12. Februar 2013

"Power hat denselben kranken Humor wie wir"

Interview geführt von

Knapp vier Jahre nach der umjubelten Reunion brennt das Feuer im Hause Selig heller und heißer denn je. Die Vergangenheit wurde endgültig zu den Akten gelegt; bei den Hanseaten richtet sich der Blick nur noch nach vorne.Selig lösten sich im Jahr 1999 praktisch über Nacht auf dem Höhepunkt ihres Schaffens auf. Nach tausenden zurückliegenden Tourkilometern, etlichen Glamour-Momenten und einem jahrelangen 24-Stunden-für-die-Musik-Alltag, standen die Hamburger urplötzlich vor einem riesengroßen seelischen Scherbenhaufen. Es folgte eine zehnjährige Pause, ehe man sich im Jahr 2009 wieder in die Arme schloss, um sich erneut ins Business zu stürzen – mit dem Ergebnis, dass sich zumindest nach außen hin scheinbar nichts verändert hat.

Abermals hagelte es Lobgesänge und wiederholt wurden vor der Band massenhaft rote Teppiche ausgerollt. Bei den Fans gingen nicht ohne Grund die Alarmsirenen an. Doch irgendwie scheinen die Hanseaten in den vergangenen vier Jahren einen gesunden Mittelweg gefunden zu haben, der einer weiteren Kapitulation vor dem Business wie ein massiver Felsen entgegensteht. Kurz vor der Veröffentlichung ihres neuen Albums "Magma" treffen wir in Berlin auf Sänger Jan Plewka, Gitarrist Christian Neander und Bassist Lenard Schmidthals, drei völlig tiefenentspannte und gut gelaunte Musiker, denen die Freude über das Hier und Jetzt förmlich ins Gesicht geschrieben steht.

"Magma" ist euer mittlerweile sechstes Studioalbum. Wie ist es um die Anspannung und die Vorfreude bestellt? Seid ihr immer noch genauso aufgeregt wie damals vor dem Release eures Debütalbums?

Christian: Absolut. Ich würde sogar behaupten, dass wir diesmal vor lauter Vorfreude besonders derbe am Rad drehen. Eigentlich laufen wir seit Wochen nur noch mit einem Dauergrinsen durch die Gegend. Wir haben diesmal etwas ganz Besonderes auf die Beine gestellt.

Lenard: Natürlich hört man das immer. Ich kenne keine Band, die nicht davon überzeugt ist, dass das neueste Album das Beste ist, was man je gemacht hat (lacht).

Christian: Ja, mag sein, aber dennoch: Ich glaube, dass es belegbar ist, dass ich mich in punkto Euphorie und überschwänglicher Lobdudelei bisher eigentlich immer eher zurückgehalten habe. Diesmal kann ich aber nicht anders.

Jan: Ich glaube, dass diese besondere Vorfreude diesmal auch viel mit der Entstehungsgeschichte des Albums zu tun hat. Wir wurden mit ganz viel Neuem konfrontiert, ähnlich wie damals, als wir für unser Debüt das erste Mal in Hamburg ein Studio betraten. In solchen Momenten entsteht ein ganz besonderes Kribbeln im Bauch. Dieses prickelnde Gefühl hatten wir letzten Sommer während der Aufnahmen auch. Alles war einfach anders. Das fühlte sich super an.

"Wir waren plötzlich wieder total sensibilisiert"

Ein Sommer in der englischen Pampa: erzählt doch mal.

Christian: Wir hatten eigentlich im letzten Februar schon vor, ins Studio zu gehen. Alles war optioniert und im Kasten. Aber irgendwie waren wir nicht so richtig überzeugt von der Gesamtkonstellation. Keine Ahnung, es war einfach ein komisches Gefühl präsent – so, als sollte man mit dem Ganzen noch warten.

Lenard: Wir wollten unbedingt wieder mit einem Produzenten zusammenarbeiten. Die letzten Alben hatten wir ja selbst produziert. Das lief auch gut, aber es ist halt auch verdammt viel Arbeit. Man pendelt permanent zwischen innen und außen hin und her. Das wollten wir diesmal nicht, wir wollten uns voll und ganz auf das Musizieren konzentrieren.

Christian: Unser Toningenieur kam dann auf die Idee Steve Power (Blur, The Bangles, Robbie Williams) anzurufen. Das war schon ziemlich abgefahren. Ich meine, der Typ ist ein Starproduzent. Aber er war sofort Feuer und Flamme und lud uns zu sich nach England ein.

Jan: Wir waren plötzlich wieder total sensibilisiert. Dieses Gefühl, dass man der Meinung ist, nach so vielen Jahren im Business selbst am besten zu wissen, was gut für einen ist, war sofort weg, als wir Steve das erste Mal trafen. Da war sofort Respekt da.

Und dann seid ihr mit ihm aufs Dorf gezogen ...

Lenard: (lacht) Oh ja, wir landeten mitten im Nirgendwo.

Christian: Da gab es nicht einmal einen Pub, nur diese alte Kirche, die zu einem Studio umgebaut wurde. Aber es war super. Wir hatten tolles Wetter, sind ganz oft raus zum Schwimmen gefahren und haben die Abgeschiedenheit genossen.

Jan: Für uns war das wirklich eine komplett neue Welt. Wir waren früher immer überall da, wo die Post abging. Berlin, Brüssel, New York: immer am Puls der Zeit. Und jetzt standen wir plötzlich mit Steve Power in einer Kirche in den East-Midlands. Das war schon ziemlich abgefahren. Aber dieser Typ ist einfach eine Wucht. Er ist verrückt und hat denselben kranken Humor wie wir.

Christian: Wir haben die ersten Sessions immer mitgefilmt. Ich kann mich erinnern, wie er gleich zu Beginn während eines Gitarrensolos plötzlich durchs Bild geflogen kam. Da wusste ich: Das wird lustig. Diese ganze Stimmung dort war einfach der Hammer. Das hat nicht nur musikalisch beflügelt, sondern auch die Gedanken Achterbahn fahren lassen. Ich kann mich noch erinnern, wie wir irgendwann da saßen und uns überlegt haben, ob wir uns nicht in "Magma" umbenennen, oder eine Death Metal-Version von Selig auf die Beine stellen sollen. Es kam zu völlig absurden Ideen, die aber nur entstanden, weil wir uns so dermaßen wohl und frei von allem gefühlt haben, wie noch nie zuvor.

Es hätte mich auch gewundert, wenn das Album unter gängigen Bedingungen entstanden wäre. Denn ich finde, dass man dem Album diese von euch angesprochene Leichtigkeit während der Aufnahmen auch anhört. Ich brauchte bei euren alten Alben bisher immer mindestens zwei Durchläufe um mich zurechtzufinden. Diesmal ging alles viel schneller. Empfindet ihr das ähnlich?

Christian: Ja, schon. Diese neue Eingängigkeit hat aber nichts damit zu tun, dass wir uns vorher überlegt haben, wie wir schneller ins Radio kommen können. Das spielte bei der Entstehung der Songs überhaupt keine Rolle. Es hat sich einfach so entwickelt.

"Wenn Selig unser Körper ist, dann ist 'Magma' unsere Seele"

Inhaltlich blickt ihr auf "Magma" verstärkt über den Tellerrand. Trotzdem gibt es einen Song wie "Alles Auf Einmal", der noch mal als eine Art Vergangenheits-Warnschild fungiert. Wie sieht es denn dahingehend überhaupt momentan aus? Öffnen sich schon wieder alte Wunden nach den letzten drei immens erfolgreichen Jahren?

Jan: Nein, ganz im Gegenteil. Diese Zeit damals, in der wir 24 Stunden am Tag nur geklotzt haben, war extrem lehrreich für uns. Wir waren total ausgebrannt, zermürbt und haben uns gegenseitig zerfleischt. Der Cut danach war ein Segen für die Band. Wenn man so etwas mitgemacht hat, dann entwickelt man über die Jahre ein ganz anderes Bewusstsein für die Dinge.

Lenard: Es läuft besser als je zuvor. Und das sagen wir jetzt nicht nur, weil wir auf Promotour sind, sondern weil es wirklich so ist. Wir haben früher nur gemacht, verstehst du? Den ganzen Tag haben wir uns überlegt, wie wir noch größer werden und wo wir noch irgendwo spielen können. Heute machen wir nur noch das, worauf wir wirklich Lust haben.

Hat sich dieses neue Gefühl innerhalb der Band in den ersten Monaten nach der Reunion erst entwickeln müssen, oder war es von Beginn an präsent?

Christian: Für mich war dieses Gefühl sofort da, als wir uns nach der Trennung das erste Mal wiedersahen. Da trafen fünf Menschen aufeinander, die sich völlig neu präsentiert, aber gleichzeitig auch ganz viel Vertrautes mitgebracht haben. Da bedurfte es keiner großen Reden. Natürlich haben wir uns auch unterhalten, ziemlich viel sogar, aber die Essenz, dieser zwischenmenschliche und musikalische Nenner war sofort da.

Wir wollten keine Reunion machen, um noch mal ordentlich Kohle abzugreifen. Das war nie unsere Intention. Wir wollten einfach gucken, ob wir noch Musik zusammen machen können. Darum ging es. Wir standen also da im Proberaum und versuchten uns gleich am schwersten Stück, das wir bis dato geschrieben hatten, nämlich "Hey, Hey, Hey". Und ob du es glaubst oder nicht, aber der Song saß wie eine Eins. Bäng! Wir konnten es also noch. Es fühlte sich an, als wenn wir nie eine Pause gemacht hätten.

Jan: Und dann kam der Rheinkultur-Auftritt. Dieser Abend gab uns noch mal einen besonderen Schub. Da standen plötzlich fast 200.000 Menschen, die richtig Bock auf uns hatten. Das war schon krass.

Lenard: Ich meine, wir waren zehn Jahre weg vom Fenster und dann siehst du auf einmal generationsübergreifende Massen, die dich abfeiern, als hätten sie die letzten zehn Jahre auf nichts anderes gewartet. Spätestens da wussten wir, dass die Entscheidung, es noch mal anzugehen, richtig war.

Jan: Dieses Ganze hat jetzt für uns auch einen Namen. Wir haben, noch bevor wir uns für dieses Album mit neuen Songs beschäftigt haben, versucht herauszufinden, wie man dieses neue Glück in Worte fassen kann. Irgendwann warf dann jemand "Magma" in die Runde. Und genau das ist es auch. Wenn Selig also unser Körper ist, dann ist Magma unsere Seele. Es war wichtig für uns, ein Wort zu finden, das diese neue Stimmung in der Band irgendwie auf den Punkt bringt. Wir sind jetzt wieder eine gesunde Band, die ihren Status erstmals auch wirklich lebt und auskostet, ohne ständig auf den Terminplan zu schielen und zu gucken, was man noch alles anleiern kann. Diese Ruhe hatten wir früher einfach nicht.

Christian: Man wird natürlich auch älter und reifer und begreift viel mehr, was Dinge wie Zusammenhalt, Freiheit und Freundschaft wirklich für einen Wert haben. Man muss nur bereit sein dafür.

Lenard: Ich glaube auch nicht, dass sich irgendein Scheiß von damals noch mal wiederholen wird. Dafür genießen wir die Zeit im Hier und Jetzt einfach viel zu sehr. Wir haben in den zehn Jahren Abstinenz insgesamt, glaube ich, zwölf Kinder in die Welt gesetzt, tolle Familien gegründet und uns als Persönlichkeiten weiterentwickelt. Wir wissen jetzt genau was wir wollen und was wirklich wichtig ist.

Selig sind jetzt selig?

Lenard: Ja, genau (lacht). Ich glaube, das umschreibt es sehr gut. Wir fühlen uns als Band endlich so, wie wir heißen.

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