23. Januar 2018
"Wenn alte, weiße Männer ihren Hass pflegen, wird es peinlich"
Interview geführt von David HutzelEin Gespräch mit Jan Müller und Dirk von Lowtzow über dessen autobiographischen Reise im neuen Album "Die Unendlichkeit" – von der Dorfpunk-Jugend über eine beginnende Alkoholsucht bis ins Jetzt.
Vielleicht hatte sich zuletzt eine gewisse Müdigkeit rund um Tocotronic breitgemacht. Seit dem stilistischen Wandel, der spätestens mit dem selbstbetitelten, weißen Album im Jahr 2002 vollzogen wurde, war eigentlich alles gesagt. Was sollten die vier Hamburger auch verändern, hatten sie doch längst ihren prägnanten Klang etabliert, mit dem campy-verschwurbelten Dirk von Lowtzow in der ersten Reihe und dem klirrenden Gitarrensound Rick McPhails.
Ja, vielleicht haben Tocotronic in den letzten zehn Jahren sogar mehrmals das gleiche Album veröffentlicht. Nun hat auch die Band selbst erkannt, dass sich ihr Sophisti-Pop-Konzept abgenutzt hat. Das neue Album "Die Unendlichkeit" trägt diesen Gedanken in sich: Weniger Philosophie, mehr Direktheit, dazu ein veritabler musikalischer Umbruch. Eins zu eins ist jetzt wieder da, was "Die Unendlichkeit" zum aufregendsten Tocotronic-Album seit fünfzehn Jahren macht.
Die Texte auf eurem neuen Album "Die Unendlichkeit" sind sehr stark autobiografisch. Warum war ausgerechnet jetzt die Zeit reif für einen solchen Schritt?
Dirk von Lowtzow: Das können wir dir auch nicht so richtig beantworten. Tatsache ist, dass für uns jetzt irgendwie die Zeit reif war. Interessant daran finde ich, dass man es ja auch nur einmal im Leben machen kann. Vielleicht dann ganz spät noch einmal, aber man weiß ja nicht, was so passiert.
Jan Müller: Falls man ein gewisses Lebensalter erreicht, in dem man die entsprechende geistige Klarheit hat, kann man das noch mal machen.
Dirk: Irgendwie war das für uns nach dem letzten Album der folgerichtige Schritt. Da war die Tür ja auch schon einen Spalt breit geöffnet. Auf dem "Roten Album" gab es ja schon ein paar Stücke, die für uns unerwartet autobiografischen Charakter hatten. "Jungfernfahrt" zum Beispiel, oder "Date mit Dirk", der Hidden Track, der schon im Titel andeutet, dass es da um eine Begegnung mit sich selbst geht. Und deshalb haben wir die Tür jetzt einfach noch weiter aufgemacht und sind so diesen Pfad etwas entlanggegangen. Weil es das einzig Richtige und Wichtige war, was es für uns zu tun gab.
Es gab kein spezielles Ereignis, das euch in diese Richtung gelenkt hätte?
Dirk: Nein, es gab jetzt kein einschneidendes Erlebnis oder irgendeine Erfahrung, eine Nahtoderfahrung oder Ähnliches, das jetzt die Beschäftigung mit der eigenen Biografie so zwingend nahegelegt hätte. (lacht) Die Tür stand wie gesagt schon ein wenig offen. Und das Autobiografische war etwas, das wir seit 1999 nicht gemacht haben. In den letzten fünfzehn Jahren war unser Credo eher, dass wenn wir etwas über uns preisgeben, dann eher über etwas abseitige Konstruktionen und Theoreme oder Abstraktionen und Assoziationen. Irgendwas gibt man natürlich immer von sich preis, ganz einfach, weil Rockmusik so ein persönliches Genre ist und man natürlich irgendwie immer von sich singt. Dass wir es so unmittelbar und darstellungsrealistisch, geradezu ungepanzert tun, das war eine folgerichtige Entwicklung seit dem letzten Album.
In meinem Umfeld hörte ich schon Menschen fürchten, dass das euer letztes Album sein könnte. Also muss man sich dahingehend keine Gedanken machen?
Jan: Man weiß es nie. (lacht)
Dirk: Man sollte schließlich jedes Album so machen, als sei es das letzte. (lacht)
Aber jetzt noch einmal grundsätzlich zur Idee eines autobiografischen Albums: Hat man da keine Angst, in so eine Art retrospektive Verklärung abzurutschen? Es könnten sich nun einmal mehr insbesondere Liebhaber eures Frühwerks bestätigt fühlen und sagen, dass euch die Sprengkraft von früher inzwischen vollkommen verloren gegangen ist.
Jan: Gerade dadurch, dass die Sprache so einfach ist und wir mit viel Anstrengung versucht haben, zu vermeiden, dass es eine Nabelschau von Dirks Vergangenheit wird, hat das Album ziemlich viel Sprengkraft. Nehmen wir das erste Stück, das wir der Öffentlichkeit präsentiert haben. Ich finde "Hey Du" sagt sehr viel darüber, wie es Leuten heute ergeht. Und das, obwohl es in einer ganz anderen Zeit spielt und aus Dirks Biographie stammt. Die erste Reaktion von Rick, Arne und mir auf dieses Stück war ein kollektives Zustimmen: "Ja, so ging's uns." Obwohl Rick in den USA aufgewachsen ist und Arne und ich nicht in einer Kleinstadt, sondern in Hamburg. Ich hoffe, dass es heute immer noch Leute gibt, denen das Lied einen ganz ähnlichen Ansporn geben kann, den man damals selber erlebt, hat, wenn man solchen Anfeindungen ausgesetzt war. Dass es also dazu führt, dass sie sich erst recht nicht ergeben. Es gibt ja heute noch viel mehr Aggressivität, also nicht nur auf den Straßen, sondern auch im virtuellen Raum, durch irgendwelche Shitstorms oder Mobbing in WhatsApp-Gruppen. Ich sehe in diesem Thema durchaus Aktualität.
Ihr würdet es also zurückweisen, wenn euch jemand so etwas wie Altersmilde unterstellt?
Dirk: Nein, das würde ich so nicht formulieren. Altersmilde klingt vielleicht ein bisschen blöd. Ich fände es aber schön, wenn jemand sagen würde, dass dieses eines der zärtlichsten Alben ist, das wir je gemacht haben. Dass es also etwas Mildes gibt, wie du sagst, finde ich schön. Dadurch, dass es sich nicht nur um die Jugend dreht, sondern darüber hinaus bis ins Erwachsenenalter, über die jüngere Vergangenheit bis in die Gegenwart und in die Zukunft reicht, mit dem Stück "Mein Morgen", oder so einem Resümee wie "Alles was ich immer wollte war alles", haben wir diese Verklärung der Jugend oder dieser Idealisierung einer bestimmten Zeit ausgehebelt. Es ist natürlich ein Teil, der ganz wichtig ist, aber er wird ja nicht verklärt gezeichnet. Die Kindheit wird ja nicht in prächtigen, bunten Farben gezeichnet und mit dem Kommentar "Wie schön war das!" versehen, sondern es gibt ja immer einen Drift ins Unheimliche. Oder es gibt Bedrohungen. Aus dem Alltag entwächst eine Unheimlichkeit.
Jan: Aber es ist auch keine reine Abrechnung.
Dirk: Genau, deshalb wäre eine Altersmilde auch klischeehaft gewesen.
Den von dir angesprochenen Punkt der Zärtlichkeit finde ich auf eine weitere Art interessant: Nämlich hinsichtlich dessen, wie liebevoll die verschiedenen musikalischen Einflüsse auf "Die Unendlichkeit" arrangiert sind. Gleich das erste Stück zehrt ja von dieser Dub-Bassline, das später folgende "Unwiederbringlich" beispielsweise ist hingegen zu großen Teilen mit Marimba instrumentiert. Entsprang diese Mischung doch sehr unterschiedlicher Stile auch einem konzeptuellen Gedanken?
Jan: Das hat glaube ich damit zu tun, dass Moses Schneider irgendwann die Idee hatte, die Stücke zeitlich zu ordnen. Das mag jetzt lustig klingen, aber darauf wären wir selbst gar nicht gekommen. Manchmal hat man ja so einen Tunnelblick. Das führte jedenfalls dazu, dass wir die Songs auch in dieser Reihenfolge aufgenommen haben. Und deshalb stellen die Stücke einen so schönen Bezug zueinander her und reagieren aufeinander. Es ist ja eher ungewöhnlich, dass die Reihenfolge für ein Album schon so früh feststeht. Normalerweise nimmt man die Stücke so für sich auf. Die spätere Reihenfolge haben wir immer sehr spät entschieden, wenn das Album schon gemastert war. Das war eben dieses Mal ganz anders. Dazu kommt noch, dass wir die Stücke auch nicht live aufgenommen, sondern nach und nach fertiggestellt haben. Dadurch entsteht glaube ich dieser Eindruck des Organischen.
Ihr habt also die Struktur des Aufnahmeprozesses im Vergleich zum "Roten Album" gänzlich umgestaltet?
Jan: Es war eigentlich ähnlich wie beim "Roten Album". Seitdem wir mit Moses Schneider zusammenarbeiten, haben wir live aufgenommen. Damit haben wir beim "Roten Album" aufgehört. Diese Technik, die Stücke nach und nach fertigzustellen, haben wir also noch einmal angewandt, aber doch verändert, würde ich sagen.
"Wow! Das ist ja jetzt genial!"
Noch einmal zurück zur Sprache. Euch wird ja immer attestiert, dass es mit dem "Weißen Album" erstmals einen großen Bruch in euren Texten gab. Unter anderem hast du da die Zeile "Eins zu eins ist jetzt vorbei" gesungen, Dirk, was ja immer wieder als Bekenntnis zu philosophischen Texten mit doppeltem Boden gesehen wird. Auf "Die Unendlichkeit" gibt es nun eine klare Tendenz zurück zur einfachen Sprache, wie ihr sie vielleicht bis ins Jahr 2002 verwendet habt. Wie kam es dazu?
Dirk: Also doppelte Böden gibt es natürlich schon. Ich finde sie auch für jede künstlerische Äußerung wichtig. Wenn es keinen doppelten Boden gibt, dann ist es eindimensional und ein bisschen langweilig. Auch auf diesem Album gibt es natürlich Referenzen musikalischer und textlicher Natur, aber die Lust am Spiel damit steht vielleicht nicht so im Vordergrund. Das ist der Grundidee geschuldet, dass ich biografisch schreiben wollte und ich mir dachte, wenn man das tut, dann muss man vielleicht zu einer etwas schlichteren, uneitlen und direkten Sprache greifen. Das hat uns schon gereizt, weil wir es – vielleicht bis zum "Roten Album", wo das schon etwas anklang – lange nicht mehr gemacht haben. Insofern finde ich es dann schon wieder diskursiv oder konzeptuell im eigentlichen Sinne, weil es eine bestimmte Formvorgabe gibt: die Autobiografie. Um diese gut auszufüllen, muss man eben eine etwas einfachere Sprache wählen. Einfach deshalb, um verständlich zu sein, denn es wäre ja blöd, wenn man dann wieder alles verschlüsselt, so dass es wieder kein Mensch versteht. Das wäre der Sache ja eher hinderlich.
Jan: Es ist allerdings schwierig, diese einfache Sprache zu sprechen. Vor allen Dingen, weil man so formulieren muss, dass es glaubwürdig ist. Gerade bei autobiografischen Popsongs wirkt es oft unangenehm, wenn Vokabeln angetriggert werden, um bestimmte Gefühle zu erzeugen. Das wollten wir natürlich vermeiden. Man musste sich da also immer weiter verknappen und entschlacken, was durchaus zeitaufwendig war.
Dirk: Einerseits war es eine Herausforderung, der man sich aber gerne stellt, und andererseits war es eine Befreiung. Von vorn herein war uns klar, dass die Rückkehr in unsere jüngere Vergangenheit zu einer bestimmten Art von Befreiung führen muss. Und sei es nur, den Schreibfluss zu befreien, was geklappt hat, denn ich habe für dieses Album mindestens doppelt so viele Stücke geschrieben wie sonst. So konnten wir auswählen, welche Stücke wirklich passen, welche diesen oder jenen Lebensabschnitt am besten illustrieren.
Du bist ja insofern für die Texte mitverantwortlich, Jan, als dass du eine Art Lektor für Dirk darstellst. Was sagen denn Arne Zank und Rick McPhail zu den Texten auf "Die Unendlichkeit"?
Jan: Rick betont immer wieder, dass er Musik viel weniger textorientiert hört als wir anderen. Das ist für ihn einfach nicht das spannendste Thema an der Musik. Möglicherweise hat das auch mit seiner Herkunft zu tun und damit, dass er kein Muttersprachler ist. Natürlich ist ihm wichtig, dass die Texte stimmig sind, aber es ist für ihn nicht primär im Fokus. Für mich hingegen ist das wiederum ganz anders.
Dirk: Deshalb bist du auch so ein strenger, aber gerechter und guter Lektor. (lacht) Ich finde, Lektorat wird grundsätzlich unterschätzt. Je autobiografischer und persönlicher Texte werden, umso wichtiger ist das eigentlich. Immer wenn man über sein eigenes Leben schreibt, läuft man Gefahr, zu verfälschen oder zu verklären. Da kann man gar nichts dagegen machen, weil es automatisch abläuft. Selbst wenn man es nicht möchte, wird man an bestimmten Punkten vielleicht ein wenig eitel. Umso wichtiger ist es, dass jemand die Texte lektoriert oder Anregungen gibt. Ich bin zum Beispiel sehr oft sehr schnell zufrieden: Wenn ich etwas geschrieben habe und es harmoniert mit der Musik, dann bin ich schon glücklich und denke "Wow! Das ist ja jetzt genial, was ich da gemacht habe!" (lacht)
Und dann kommt oft Jan und macht mich darauf aufmerksam, dass ich noch nicht am Kern der Sache angelangt bin. Auch jetzt wieder gab es Situationen, bei denen ich das Gefühl hatte, ganz nah an einem bestimmten autobiografischen Punkt angelangt zu sein. Jan hilft mir dann dadurch, dass er Dinge streicht oder mich darauf aufmerksam macht, noch etwas hinzufügen zu müssen. Das klingt jetzt etwas paradox, aber je autobiografischer ein Text ist, desto mehr braucht man Menschen, die einen anleiten und die Sachen begutachten. Weil man es ja eigentlich mit sich im stillen Kämmerlein ausmachen kann.
Der schwierige Weg der Einfachheit
Im Stück "Ausgerechnet du hast mich gerettet" gibt es unter anderem die Zeile: "Diese Liebe ist unsere / sie gehört nur uns beiden". Birgt diese Direktheit, wenn man über intime Gefühle singt, nicht auch irgendwo die Gefahr, kitschig zu klingen? Insbesondere deshalb, da in diesem Fall weder doppelter Boden noch ironischer Bruch vorhanden sind.
Jan: Ich hoffe nicht, dass es Kitsch ist. Das wäre keine schöne Konnotation. (lacht) Natürlich ist es für uns immer interessant, an Grenzen zu gehen. In diesem Fall ist das natürlich etwas, über das man sprechen könnte. Aber wir wollten nicht auf Nummer sicher gehen. Wenn man über Gefühle singt, dann finde ich es auch in Ordnung, diese zu benennen.
Dirk: Außerdem gibt es ja solche Gedanken. Wenn man liebt, dann hat man ja das Gefühl, "diese Liebe ist unsere, sie gehört nur uns beiden". Das finde ich überhaupt nicht kitschig, sondern eher das Gegenteil.
Ihr habt also keine Angst davor, dass ihr für den Geschmack mancher Fans zu viel von eurer bürgerlichen, privaten Seite zeigt – und nicht mehr als die Philosophen wahrgenommen werdet, die Emotionen eher mit sachlichem Vokabular beschreiben?>
Dirk: Liebe hat für mich erst einmal nichts mit Bürgerlichkeit zu tun. Ich kann nachvollziehen, dass manchen hier vielleicht der Hass oder der Zorn fehlt. Wenn ich aber momentan an Mobs und hetzende Massen von Wutbürgern denke, dann finde ich das eine sehr viel unschönere Seite von Bürgerlichkeit, als offen von Liebe und vom Gefühl, diese einer anderen Person gegenüber aufzubringen, zu singen. Also kann ich das so nicht nachvollziehen.
Jan: Ich auch nicht. Vielleicht sind die Texte weniger abstrakt als einige unserer Songtexte zwischen 1999 und 2013, aber ich denke, in einer Autobiographie ist es wichtig, direkt zu sein.
Ist "Die Unendlichkeit" auch gezielt als Gegenstimme zu aufkommendem, gesellschaftsfähigem Hass formuliert?
Jan: Es gibt ja sehr viel Hass heute. Wir haben in früheren Zeiten dem Hass selbst gefrönt. Es war auch wichtig, Stücke wie "Freiburg" zu machen. Ich denke aber, dass unser damaliger jugendlicher Hass sich ganz grundsätzlich von dem heute vielfach artikulierten Wutbürgertum unterscheidet. Insofern würde ich die Frage mit Ja beantworten.
Könnte also genau darin die subversive Kraft eurer Musik im Jetzt liegen?
Jan: Ich weiß nicht, ob wir uns unbedingt auf den Thron der Subversion setzen würden. Ich finde aber, dass diese Zeiten eher Liebe und Zärtlichkeit brauchen als Hass.
Dirk: Als wir angefangen haben zu hassen, war das noch nicht so im Mainstream verbreitet und somit für uns eine klare Art der Abgrenzung. Außerdem hat ein junger, wütender Mensch etwas sehr Schönes. Ältere, weiße Männer, die ihren Hass pflegen, finde ich hingegen äußerst unangenehm und peinlich. Was jetzt nicht bedeutet, dass es nicht Dinge gibt, die man leidenschaftlich hassen kann. Es gibt aber wenig Beispiele von Künstlern, die im Alter noch auf eine gute Art gehasst haben. Meistens schlägt der Hass in Ressentiments um, und dann wird es sehr unappetitlich und ekelhaft. Vielleicht war Thomas Bernhard jemand, der das bis zuletzt in beispielloser Form konnte. Das war natürlich ein Sonderfall, weil er Zeit seines Lebens im Angesicht des nahenden Todes stand. Daher rührte vielleicht dieser unglaublich tief empfundene Hass und Nihilismus. Bei sehr vielen Leuten, die im Alter immer noch meinen, leidenschaftlich hassen zu müssen, ist es eben kein produktiver Hass, sondern sehr erzwungen. Das macht es unappetitlich und lässt es, wie angesprochen, ins rechte, mit Ressentiments behaftete Milieu abdriften.
Was das autobiografische Konzept von "Die Unendlichkeit" äußerst aktuell erscheinen lässt, ist eine Frage, die sich im Zuge der #metoo-Debatte in den vergangenen Monaten wiederholt stellte und auch weiterhin stellt: Kann ein Kunstwerk unabhängig von der Privatperson des Künstlers betrachtet werden? Indem ihr euer eigenes Leben zum Thema eurer Musik macht, würdet ihr die Frage aktuell wohl eher mit "Nein" beantworten, oder?
Dirk: Mir geht es ehrlich gesagt eher darum, was das Album bei den Hörerinnen und Hörern auslöst. Können sie damit etwas anfangen? Gibt es Empfindungen und Situationen, die auf dem Album derart geschildert werden, dass sie in Dialog mit den Biografien der Hörerinnen und Hörer treten können? Man könnte ja sagen, dass es ein Problem innerhalb eines Band-Kollektivs darstellt, dass der Sänger seine Autobiografie schreibt. Das wäre klassischerweise eher ein Topos für ein Soloalbum. Da die Stücke aber so allgemeingültig sind, und sich eben nicht in der Privatheit verlieren, sondern archetypische oder allgemeingültige Situationen darstellen, konnten sich die anderen Bandmitglieder damit identifizieren. Und das wäre im Endeffekt auch mein Wunsch für die Menschen, die es sich anhören: Dass sie sagen können: "Genau so war es bei mir auch!". Ich finde, so funktioniert Popmusik oder Literatur im weitesten Sinne. Das finde ich wichtiger als zu sagen, man kann dadurch auf den Autor schließen. Da es eine Autobiografie ist, spielt das natürlich auch mit rein, aber das ist für mich nicht zwingend notwendig.
Gerade wird an diesen Stellen immer wieder der Standpunkt des französischen Philosophen Roland Barthes bemüht, wonach Kunst eben nie von der Künstlerin losgelöst zu betrachten sei.
Dirk: Barthes ist natürlich ein ganz interessantes Beispiel. Weil er nämlich in seinem Werdegang einen gar nicht so unähnlichen Weg gegangen ist: Nämlich von der Analyse von Textstrukturen immer weiter Richtung autobiografisches Schreiben. Dabei wurde seine Sprache immer einfacher. Es ist schon sehr spannend, zu sehen, wie er sich von theoretisch konstruierten Methoden zum einfachen Schreiben – hauptsächlich über seine Frau Mutter (lacht) – bewegt hat. In vielen Aufzeichnungen hat er seine Meinung festgehalten, wonach man gezielt eine ganz einfache Form wählen sollte. Und wie schwer er sich damit tat, diese zu finden. Weil er so ein verquastes, poststrukturalistisches Denken gewohnt war. Es gibt dieses tolle Buch von ihm, "Die Vorbereitung des Romans", das Vorlesungen von ihm zusammenfasst, in denen er darüber spricht, wie der autobiografische Roman zu schreiben sei. Und man merkt, wie schwer er sich damit tut, auch nur einen geraden Satz hinzuschreiben.
Hattet ihr ihn bei der Arbeit an "Die Unendlichkeit" im Hinterkopf?
Dirk: Roland Barthes ist einer meiner Lieblingsautoren. Vor ungefähr zwei Jahren kam eine sehr umfangreiche und gute Biografie von ihm heraus. Es ist interessant, wie er auf dem Weg zum persönlichen Schreiben auch den Weg der Einfachheit gegangen ist, genau wie wir. Ich glaube nur, er hat sich damit etwas schwerer getan. Aber das Schwertun ist ja schließlich Teil des Witzes und das Schöne daran.
1 Kommentar
Sehr tolles Interview, vielen Dank! Auch die Fragen sind sehr gut gewählt. Ich kann mir vorstellen, dass man sich bei Tocotronic schon extra mühe gibt, die Fragen möglichst treffsicher und inhaltlich 'anspruchsvoll' zu gestalten. Umso faszinierender jedes Mal für mich, dass die Herren, obwohl philosophisch wahrscheinlich in völlig anderen Sphären, trotzdem so angenehm down-to-earth rüberkommen und dabei auch stets sehr humorvoll sind.
Habe immer ihre ersten Alben bis zum weißen favorisiert (genau diesen jugendlichen Hass finde ich bis heute so großartig) und das rote Album dann tatsächlich vielleicht max. einmal durchgehört. Umso mehr freue ich mich nun auf die neue Scheibe. Bin wirklich gespannt, insbesondere nach diesem Interview.