laut.de-Kritik
Die Mensch-Maschine: 25 Jahre Selbstausrottung!
Review von Jasmin LützEs ist bestimmt schon jedem mal passiert, dass er einer Person begegnet, die ihm penetrant und gnadenlos die Ohren zu müllt. Die Augenlider werden schwerer, man stirbt innerlich fast vor Langweile. Ich persönlich verliere sogar bei vielen Menschen zuverlässig schnell die Konzentration. Spätestens dann, wenn es um Supermarkeinkäufe, Zugfahrten in der sibirischen Eisenbahn oder die ersten Kotz-Erlebnisse als Teenager geht.
Nicht aber bei einem ganzen Kerl namens Henry Rollins. Fucking Hell. Der Ex-Black Flag-Hengst kann ohne Pause, ohne dem kleinsten "Äh" und ohne einen Schluck Wasser über zwei Stunden lang aus dem R'n'R-Nähkästchen plaudern. Das könnte er von mir aus auch noch länger tun, denn wenn man den Powerman zum Essen mit nach Hause nimmt, wird man garantiert nicht müde. Vielleicht verspürt man zwischenzeitlich ein kleines Unwohlsein in der Magengegend, wenn er von "The Voice" redet, die zu einem spricht, kurz bevor man den Keramiktelefonhörer abnimmt.
Damit nicht genug, dass er dabei ziemlich lebensnahe Geräusche von sich gibt, beschreibt er dem Publikum tiefgehendere Einblicke in sein Erbrochenes. Und natürlich geht er davon aus, dass jeder schon mal in seinem eigenen Gedöhne rumgestochert hat, um die einzelnen Brocken intensiver zu untersuchen, hier und da mal dran zu riechen und sich zu fragen, wa sdas gewesen sein lönnte, um es dann wieder in den Mund zu stecken und ... Mahlzeit. Willkommen auf der "25 Years Of Bullshit"-Spoken Word Tour 2006 von und mit Mr. Henry Rollins.
Ein Vierteljahrhundert steht der Post-Punker auf der Bühne und man sieht es ihm gar nicht so an, auch wenn er selbst etwas sehnsüchtig von der Zeit spricht "in der ich noch Backenknochen hatte". Gut gebaut wie immer, erzählt er von seinen Abenteuern auf der ganzen Welt, auch wenn er dabei nicht immer in ganz so gutem Licht dasteht. Henry setzt seine Lebenserfahrung und politische Statements gekonnt in Szene. Nicht nur als Musiker erlebt man ihn energiegeladen und willensstark. Seine Einstellung zum Leben ist konsequent. No Risk No Fun, lautet sein Lebensmotto, und das bekommt der Zuschauer einen ganzen Abend lang von dem "Angry Man" zu hören.
Ein Sprachakrobat erster Klasse. Seine Erzählungen sind mit Sicherheit teilweise einstudiert, dennoch ist es faszinierend, dass er nie den roten Faden verliert. Auch wenn Rollins thematisch oft abweicht, findet er stets zum Ursprungsthema zurück. Was soll man aber von einem Mann halten, der über sich selbst sagt, dass er seine Midlife Crisis erst dann bekommt, wenn er mit 56 nackt im Park lebt und ihm die Eier um die Knie schwingen?
Da erzählt er dem deutschen Publikum beispielsweise von den unglaublichen amerikanischen Supermärkten. Walmart genannt - während dem Tourleben so etwas wie die zweite Heimat eines Musikers. Diese Rieseninstitutionen außerhalb der Stadt verkaufen 24 Stunden lang alles. Hier trifft sich der Mob, besonders beliebt bei ärmeren Familien mit mindestens 12 Kindern. Denn im Walmart bekommst du keine Kekse in einer 150 Gramm-Packung.
Nein, du bekommst 15 Kilo-Pakete, die kein normaler Mensch tragen kann. Oder T-Shirts in XXXX-L. So groß wie Zelte und mit Motiven, die kein Mensch haben will. Ein alter Mann im Rollstuhl begrüßt jeden Gast der durch die unglaublich große Eingangstür hereinkommt. Alles wirkt völlig übertrieben und deprimierend zugleich. Die DVD-Abteilung besteht nur aus Schrottfilmen. "Leathal Weapon, Part 5" und alles von und mit Tom Cruise. Man spürt förmlich die bedrückende Atmosphäre in diesem Laden, von der Mr. Rollins explosiv berichtet.
Dabei kommt er der Schmerzgrenze oft bedrohlich nahe und spart auch keine Minderheit aus. Manchmal zuckt man kurz zusammen, wenn er über die Begegnungen mit verletzten Soldaten im Gazastreifen berichtet, die er in einem Krankenhaus besuchte. Dabei werde auf Rollinsche Rotz-Art die Verstümmelungen beschrieben, und der Respekt vor dem Mann wächst ins Unermessliche! Beispielsweise, wenn er auf einen verletzten Soldaten trifft, dem man nach einer Kopfverletzung Teile des Gehirns entfernen musste. Jetzt kann er leider kaum noch sprechen, doch ein Foto an der Wand erinnert an ein vorheriges Treffen der beiden, als der Soldat noch ein ganzer Kerl war.
Andere würden versuchen, dem Mann mit sanften Worten Mut zuzusprechen, aber Henry ist kein Mensch der lieblichen Worte. Er schreit ihn nur an:" Hey motherfucker, do you know me? Do you remember? It's me. We got this foto together and then you went away and got shot. But I was looking for you and I found you and now we take another one. And as soon as you’re out here, we get another fucking picture!" Dass er mit dem Mann seitdem in Kontakt steht, versteht sich von selbst.
So schroff und laut Henry Rollins auch ist, im Grunde genommen könnte er keiner Fliege was zu leide tun. Der Wolf im Schafspelz. Ein Mann der schon selbst viel Leid auf der Welt gesehen und erlebt hat. Es ist kein Wunder, dass man das Leben mit anderen Augen sieht, wenn sein bester Freund ohne jeden Grund und quasi vor seinen Augen erschossen wird.
Zartbesaitete Menschen sollten dem tätowierten Kraftpaket dennoch lieber nicht begegnen. Auch Feministen werden sein Tier im Manne nicht gerade verzückend aufnehmen. Wenn er einer seiner Chicks zu sich nach Hause einlädt und ihr versucht vorzumachen, dass er sich nur von veganen Suppen und angeblich gesunden abgepacktem Bioscheiß ernährt, Davon müsse er zwar wieder würgen, aber dies sei stets ein wirkungsvolles Rezept, seiner Puppe möglichst schnell an die Boobs zu fassen. Ja, ja.
Leichte Irritationen kamen bei mir nur auf, als er seinem Blondchen den Namen Jasmin gab. Auf dieses Thema kam Mr. Rollins übrigens, weil er sich für die Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok sein eigenes Essen gekauft hatte. Man muss ja stets für alle Situationen gewappnet sein. Und mit derartigem Frass kann man nun mal auch die New Age-Bitch mit den netten Hupen schneller rumkriegen.
Weiter sprach die Mensch-Maschine über den Frankfurter Flughafen. Natürlich auch hier mit übertriebener Darstellung, aber jeder der mal dort war, wird sie nachvollziehen können. Du musst tatsächlich einige Kilometer im Schritttempo hinterlegen, um von A nach B zu kommen. Über Polizisten weiß der Mann natürlich auch zu berichten. Was er von George Bush, Waffen und Amerika im Allgemeinen hält, bleibt an diesem Abend in Köln auch kein Geheimnis.
Ein weiteres Highlight: besagte Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn. Henrys romantische Vorstellung von einem schön verzierten, nostalgischen Zug, der gemütlich durch die wunderbare Landschaft Sibiriens fährt, wird schon bei der Ankunft im Moskauer Bahnhof zerstört. Eine wild gestikulierende Zugbegleitung, die von Anfang an kein gutes Wort für den amerikanischen Reisenden übrig hat. Er fühlt sich eine Woche lang in seinem kleinen Zugabteil schuldig und gefangen und weiß nicht einmal warum. Von der Landschaft ist nichts zu sehen. Stets dunkel und abends ist es so kalt, dass er nicht schlafen kann. Bei einem kurzen Zwischenstopp geht Henry raus und bemerkt eine Bewegung in seiner Hose. Das waren seine Nüsse, die sich mit den Worten "Wir sehen uns im Frühling" einfach mal in den Bauchraum zurückziehen.
Dann gibt es dieses Essen und schon allein der Geruch verspricht nichts Gutes. Die innere Stimme sagt: "Tu es. Es ist egal, ob du stirbst oder nicht." Man bezeichnet eine derartige Vorgehensweise auch gerne als Selbstausrottung, stets mit dem Finger auf dem Selbstzerstörungsknopf. Dieser Wahn zwingt Henry förmlich die stinkende Masse runterzuwürgen. Und bald meldet sich "The Voice" (und damit ist nicht Franky-Boy gemeint) zurück, und im Publikum hört man erneut "Ui", "Ihhh", "Oh nein!". "Das ist ja widerlich". Geil!
Ich habe jedenfalls noch nie jemanden so detailliert über den Prozess des Kotzens philosophieren hören, der dabei so sexy aussieht. Wenn du "die Stimme" hörst ist es wieder soweit. Die erste Begegnung mit ihr hattest du bereits als Teenager, wenn du dich zum ersten Mal mit diesen klebrigen, blau gefärbten Likören fast bewusstlos säufst, und du zum Verrecken ein Alkoholiker werden willst, dir die Kotze aber bis zum Halse steht. "The Voice", die Stimme deines Vertrauens.
Der Mann mag Konfrontationen. Wo jeder "normale" Mensch nein sagt, nickt Rollins nur mit dem Kopf und steckt sich das stinkende Zeug in den Mund - oder stellt sich wie in Trance der drohenden Gefahr. So wie ein kleines Kind sich alles in den Mund steckt und notgedrungen später erbrechen muss, nutzt Rollins jede Gelegenheit, alles und jeden in sich aufzunehmen, um sich spätestens nach 25 Jahren mit unterhaltsamen Geschichten vor seiner Fangemeinde auszukotzen.
Mit diesem Geschichtenonkel an einem Tisch, wirst du zwar nie zu Wort kommen, aber dafür wird dir auch nie langweilig, und du wirst so einige Dinge vom Leben kennen lernen, die dir in deinem eigenen tristen Dasein nie begegnen werden. Ein Mann für alle Fälle. Henry Rollins, die beste Unterhaltungsmaschine aus Fleisch und Blut.
Mit wortgewaltiger Unterstützung von Kollege Michael Edele.