16. Februar 2004
"Politik und Wirtschaft zerstören unsere Welt"
Interview geführt von Michael EdeleAnfangs sitzen mir noch Jim, Van Williams (dr) und Tourgitarrist Steve Smith gegenüber, wobei sich letzterer aber schon nach der ersten Frage, ob er denn inzwischen das geheime fünfte Bandmitglied sei (immerhin ist das nicht die erste Tour, die er mitfährt, d.Verf.), mit einem leicht verwirrten Grinsen und ohne Kommentar verzieht.
Jim, möchtest du vielleicht zu dieser Frage Stellung nehmen?
Jim: Wir sind sehr froh, dass wir ihn uns ausleihen konnten, denn immerhin ist er noch bei zwei anderen Bands (Testament und Dragonlord, d. Verf) beschäftigt. Wir kommen mit ihm sehr gut klar, und es ist sehr witzig mit ihm auf Tour. Wir hätten auch nichts dagegen, ihn auf kommenden Touren wieder mit dabei zu haben.
Aber als permanentes Mitglied ist er nicht im Gespräch?
Jim: Nein, aber das liegt nicht an ihm sondern daran, dass wir momentan nur zu viert arbeiten wollen, weil es so am besten funktioniert. Außerdem hatten wir in der Vergangenheit immer so viel Ärger mit einem zweiten Gitarristen, dass wir darauf gut verzichten können.
Nach "Enemies Of Reality" läuft euer Vertrag mit Century Media ja aus. Habt ihr schon einen neuen in der Hand?
Jim: Bisher nicht. Es gab Gespräche mit diversen interessierten Labels, und wir werden bald eine Entscheidung fällen, aber jetzt geht es erst mal darum, mit der neuen Platte auf Tour zu gehen. Danach werden wir uns um die anderen Bereiche kümmern. Wir wollen aber darauf achten, dass wir wieder ein Label haben, das sich um den weltweiten Vertrieb kümmert, also nicht eins für Amerika, eins für Europa und eins für Japan. Das sollte schon alles in einer Hand bleiben. Das Problem hatten wir mit Sanctuary, und das hat nur Probleme mit sich gebracht.
Ihr wart mit dem ersten Mix von "Enemies Of Reality" ja nicht sonderlich zufrieden, und es ging das Gerücht um, dass Century Media euch finanziell an der kurzen Leine hielten, um Druck auf euch auszuüben, den Vertrag zu verlängern.
Jim: Da ist schon was Wahres dran. Sie sagten, wenn ihr mehr Geld für die Aufnahmen wollt, dann unterschreibt einen weitere Vertrag. Wir wollten uns aber nicht die Pistole auf die Brust setzen lassen und haben also mit dem kleineren Budget gearbeitet. Kelly Gray war bereit, für ein geringeres Entgelt mit uns zusammen zu arbeiten, und wir haben es dann mit ihm versucht. Aber er ist eben kein Metal-Produzent, sondern hat bisher eher im Pop-Bereich gearbeitet. Dementsprechend klang das Album dann auch nach dem ersten Mastering. Das ging natürlich nicht, weswegen wir das noch mal machen mussten. Wir hatten gerade mal eine Woche in einem richtigen Studio, den Rest mussten wir in Kellys Haus machen. Das hört man dem Sound dummerweise schon noch an. Es war schon interessant, mit ihm zu arbeiten. Normalerweise nehmen wir immer zuerst die Drums, dann den Bass, dann die Gitarren und zuletzt den Gesang auf. Bei ihm haben wir das etwas anders gemacht. Van musste seine Sachen zwar zügig am Stück aufnehmen, aber danach wurden Gitarren, Bass und Gesang immer Stück für Stück aufgenommen und mit wechselnder Reihenfolge. Ich muss sagen, dass mir diese Art und Weise deutlich mehr zusagt.
Vermutlich wäre Warrel für diese Frage der bessere Ansprechpartner, aber was bedeutet der Titel "Enemies Of Reality" für dich?
Jim: Wooha, da fragst du mich was. Wenn ich wüsste, was in Warrrels Kopf vor sich geht, könnte ich wahrscheinlich nachts nicht mehr schlafen, haha. Er hat eine Menge verrückter Gedanken in seiner Rübe, und diese formuliert er meist so, dass sich jeder selbst was hinein interpretieren kann.
Weißt du denn immer, über was er singt?
Jim: Nein, keine Chance. Er sagt es uns auch nicht immer. Ich mach mir aber gern auch meine eigenen Gedanken darüber. Ich glaube auch nicht, dass du viel aus ihm selbst herausbekommen würdest, wenn du ihn danach fragst. Die wichtigere Frage ist doch, welche Bedeutung haben die Texte und der Titel für dich?
Ich bin mir da nicht so ganz im klaren. Ein "Enemy Of Reality" kann jemand sein, der versucht, gegen die Realität zu kämpfen, oder einfach jemand, der vor ihr davon läuft, was beides zwangsweise in die Hose gehen muss. Warrel singt ja auch: "There's no stronger drug than reality". Ich muss gestehen, das spiegelt exakt meine Einstellung wider, scheint aber auch ein Widerspruch zum Titel zu sein, oder nicht?
Jim: Ja, da hast du schon recht. Ich denke, dass hat auch etwas mit unserer Heimatstadt Seattle zu tun, weil der Drogenkonsum dort ziemlich hoch ist. Auf der High School hast du zwangsläufig mit Drogen zu tun, an meiner war es sogar so, dass praktisch jeder irgendwann mit LSD experimentiert hat. Je älter wir aber wurden, desto offensichtlicher wurde für uns auch, dass die Realität nach wie vor die stärkste und beste Droge ist. Ich denke, das will er damit ausdrücken, aber wie gesagt, Warrel hat gelegentlich sehr seltsame Gedanken.
Und warum grinst du die ganze Zeit nur vor dich hin Van?
Van: Ach nur so, ich höre mir immer gern die Interpretationen der verschiedensten Leute zu Warrels Texten an.
Soso, und was ist deine Interpretation des Titels?
Van: Für mich sind die Feinde der Realität all diese Leute, die ihre Umgebung und damit diesen Planeten zerstören, ohne sich dessen bewusst zu werden oder sich darum zu kümmern. Die Realität ist, dass die Welt dabei einfach drauf geht. Es gibt eben die Menschen, die sich dafür einsetzen, dass die Welt für alle ein besserer und erträglicherer Platz wird und diejenigen, die nur auf ihren Profit aus sind. Sie zerstören also nicht nur diesen Planeten, sondern auch die Realität. Wir leben im Hier und Jetzt, in der Realität, und diese wird einfach missbraucht und zerstört. Somit sind Politiker und Wirtschaftsbosse und all diese Motherfucker, die nur auf ihren Gewinn aus sind, die "Enemies Of Reality". Um auf die beste Droge zurückzukommen, das steht wohl für sich selbst, und ich sehe es genauso. Das Leben allein gibt dir schon den größten Kick, was brauche ich da noch irgendwelche Drogen. Ich denke also nicht unbedingt, dass sich darin ein Widerspruch verbirgt.
Jim: Die Sache ist ja eigentlich die, dass du dich nicht gegen die Realität wehren oder sie bekämpfen kannst, denn alles was du tust, wird ja zur Realität. Verstehst du was ich meine? Verdammt, das ist wirklich alles sehr tiefsinniges Zeug. Ich glaube, ich muss mich damit erst noch mal näher beschäftigen.
Denkst du denn, das die Realität inzwischen so aussieht, dass man sich vor ihr fürchten kann?
Jim: Schau dir doch nur mal die Nachrichten an. Ich versuche aber, mich aus politischen Dingen und Diskussionen heraus zu halten. Ich bin hier, um Musik zu machen und die Menschen zu unterhalten, ich bin ein Musiker, kein Politiker.
Es scheint mir fast so, als ob ihr mit jedem Album härter werdet. Bei den meisten Bands ist das eher andersrum.
Van: Das sind einfach die unterschiedlichen Einflüsse denen du Tag für Tag ausgesetzt bist. Wir hören uns alle die unterschiedlichsten Sachen an. Außerdem touren wir mit sehr unterschiedlichen, teils sehr extremen Bands, das färbt dann eben ein wenig ab. Wir können ja nicht nur Balladen schreiben, haha.
Jim: Das hat ja auch nichts mit bewussten Entscheidungen zu tun. Wir sagen ja nicht: hey, jetzt lassen wir es mal richtig krachen. Wir spielen einfach die Musik, die in unseren Köpfen ist und da raus will. Du darfst nur nicht zu bequem oder zufrieden werden, stay angry! Deswegen dürfen wir auch nie Platin für unsere Alben bekommen, ansonsten werden wir zufriedene alte Säcke, haha.
Van, du hast ein weiteres Projekt namens Pure Sweet Hell ...
Van: Ja, stimmt, es ist auch Metal. Glaub ich mal, haha.
Jim: Ja, das musst du dir anhören, er drückt dir nachher bestimmt eine Scheibe in die Hand.
Gibt es da sonst noch irgendwas, mit dem wir demnächst rechnen können?
Jim: Manchmal fände ich ein Nebenprojekt ganz interessant, aber im Moment fehlt mir dazu einfach die Zeit. Wenn ich wirklich mal von der Musik leben kann, dann werde ich bestimmt etwas machen, aber das kann noch dauern.
Van: Zeit ist immer problematisch bei so etwas. Ich musste innerhalb von 13 Tagen alles einspielen. Ich bin praktisch aus dem einen Studio raus, in den Flieger nach New York, hab das andere Album eingespielt, bin wieder zurück und hab das Nevermore-Album mit fertiggestellt. Es wird also noch eine Weile dauern, ehe ich mich Pure Sweet Hell widmen kann. Außerdem hab ich ja noch einen Vertrag mit Nintendo, wo ich für Grafik-Design zuständig bin. Da bin ich zwar wesentlich flexibler was die Zeit angeht, aber das macht sich ja auch nicht von alleine.
Ihr habt auch ein Video für "Enemies Of Reality" gedreht.
Jim: Stimmt, auch wenn wir es natürlich erst mal kürzen mussten, da auf MTV keine Songs laufen, die so lang sind. Ich denke aber, dass wir damit leben können und wenn es ein paar mal bei Headbanger's Ball läuft, sind wir schon zufrieden. In den USA sieht es momentan so aus, als ob der Metal wieder langsam aufkommt, vielleicht können wir davon auch etwas profitieren.
Das Interview führte Michael Edele
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