12. September 2013

"Ich bin nicht überrascht, dass die Regierung meine E-Mails liest"

Interview geführt von

Das 30-jährige Jubiläum der Kultband New Model Army ist längst über die Bühne gegangen. Dennoch ist seitdem vieles geschehen.

Ein verheerender Studiobrand, geklaute Gitarren oder der plötzliche Tod vom Manager Tommy Tee sind nur einige der Schicksalsschläge, von denen mir Justin Sullivan am Telefon berichtet. Nebenbei erfindet die Band ihren Sound komplett neu und liefert mit dem am 20. September erscheinenden Album "Between Dog And Wolf" eine glanzvolle Vorstellung ab.

Wie ich höre, gibt es bald eine Art Biopic/Doku über die New Model Army. Was ist denn da konkret dran?

Justin Sullivan: Ja, das ist wahr. Aber auch wieder nicht. Oder besser: Es hat gar nicht so viel mit Aktivität von unserer Seite zu tun. Es ist kein New Model Army-Produkt. Vor vier Jahren kam damit ein enthusiastischer Filmemacher zu uns, Matt Reid. Natürlich waren wir von der Idee restlos begeistert. Eitelkeit! Er hat den Film mittlerweile fast fertig. Erst vor ein paar Wochen habe ich den ersten, rohen Schnitt gesehen. Wow!

Das wird ein starker Film, der in mir auch einen überwältigenden Moment ausgelöst hat. Ich mag es nämlich nicht besonders, wenn ich mein vergangenes Leben so aufblitzend vor mir sehe. Ich versuche meist eher, das Vergangene zu begraben. Und dann kommt es plötzlich mit aller Gewalt auf dich zu. Hey, schau mal, hier ist es. Das ist deine Vergangenheit.

Nun ist das bei einer Dokumentation über die eigene Band ja eine Grundvoraussetzung.

Natürlich, da muss ich jetzt durch. Es ist allerdings keine Doku. Es ist ein richtiger Film. Okay, es hat natürlich dokumentarischen Charakter, aber der Film erzählt schon auch eine Story, die einen Teil unserer Geschichte abbildet. Insofern ist es eine Version der Geschichte und wirklich ein höllisch guter Film.

Ist die Musik eures neuen Albums "Between Dog And Wolf" darin auch präsent?

Es kommen natürlich viele Songs aus der Anfangszeit vor, aber recht häufig auch die neuen.

Und die klingen ja auch ein wenig anders als gewohnt. Sehr perkussiv, anderes Sounddesign in einer fast Cinemascope-ähnlichen Breite.

Ja, wir haben uns diesem Album auch wirklich über lange Zeit angenähert, bis es so klang, wie wir wollten. Vieles, was heute neu klingt, war im Grunde doch schon immer da. Wir haben die Drums oft schichtenweise eingesetzt, und auch immer schon epische Songs geschrieben. Aber möglicherweise haben wir es nie so zusammen gemacht. Gemeinsamkeit und Teamarbeit standen dieses Mal wirklich auf einem neuen Niveau.

"Joe Barresi erkannte sofort, was wir wollten"

Okay, aber es ist für den Hörer dennoch angenehm auffallend, dass ihr dieses Mal ganze Armeen von Tom-Toms etc. nutzt. Auch Lieder wie "March in September" oder "Seven Times" haben dieses fast chantende Melodiedesign. Stimmst du zu?

Nein! (lacht) Aber ich verstehe, warum du den Eindruck hast. Das ist auch so beabsichtigt. Was wir taten: Wir haben den Tracks Raum gegeben, Raum zum Atmen. Wir lieben komplexe Tom-Tom-Rhythmen und die Art, wie der Bass hier gespielt wird. Mein Gesang ist an vielen Stellen - wie die Gitarren - bewusst low gehalten. Und wenn man das alles zusammen haben möchte, braucht man klanglichen Raum. Dafür haben wir uns dann auch entschieden.

Die Rhythmusgitarren waren zahlreich vorhanden und etwas anders als sonst. Wenn man die wegnimmt - quasi löscht - und das Ganze zum Beispiel mit Tom-Toms oder mit einem Bass auffüllt, entsteht ein klanglicher Freiraum. Darum ging es uns. Der Effekt ist erstaunlich. Es sollte ein beeindruckendes sonisches Schauspiel werden. Ich hoffe, es hat geklappt.

Ebenso außergewöhnlich: Ihr habt die Scheibe selbst produziert.

Ja, wir wollten jede Sackgasse erkunden. Produzenten sagen ja oft: Macht das bloß nicht. Wir wollten Fehler machen. Man hört immer noch ein paar kleine Fehler auf dem Album. Das war aber wichtig. Denn wir suchten diese totale Freiheit, alles machen zu können, was wir wollten. Ein Lernprozess. Das hat auch funktioniert. Wir haben zwar im Grunde schon "Eight" selbst produziert. Aber in gewisser Weise war es durch die veränderte Herangehensweise trotzdem wie ein erstes Mal. Es war uns allerdings von Anfang an wichtig, einen Mixer zu involvieren. Und zwar einen erstklassigen!

Den habt ihr dann ja auch gefunden: Joe Barresi hat den Job unter anderem auch schon für Tool, Soundgarden oder Queens Of The Stone Age gemacht. Drei sehr unterschiedliche Bands. Wie passt die anders klingende New Model Army da rein?

Es sind Rockbands. Aber nicht irgendwelche, sondern sehr gute, die wir sehr respektieren. Der Grund, warum wir Joe genommen haben, hängt wieder mit dem gewünschten Soundbild zusammen. Eines ist den in der Tat sehr verschiedenen Bands nämlich gemein: Hör dir ihre Platten an, die von Joe gemixt sind, und du wirst feststellen, dass sie allesamt sehr viel Raum haben.

Also dachten wir, das ist genau der richtige Mann für den Klang, den wir erzeugen wollen. Joe hat dann die frühen Versionen der Lieder gehört und wollte es wirklich gern machen. Er hat sofort erkannt, was wir wollten und dass sich die Songs dafür gut eignen. Er hat es wundervoll gemacht. Man merkt eben, dass er zwar den Ruf eines Rockmannes hat. In Wahrheit ist er aber ein Musicman. Sehr vielseitig. Er hat ein wundervolles Ohr. Nach nur drei Tagen mit den Rohsongs hatte er die kompletten Ideen, was und wie man da rangeht. Das war wirklich beeindruckend zu sehen. Insofern: Klanglich ist es wirklich das beste Album, dass wir je abgeliefert haben.

Nach dem Hören der neuen Platte würde ich so gern das letzte Album oder die ersten beiden in diesem Soundkleid hören.

Verstehe ich. Kann ich auch zustimmen. Wir haben uns alleine schon eine Woche Zeit genommen, um die Drums aufzunehmen. Und jetzt denk dir mal: die Drums sind allesamt auf Tape aufgenommen worden. Sie sind es auch, die dem Ganzen diesen großartigen, imposanten, fetten und warmen Sound kreieren. Man kann solche Drums eigentlich immer schon im Vorhinein aufnehmen und die Songs später drumherum komponieren (lacht).

"Unsere Platte ist eigentlich nicht politisch"

Nun ist ja ohnehin viel passiert in den letzten vier Jahren. Leider nicht nur Gutes.

Tja, erst ist Tommy gestorben - das war wirklich der Tiefschlag - und wir mussten lernen, uns selbst zu managen. Es war nämlich weit und breit kein anderer Manager zu finden, dem wir über den Weg getraut haben. Das war nicht einfach. Dann war da noch das Feuer, das so viel an Equipment verschlungen hat. Und die Gitarren, die das Feuer heldenhaft überlebt hatten, wurden dann gestohlen.

Also nun fast so etwas wie ein Neustart für euch?

Ach, nicht wirklich. Aber von außen betrachtet sieht die Situation sicherlich so aus. Das liegt auch daran, dass wir durch jene Erlebnisse viel Zeit verloren haben. Bis wir endlich anfangen konnten, diese Platte zu machen, hat es eine Ewigkeit gedauert. Als es dann losging - vom Schreiben bis zum Mixen - lief aber alles sehr, sehr zügig. Das waren insgesamt nur fünf Monate.

Als du einst mit der Musik angefangen hast, steckte England mitten im Thatcherismus. Diesen, den chauvinistischen Patriotismus oder auch die US-Politik hast du stets kritisiert. Heute haben wir NSA und Riots in London. Hat sich eigentlich etwas verändert oder ist alles immer dieselbe Soße mit den Menschen?

Einiges hat sich ja wirklich zum Besseren entwickelt. Vieles ist schlimmer geworden. Die Leute reagieren auch überrascht auf die neue Platte, weil sie mit Ausnahme des Ägyptensongs eigentlich keine politische ist. Das stimmt schon und liegt auch daran, dass man wegen all der Fehlentwicklungen der letzten Jahre eigentlich "Today Is A Good Day" Teil 2 schreiben müsste, um alles anzuprangern. Im Grunde steht da schon unser Kommentar zur aktuellen Entwicklung drin.

Wir können uns ja nicht selbst covern. Das hätte keinen Sinn und wäre für uns und das Publikum auch langweilig. Zur NSA-Sache muss ich dir allerdings doch eins sagen: Es verwundert mich wirklich wie ehrlich überrascht die meisten Menschen auf die Enthüllungen reagieren. Oh, Schock und Horror, die US-Regierung liest meine E-Mails. Ich war da überhaupt nicht überrascht.

Worin besteht für dich persönlich der Unterschied zwischem dem zornigen jungen Mann der 70er und 80er und dem gereiften zornigen Sullivan dieser Tage?

Ja, da gibt es schon einen Unterschied. Das ist aber mehr so ein emotionales Ding. Ich kann das beim besten Willen nicht definieren. Außerdem haben wir mittlerweile einen frischen zornigen jungen Mann in der Band. Das Energielevel reißt also nicht ab, da kann ich dich beruhigen. Vielleicht ist das Album auch wegen dieser Mischung aus meiner Sicht so ungewöhnlich dunkel ausgefallen. Und um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn ich "I" singe, ist das natürlich ein lyrisches Ich aus der Erzählperspektive. Das bedeutet ja nicht, dass es autobiografisch ist. Im Grunde ist es ein richtiges Storyteller-Album geworden.

Eine letzte Frage, die ich schon immer mal stellen wollte: Hatte die von deinem Großvater Alan Sullivan verfasste Literatur einen inhaltlichen oder sonstwie prägenden Einfluss auf dein Songwriting?

Nein, gar nicht. Das Schreiben an sich war in der gesamten Familie sehr verbreitet.

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