerard: Ja, sie sind in der Hinsicht wirklich cool zu mir. Aber ich zeige ihnen immer alles, was ich schreibe, denn ich will, dass sie das fühlen, was ich fühle. Sonst können wir den Song nicht ernsthaft und aufrichtig spielen. Das klappt ganz gut so.

Könntet ihr euch vorstellen, "normale" Pop-/Rock-Tunes zu schreiben?

Gerard: (überlegt) Wenn wir mal an einen Punkt kommen, wo wir fröhliche, hell klingende Musik spielen, ist das wahrscheinlich ein Experiment oder eine Studie. Bei uns ist es ja so: je poppiger ein Song ist, desto düsterer müssen die Lyrics sein. Es ist immer wie ein Tauschgeschäft: "Not Okay" zum Beispiel ist sehr poppig, hat einen düsteren Text. Genauso bei "Cemetary Drive".

Ray: Wir haben keine Angst vor Pop und poppigen Melodien, aber wir haben das Gefühl, dass wir einem solchen Song unseren Stempel aufdrücken müssen, damit er einzigartig wird. "Not Okay" ist da ein gutes Beispiel. Er ist sehr catchy, aber klingt gleichzeitig sehr nach uns.

Gerard: Das ist so etwas wie eine ausbalancierende Ironie. Wir wollen nicht so offensichtlich sein.

Ihr steht mit eurer Herangehensweise an Punkrock, oder wie ihr es nennen wollt, ja nicht allein da. Bands wie A.F.I., The Used oder Alkaline Trio schlagen in die selbe Kerbe. Wäre es ok, von einem neuen Subgenre zu reden?

Gerard: Ja, schon irgendwie. Es gibt einige Bands im Moment, die in dieses unerforschte Territorium vordringen. Aber andererseits gibt es schon länger solche Gothic-Punkbands, die Deathrock oder Deathpunk machen. Wir versuchen diesen Sound ein wenig moderner zu gestalten.

Wie würdet ihr dieses Genre nennen? So weit ich weiß, hat sich noch niemand einen Titel dafür ausgedacht.

Gerard: Ich würde es Darkrock nennen. Hm, das ist schwer. Wir nennen es gerne Violent Pop, aber ich bin mir sicher, sie werden es Gothrock nennen. Oder Deathrock. Oder Deathpunk, oder Gothpunk. (lacht)

Gerard, du hattest ja nicht unerhebliche Alkoholprobleme, die du scheinbar hinter dir gelassen hast. Wie schwer ist es, in einer Rockband zu sein, und nüchtern zu bleiben?

Gerard: Das ist ähnlich schwer wie bei einem Bartender. Man spielt immer da, wo es auch eine Bar gibt, also ist man immer von Alkohol umgeben. Backstage gibt es Alkohol, die anderen Bandmitglieder trinken, deine Freunde trinken, die anderen Bands trinken ... Es ist schwer, aber es ist eine gute Herausforderung. Manchmal ist es wie ein Spiel für mich. Ich kann mittlerweile mit den Jungs ausgehen, richtig Party machen und trotzdem den ganzen Abend keinen Tropfen Alkohol trinken.

Wie hat sich dein Leben dadurch verändert, abstinent zu sein?

Gerard: Ich bin in allererster Linie viel klarer im Kopf. Ich erinnere mich an die Shows. Ich erinnere mich an nicht viel aus den letzten drei Jahren, weil ich jeden Abend betrunken war. Aber jetzt kann ich mich an unsere besten Shows erinnern, weil ich wirklich dabei war. Ich fühle mich gesünder, fitter, bin nicht so müde und bin viel konzentrierter.

Wie war es für euch als Band?

Ray: Als er sich entschloss, mit dem Trinken aufzuhören, haben wir das zuerst auch getan. Jetzt heben wir nur noch ab und zu einen, aber wir haben festgestellt, dass wir als Band so viel stärker sind. Man kann bei Gerard einen großen Unterschied in seinem Gesang und seiner ganzen Performance feststellen. Die Band hat dadurch viel mehr Energie bekommen. Es ist wie eine neue Zeitrechnung für unsere Leben und unsere Karriere. Es ist wie Tag und Nacht.

Gerard: Zuerst war es schon irgendwie schrecklich. Wir mussten uns ja gleichzeitig auf Bob [den neuen Drummer; d. Red.] einstellen, das waren schon fast zu viele Veränderungen auf einmal. Wir mussten quasi unsere ganze Liveshow neu aufbauen. Diese Phase hat eigentlich die ganze letzte Tour über gedauert.

Hat deine Nüchternheit denn auch Auswirkungen auf dein Songwriting?

Gerard: Ich weiß nicht. Wenn ich geschrieben habe, war ich sowieso nie besoffen. Andererseits war ich immer noch hangover und depressiv, also ich denke schon, dass es sich verändern wird.

Hattest du nicht Angst, dass da ein wichtiges Element verloren geht?

Gerard: Das hatte ich in der Tat, ja, aber nur für kurze Zeit. Ich habe mich dann entschlossen, das Risiko einzugehen, und dafür ein gutes, normales Leben zu führen. Naja, ein halbwegs normales, anstatt irgendwann daran zu sterben. Die Entscheidung musste ja getroffen werden, es führte kein Weg drum herum.

Da es dir offensichtlich wichtig ist, darüber zu reden: würdest du behaupten, dass du eine Vorbildfunktion für andere erfüllst?

Gerard: Nein, ich möchte kein Vorbild für die Kids sein. Wenn ich jemanden dazu inspiriere, von Drogen loszukommen, und wenn derjenige es aus den richtigen Beweggründen macht, dann finde ich das toll. Ich habe es in allererster Linie für mich selbst getan. Wenn die Leute etwas Lehrreiches daraus ziehen wollen, dann die Tatsache, dass ich es für mich getan habe. Ich wollte niemandem etwas beweisen, ich wollte niemandem zeigen, dass das der richtige Weg ist. Aber wenn ich einen positiven Effekt auf andere habe, ist das natürlich super. Aber ich propagiere das nicht.

Etwas anderes: ihr unterstützt Amnesty International.

Gerard: Ja, wir haben uns immer sehr für Menschenrechte interessiert und sind strikt gegen Selbstmord. Es ist uns einfach wichtig, diese Leute zu unterstützen. Wir wollen helfen, wo wir können, und wir sind gerade an einem Punkt angekommen, an dem wir merken, dass uns die Leute zuhören. Im Moment haben wir aber so viel mit den Shows zu tun, dass wir uns wohl erst nach der Tour darum kümmern können.

Was verbindet euch mit The Used?

Gerard: Ich habe Bert [McCracken, Sänger von The Used; d. Red.] zuerst kennen gelernt. Dann haben sie uns mit auf Tour genommen. Eigentlich wollten wir gar nicht touren, aber sie haben uns gefragt, das fanden wir echt cool von ihnen. Sie haben uns sozusagen die Welt gezeigt, mit ihnen waren wir auch hier in Deutschland. Sie haben immer an uns geglaubt.

Besteht nicht trotzdem eine gewisse Konkurrenz zwischen euch?

Gerard: Nein, überhaupt nicht.

Bert und du, ihr seid euch auch als Sänger sehr ähnlich.

Gerard: Das stimmt, es gibt Ähnlichkeiten. Wir versuchen beide, immer alles aus uns rauszuholen, und wir haben eine gewisse Eklektizität. Aber ich denke, dass wir beide von unterschiedlichen Sängern inspiriert sind.

Und bei dir wären das ...

Gerard: Gesangstechnisch von Morissey, Bruce Dickinson und Glenn Danzig. Wobei die natürlich nicht alle gleichzeitig durchklingen. Ich habe auch nie versucht, jemanden zu imitieren. Ich singe einfach mit der Stimme, die mir gegeben ist.

Wen würdest du von deinen Kollegen als größere Inspiration bezeichnen? Geoff Rickley von Thursday oder Bert?

Gerard: Oh, das ist schwer. Ich habe Thursday mal bei einem Secret-Gig in Jersey gesehen, und Geoff und seine Jungs waren so inspirierend an dem Abend, dass ich genau das machen wollte. Ich glaube, Thursday sind, und das sage ich nicht, weil es meine Freunde sind, eine der besten Live-Bands ever.

Ray: Ihre Shows haben einfach diese Power. Ihre Alben sind ja schon großartig, aber wenn man sie live sieht, ist das noch mal was anderes. Die Kids drehen jedes Mal völlig durch.

Thrice gehen live ja auch ziemlich ab.

Gerard: Ja, aber Thrice sind etwas kontrollierter, würde ich sagen. Sie sind technisch sehr versiert.

Ray: Thrice sind die tighteste Band, die ich kenne. Die sind einfach fehlerlos. Aber Thursday haben halt diese rohe Energie.

Gerard: Das ist wie ein Ballett des Todes.

Ein Ballett des Todes?

Gerard: Ja, finde ich. Man fragt sich immer, warum die nicht zusammenstoßen auf der Bühne. Warum keiner stirbt von denen, bei dem, was sie auf der Bühne abziehen.

A propos, Ray, du hast diese Verletzung am Kopf davon getragen. Wie kann so was passieren?

(Gerard macht ein schmerzverzerrtes Gesicht)

Ray: Das war bei einem Gig in Detroit. Frank [Iero, der andere Gitarrist der Band; d. Red.] hat seine Gitarre herumgerissen, traf mich mit dem Gitarrenkopf am Kopf und hat ihn mir aufgerissen. Aber er selbst hat sich vorher ja schön öfter eine verpasst.

Gerard: Aber jetzt sind wir viel kontrollierter on Stage. Wir würden so was auch nie nur zur Show machen. Aber das war schon krass. Einer der Wirbel von Franks Gitarre war abgebrochen, also stand da nur so ein scharfkantiges Stück Metall heraus. Und damit hat er Rays Stirn aufgeschlitzt. Das war, glaube ich, eines der coolsten Dinge, die ich je gesehen habe. Da war überall Blut, und die Leute dachten, es gehöre zur Show. Wie beim Wrestling.

Ray: Es war irgendwie lustig.

Einen lustigen Humor haben die Jungs, aber beim Gig später zeigt sich, dass sie nicht zu viel versprochen haben. Frank Iero ist performancemäßig in der Tat einer der krankesten Gitarristen, den ich je gesehen habe - aber an diesem Abend verletzt sich niemand. - Gerard hat mir freundlicherweise noch seinen i-Pod überlassen, und das hört er im Moment so:

Aphex Twin
Charlie Parker
Coldplay
De La Soul
Emilia Torrini
Faith No More
HIM
The Replacements

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