16. Februar 2021

"Unser Leben wird nie wieder so sein wie vor Corona"

Interview geführt von

Wie geht man vor 25.000 Leuten auf die Bühne? Tash Sultana verrät uns im Gespräch eine Strategie dafür und erzählt von ihren Projekten während der konzertlosen Coronazeit. Spoiler: Das neue Album "Terra Firma" war nicht das einzige.

Selten begegnet man einem so bunt gemischten Publikum wie bei Konzerten Tash Sultanas. Althippies mit Shirts aus den 70ern tanzen dort neben TikTok-Teens, Prognerds und Ed Sheeran-Fans beobachten verträumt, wie Sultana auf der Bühne von Gitarre zu Trompete zu Sampling Pad hopst und mithilfe einer Loop Station psychedelische Popsongs zum Leben erweckt.

So richtig Fahrt auf nimmt das Phänomen 2016. Ein Bedroom-Jam der späteren Single "Jungle" geht viral, kurz darauf melden Venues in Sydney und Melbourne jeweils für drei Konzerte Sultanas (die damals weder Label noch Management im Rücken hat) "ausverkauft". Zwei Jahre und mehrere Millionen Views später spiegelt sich das Bild in Europa. Noch vor Erscheinen des Debütalbums "Flow State" pilgern 2018 mehrere Tausend Gäste zu Shows (kein anderer Künstler schaffte es zuvor, ohne Album in petto dreimal in Folge die Londoner Brixton Academy zu füllen). 2019 folgt eine Open Air Tour, 2020 steht Sultana als Headliner im Programm des Reeperbahn Festivals.

Letzteres fällt wegen der Corona-Pandemie zwar flach, ebenso wie eine geplante Tour durch Asien. Den künstlerischen Aufwind stoppt das freilich nicht. Im Home Studio feilt Sultana an Songwriting-Skills, startet Kollaborationen, schreibt und produziert für andere Musiker und finalisiert das Zweitwerk "Terra Firma". Einige Wochen vor Release des Albums telefonierten wir nach Australien, um mehr darüber zu erfahren.

Hi Tash, schön dass du dir ein wenig Zeit für uns nimmst.

Ach, gerne. Wir haben ja momentan eh alle nichts zu tun ...

Du hast den Countdown zu "Terra Firma" mit einer Reihe von Theatern begonnen, die jeweils verschiedene Elemente repräsentieren. Ich würde gerne mit dem für "Air" starten. Darin sprichst du von neuen Anfängen, dass es niemals zu spät sei, von vorn zu beginnen ... Was war dein jüngster "Neuanfang"?

Irgendwie standen wir ja durch COVID-19 gerade alle gezwungenermaßen an einem Ende. Unser Leben wird danach nie wieder so sein wie vorher. Es wird immer verändert sein und an die jeweilige Zeit angepasst. Als ich Ende letzten Jahres (2019; A.d.R.) vom Touring zurückkam, hatte ich Konzerte sowas von satt. Ich war total ausgebrannt, erschöpft und musste einfach nach Hause für etwas Ruhezeit. Trotzdem regte sich in mir ein Gefühl von Widerstand, eine Spannung – ich wusste, etwas außerhalb meiner Kontrolle würde sich verändern. Wir kamen ins neue Jahr mit jeder Menge gebuchter Touren – und dann wurde ein Konzert nach dem anderen abgesagt. Ein Wandel lag in der Luft. Das war ein Ende, aber auch ein Neuanfang.

Inwiefern hängen die fünf Elemente 'Water', 'Earth', 'Fire', 'Air' und 'Spirit' mit "Terra Firma" zusammen?

Terra Firma steht für den Boden, die Erde, genauer gesagt die oberste Schicht der Erde: die Erdkruste. Es steht für Bodenständigkeit und dafür, Verbindung herzustellen. Das Album ist unterteilt in die fünf Elemente und wir werden fünf Singles vorab veröffentlichen. Jede davon repräsentiert ein Element. "Pretty Lady" ist Wasser, "Greed" ist Erde, "Beyond The Pine" ist "Air" und die gestern erschienene "Willow Tree" ist Feuer. Die nächste, deren Name ich noch nicht verraten darf ("Sweet And Dandy"; A.d.R.), ist "Spirit".

Nehmen wir das Beispiel "Willow Tree": Wir würdest du die Single innerhalb des Albumkontexts beschreiben.

Es ist ein Funk-Jam und wird im hinteren Teil des Albums stehen. Ich wollte zum Ende hin etwas Erhebendes bringen, um mit einem Bang aufzuhören.

An dem Song hast du mit Jerome Farah gearbeitet. Woher kennt ihr euch?

Wir waren zusammen auf der Highschool, kennen uns also schon ziemlich lange. Ich habe ihn schon immer als Künstler bewundert, für das was er in seiner Solomusik und mit seiner Band macht. Schon seit Jahren wollten wir mal zusammen ins Studio und einen Track gemeinsam aufnehmen. Jetzt haben wir es endlich gemacht.

"Mein Produktionsmanager hasst die Salzsteinlampe"

Seit der Veröffentlichung deines Debüts "Flow State" warst du auch in einigen anderen Kollaborationsprojekten zu hören. Was ist dir bei der Zusammenarbeit mit anderen wichtig?

Da habe ich so noch gar nicht wirklich drüber nachgedacht, aber du hast glaube ich Recht: Seit dem Album kamen fast nur Kollabos oder Co-Writes raus. Bei "Flow State" war mir sehr wichtig, so viel wie möglich alleine zu machen. Danach gab ich der Idee nach, mit anderen zusammenzuarbeiten. Es ist gut, eine andere Perspektive zu bekommen, auf die man selbst niemals kommen würde. Kein Hirn tickt gleich. Das mag ich an Kollaborationen: Jemand entsperrt einen Teil eines Songs, den ich allein niemals gefunden hätte.

Gehst du auch selbst anders ans Songwriting heran, wenn du mit anderen schreibst?

Auf jeden Fall. Du begibst dich ja gewissermaßen ein Stück weit in den Kopf von anderen. Sie haben eine andere Formel als du und du bist dieser Formel ausgesetzt. Vieles was ich sehe, eigne ich mir an, zum Beispiel wenn es ums Arrangieren geht. Ich liebe das. Inzwischen schreibe ich auch Musik für andere Künstler. Sie kommen zu mir ins Studio, ich schreibe und produziere ihnen ein paar Tracks. Solche Co-Writing-Projekte gefallen mir sehr.

Denkst du darüber nach, das als zweiten Karriereplan in Zukunft zu intensivieren?

Ja, schon. Ich würde gern tiefer in diese Welt einsteigen. Livemusik und Solokarriere werden immer an erster Stelle stehen, aber gerade angesichts des aktuellen Stands der Dinge, wo Konzerte nicht stattfinden können und keiner weiß, wie lange das noch so weitergeht, ist es gut, nicht alle Eier im selben Korb zu haben. Es ist besser, sie zu verteilen. So hast du verschiedene Optionen und kannst Seiten wechseln, wann immer nötig. Jetzt, wenn keine Shows stattfinden, ist die perfekte Zeit, um Musik zu schreiben.

Bewegst du dich beim Schreiben für andere in ähnlichen stilistischen Gefilden wie bei deinen Solostücken oder probierst du völlig andere Dinge aus?

Ich bin musikalisch recht wandelbar, mag alle möglichen Genres und lerne gern von anderen. Ich lasse mich da auch sehr gerne von anderen inspirieren.

Für deine nun leider verschobene nächste Tour hattest du eigentlich geplant, mit einer Band zu spielen, statt wie bisher ganz allein auf der Bühne zu stehen. Was führte zu dieser Entscheidung?

Ach, um ehrlich zu sein, reißen das alle ein bisschen aus dem Kontext. (lacht) Ich bin Solokünstler und werde das immer bleiben. Auch auf meinem zweiten Album stehen für Loop-Station konzipierte Songs wie "Pretty Lady" und die nächste Single. Aber viele andere Stücke des Albums sind nun anders geschrieben. Und um das bestmöglich live umsetzen zu können, brauche ich andere Menschen auf der Bühne. Es gibt Tempo-, Tonart- und Taktwechsel, die Akkordfolgen sind komplexer. Im Studio hatte ich keine Band, da habe ich alles allein geschrieben und aufgenommen. Aber wenn ich das Album auf die Bühne bringe, brauche ich Unterstützung. Das werden wir aber wohl nur für einen Teil der Show machen, denn ich kann einfach nicht aufgeben, diese Bühne für mich allein zu haben.

Bei deinen Liveshows gibt es noch bevor du überhaupt auf die Bühne steigst den Moment, in dem man sich fragt "Was zur Hölle geht denn hier ab?" Nicht nur stehen dort alle möglichen verschiedenen Instrumente bereit, die du später spielen wirst, sondern auch viele kleine Deko-Accessoires – Manekineko Winkekatze, Neon-Flamingo und so weiter ... Was hat es damit eigentlich auf sich?

Haha, meine Crew hasst dieses ganze Zeug. Mein Produktionsmanager hasst besonders die Salzsteinlampe. Ein Grund, warum ich sie so lange behalten habe, ist wahrscheinlich, dass er sie so sehr hasst. (lacht) Aber das Konzept dahinter ist, die Bühne zu einem Raum zu machen, in dem ich mich wohl fühle. Vor 25.000 Leuten auf die Bühne zu gehen, kann etwas erschreckend sein. Stattdessen gehe ich lieber in mein Zimmer, meine neutrale Zone. Deswegen liegen da ein Teppich und all die anderen Kleinigkeiten. Ich hab' das ganze Zeug genau so zuhause.

"Ich möchte, dass Menschen sich besser fühlen."

Im Interview mit NME hast du vor einigen Monaten erzählt, dass "Pretty Lady" sowie einige andere Stücke noch während deiner Straßenmusikerzeit entstanden sind ...

Nee, nur "Pretty Lady"!

Seitdem hat sich recht viel für dich verändert. Wie fühlt es sich an, diesen Song jetzt in völlig neuem Kontext zu spielen?

Naja, streng genommen hatte ich ja keinen Gig, seit der Song raus ist. Richtig gespielt habe ich ihn noch gar nicht.

Ich meinte das vor allem aufs Recording bezogen. Du hast das Stück ja vermutlich für die neue Fassung überarbeitet.

Achso, ja. Es sind zwar immer noch dieselben Akkorde, aber weil das alles so simpel ist, fühlte es sich fast ein wenig cringey an. Ich hätte ihn deshalb beinahe nicht veröffentlicht. Mein Problem mit dem Song war, dass er so einfach geschrieben war. Ich war nicht glücklich damit, wie basisch das alles klang und brauchte den Input anderer Leute, um ihn upzugraden. Er ist zwar jetzt immer noch simpel, aber simpel auf geschmackvollere Weise. Vorher war er halt echt ziemlich cringey, muss ich ehrlich sagen. (lacht) Aber so habe ich ihn dann ja nicht veröffentlicht.

Du spielst Gitarre mittlerweile in der Regel nie über einen Amp, sondern hast lieber alles digital. Wie passt das mit deinem relativ jam-basierten Stil zusammen? Man könnte meinen, wenn du zuerst durch den Computer musst, würde das den Prozess etwas weniger intuitiv machen. Warum bevorzugst die diesen Weg?

So bekommst du einfach den cleansten, zuverlässigsten Sound, der möglich ist. Digitale Sounds und digitale Amps wurden ja anhand von Profilen echter Amps erstellt. Ich kann meine Gitarre exakt so klingen lassen wie mit jedem Amp der Welt. In meinem System liegen über 1000 verschiedene Amp-Profile. Wenn ich einen Fender Deluxe haben möchte, wähle ich den aus. Wenn ich einen Marshall möchte, wähle ich den. Wenn ich einen Vox möchte, wähle ich den und kann ihn anpassen. Für mich funktioniert das besser. Wenn du alles digital machst, kannst du deine Sounds pro Song ausarbeiten. Das brauche ich.

Kommen wir nochmal kurz zu den Teaser-Clips. In "Water" sprichst du über deine Leidenschaft fürs Surfen. Damit bist du in australischen Musikerkreisen definitiv nicht allein, denken wir zum Beispiel an Parkway Drive. Siehst du Parallelen zwischen Musik und dem Wellenreiten?

Haha, ja, das Surfen ist wohl ein ziemlich australisches Ding. Wir leben fast alle in Küstennähe, also ist auch jeder viel am Strand. Für mich hat Surfen nichts mit Musik zu tun – und genau weil es so anders ist, mag ich es so sehr. Wenn ich da draußen bin, habe ich keine Gedanken. Es gibt nur den Ozean. Surfen ist Movement, es geht darum "fluide" zu sein. Die Vorstellung, dass du tatsächlich auf der Oberfläche des Meeres reiten kannst, ist verdammt cool. Und ich mag, dass es für mich nichts mit Musik zu tun hat.

Bei "Earth" sagst du: "I hold my place in this world tightly, for our survival is temporary, but our legacy lives forever". Wie sollte dein Vermächtnis aussehen?

Ich möchte als Künstler respektiert werden. Ich möchte eine lange Karriere haben, während der ich so vielen Menschen wie möglich helfen kann. Ich möchte, dass Menschen sich besser fühlen. Es ist sinnlos zu existieren, wenn man anderen nichts gibt – egal wie, egal ob in großem oder kleinem Maße. Das sollte meine ultimative Form von Existenz sein und ich möchte, dass das mein Vermächtnis wird: zu geben. Die Musik spricht für sich.

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