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ScarLip

"Wenn der das kann, kann ich das auch." Zu dieser felsenfesten Überzeugung kommt ScarLip, als sie das erste Mal DMX hört. Einer, der seine Kindheitstraumata in aggressive Raps verwandelt: die blanke Offenbarung für eine junge Frau, der das Leben ebenfalls bereits mehr als einen Schlag versetzt hat. Von einem davon, den sie sich ganz buchstäblich eingefangen hat, kündet die derbe Narbe an ihrer Lippe, die sie später zu ihrem Alleinstellungsmerkmal und zu ihrem Künstlerinnennamen macht: Der eigene Bruder hat sie ihr per Faustschlag verpasst.

Überhaupt, die Familie ... ein Quell steter Verletzungen. ScarLips Vater glänzt mit Abwesenheit, die Mutter stirbt infolge eines Autounfalls mit Fahrerflucht. Mit zwölf gerät die hinterbliebene Tochter in die Mühlen des Systems. Nachdem sie im Haus ihrer Tante Gewalt und Missbrauch erfahren hatte, wechselt sie, unterbrochen von Aufenthalten in Kinder- und Schwererziehbarenheimen, von einer Pflegefamilie in die nächste. Der ganze aufgestaute Zorn muss irgendwo hin: ScarLip gießt ihn in wütende, schmerzerfüllte, berührende Gedichte.

... und dann kommt DMX. Inspiriert von ihm, Onyx, Lauryn Hill und Cardi B, die wie sie selbst aus der Bronx stammt, beginnt sie, selbst zu rappen. Seit 2018 belegt ScarLip ihre Skills per Videobeweis. Zu Beginn covert sie noch, bald jedoch spittet sie ihre eigenen Zeilen in die Runde. Eine stinkwütende Urgewalt, ihr Style: unverkennbar New York, allerdings trifft hier 90er-Jahre-Hardcore-Rap auf den fiesen Drill-Vibe, wie er in den 2020ern aufgekommen ist. Tony Yayo, Latto, Lola Brooke, Busta Rhymes, Swizz Beatz und Snoop Dogg gefällt das. Unter anderem.

"Mir ist das alles viel zu hübsch hier", erklärt ScarLip. "Ich bin gekommen, um ein paar hässliche Wahrheiten auszusprechen. Ich bringe den Schmerz zurück in den Rap." Hoffentlich bald auch im Albumformat: Den Deal mit Epic Records hat sie jedenfalls längst eingetütet.

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