Konzertreview: Pearl Jam in Zürich
"I'm still alive": Man hätte im Vorfeld vielleicht nicht darauf bestanden, dass Pearl Jam ihren Grunge-Gassenhauer spielen müssen. Hat man einfach schon tausend Mal gehört seit 1991 und dann sind da ja noch ungefähr 30 andere Lieblingssongs, die die Band gefälligst zu spielen hat. Aber als ich letzte Woche in Zürich bei meinem Hallenkonzert-Comeback stehe und Mike McCready als letzte Zugabe die ikonischen Akkorde anschlägt, macht einfach alles Sinn: Endlich wieder Konzerte, endlich wieder lebendig - feels like good old 2019. Und die Amerikaner haben tatsächlich so viel Bock auf ihren Evergreen wie sie zuvor an Energie in ihre von Abend zu Abend stark variierende Setlist gepackt hatten.
Zudem verspürte Setlistenschreiber Eddie Vedder an diesem Abend offenkundig Lust auf eine "Ten"- Messe: Sieben von insgesamt 11 Albumtracks ihres Erfolgsdebüts wurden der Schweiz überbracht. So ungefähr muss es also im Februar 1992 in der winzigen Albani Music Bar in Winterthur gewesen sein, nur dass Pearl Jam dort aus Platzgründen der Legende nach erstmals unplugged auftraten. So alt bin dann nicht mal ich, 1996 sah ich sie zum ersten Mal, auch schon im Hallenstadion. Ich will mich also wirklich nicht beschweren, obwohl ich natürlich gerne "Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town", "Not For You" oder auch "I Believe In Miracles" gehört hätte. Schließlich zähle ich nicht zur "Ten Club"-Community, dem eingeschworenen Die-Hard-Fanzirkel der Band, für den alles unter zehn Konzertbesuche pro Tour nicht diskutabel ist und wo man schon mal die Nase rümpft, dass Vedder und Co. heute keine Drei-Stunden-Konzerte mehr abliefern.
Woher diese bedingungslose Treue kommt, dürfte selbst für viele Rock-Liebhaber schleierhaft sein, allein in meinem Bekanntenkreis bekam ich von Millennials öfter den Kommentar zu hören: "Ich glaube, ich kenne keinen einzigen Song von denen." Immer wieder erstaunlich, dass die Historisierung der Band aus Seattle nicht ansatzweise mit Nirvana Schritt hält. Nach leichten Soundproblemen sind Pearl Jam gleich im Flow, die Fan-Favourites "Corduroy" und "Immortality" tauen die Schweizer Zurückhaltung auf und dass die 128-Minuten-Show mit "Present Tense" und "Smile" dann gleich zwei Songs aus ihrem unterschätzten Album "No Code" beinhaltet - eine einzige Freude! Auch der geschasste Chili Pepper Josh Klinghoffer hat sichtlich Freude an den paar Nummern, bei denen er seine Jugendidole an verschiedenen Instrumenten begleitet.
Kleiner Schreckmoment in "Animal", wo Vedder den Song unterbricht, weil ein weiblicher Fan einem anderen wegen andauernder Filmerei auf die Mütze gegeben hat. Vedder hält eine kurze Standpauke (siehe Video), lässt den betreffenden Fan rauswerfen und die Band steigt dann im Refrain wieder ein. Kurios auch, weil Vedder an diesem Abend das Bild eines harmonieliebenden Family Man abgibt, unterlegt mit Anekdoten wie der, dass er am Vorabend des letzten Zürich-Gastspiels im Jahr 2000 seine Frau kennengelernt hat. "An evening we won't forget", wird er nach der letzten Zugabe noch sagen - Floskel oder nicht, mir spricht er damit komplett aus der Seele.
Setlist Zürich 23. Juni:
- Release
- Even Flow
- Corduroy
- Immortality
- Dance Of The Clairvoyants
- Quick Escape
- Daughter
- Given To Fly
- Seven O'Clock
- Do The Evolution
- Animal
- Present Tense
- In Hiding
- Jeremy
- Why Go
- Crazy Mary
- Porch
Zugabe:
- Smile
- Black
- Alive
1 Kommentar
Fühlt man sich doch direkt anwesend. Nur verwirrung: Wer ist denn jetzt rausgeflogen? Der Voyeur oder die Gewaltäterin?