7. September 2017

"David Bowies Tod war ein Schock"

Interview geführt von

Von David Bowie bis zu zuletzt Holger Czukay: Tilo Wolf setzt mit Lacrimosa und dem Requiem "Testimonium" allen dahingeschiedenen Künstlern ein Denkmal.

Im Talk mit laut.de spricht er freimütig über große Gefühle, die Faszination Bowies und 'Full Artistic Control' im Musikbiz.

Du bist ein Pionier, wenn es um die Fusion von Klassik mit Rock und Metal geht. Was machst du auf Platten wie "Hoffnung" oder "Testimonium" richtig, das Metallica mit ihrem ewigen Negativbeispiel "S&M" falsch machten?

Der Unterschied ist, dass ich schon beim Komponieren arrangiere. Ich schreibe nicht einen Rocksong und überlege hinterher, wie man dort Streicher und alles andere hinzu klebt. Von Anfang an schreibe ich jeden einzelnen Part für die Instrumente und baue alles verbindend ein. Komposition und Arrangement gehen also von Anfang an Hand in Hand. Stell dir einen Rocksong vor, der nur aus Schlagzeug, Bass und Gitarre besteht. Käme jemand und machte daraus mit hinzu gefügten Keyboards etc. eine Popnummer, würde auch das immer angeklebt klingen und nie authentisch wie aus einem Guss.

Das ist auch der Grund, warum viele Crossover-Scheiben so künstlich klingen. Das sind oft normale Rockbands, die ihre Songs im Proberaum schreiben und einspielen. Dann gehen die ins Studio und der Produzent sagt: 'Ich kenne da einen, der arbeitet mit Orchestern usw.'. Dann wird da irgendwas drüber geschrieben. Das kann aus zwei Gründen nicht klappen. Einmal aus dem obigen. Zweitens gibt es auch ein technisches Problem. Die Frequenzen, die wir als Musik wahrnehmen, brauchen Platz. Brachiale Gitarren liegen z.B. in einem Frequenzbereich, der sich sehr schnell mit Celli, Kontrabässen usw. streitet. Wenn man da nicht aufpasst, geht es nach hinten los. Dieses Problems muss man sich schon bei der Komposition sehr bewusst sein.

Waren denn wieder deine Metal-Kumpels wie Kreators Mille Petrozza mit von der Partie?

Nein, diesmal nicht. Ich war so in Rage, als ich das Album schrieb. Es hätte in dieser Form ursprünglich gar nicht erscheinen sollen. Ich hatte nicht vor, dieses Jahr überhaupt ein Album zu machen. Aber durch diese ganzen Trauerfälle ist das aus mir herausgeplatzt. Deshalb habe ich das meiste im Studio alleine oder mit meinen Gitarristen eingespielt.

"Bowies Tod war ein Schock"

Ein Requiem als spontaner Akt?

Genau! Ich dachte stets, irgendwann würde es sich ergeben, mal ein Requiem von Lacrimosa zu veröffentlichen. Der Bandname ist ja auch dem Requiem von Mozart entliehen. Ich dachte allerdings nicht, dass ich es noch in relativ jungen Jahren machen würde, sondern eher gegen Ende meiner musikalischen Tätigkeit. Alle Pläne änderten sich als ich von David Bowies Tod hörte. Das war so ein Schock. Ich bin mit seiner Musik groß geworden. Die ganzen Phasen meiner Jugend waren begleitet von seiner musikalischen Vielseitigkeit und den fabelhaften Verwandlungskünsten. Plötzlich ist dieser Mensch nicht mehr da. Das Werk ist abgeschlossen. Es wird nie wieder einen neuen David Bowie-Song geben. Kein musikalisches Statement zum aktuellen Weltgeschehen. Dazu wird er sich nicht mehr äußern. Das ist eine Endgültigkeit, die zahlreiche Gedanken in mir aufgewühlt hat.

Vor allem "Wenn unsere Helden sterben". Ja, was ist dann? Und dann ging es Schlag auf Schlag weiter: Prince, eines meiner ersten Idole starb oder Leonard Cohen, der meiner Meinung nach einer der größten Poeten unserer Zeit war. Ich konnte aber nicht einfach nur herumsitzen und traurig sein. Deshalb nahm ich die Gitarre zur Hand und legte los. Diesem Gefühl musste Luft geschaffen werden. Es musste artikuliert werden. So ist dieses Album entstanden. Es hat sich relativ schnell heraus kristallisiert, dass es eine sehr kompakte, einheitliche Geschichte werden wird. Es gab Momente, da kam alles, was ich bisher machte, komprimiert bei diesen Liedern zusammen.

Nun sind wir ungefähr gleichalt, haben die Songs von Bowie oder Cohen also zeitgleich erlebt. Lass mich raten: Geht es Dir dennoch so, dass etwa das dystopische "Diamond Dogs" oder das finstere "Songs Of Love And Hate" besonders nahe kommen?

Oh, gute Frage. In dieser Form habe ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht. Bei mir sind es meist eher einzelne Songs und nicht komplette Alben. Aber stimmt schon. "Diamond Dogs" ist sicherlich ein Album, dass mir in meiner Anfangsphase in der Schwarzen Szene extrem wichtig war. Ich weiß gar nicht so genau, warum. Es war wohl das Dystopische. Deshalb auch eines der für mich herausragenden Alben. Ich muss aber dennoch ganz ehrlich sagen: Mein Lieblingssong (lacht), und das kommt jetzt sicherlich unerwartet, von Bowie ist einer seiner Popsongs und zwar "Absolute Beginners".

Ist es mit Bowie nicht ohnehin ein wenig wie bei Miles Davis: Der 80er Bowie wird unterschätzt?

Komplett! Das glaube ich auch.

Ich sage nur "Time Will Crawl".

Jaha!

Der Opener von "Testimonium" erscheint mir doppelbödig. Einerseits die Verarbeitung des Verlustgefühls. Andererseits aber auch eine Hymne bezüglich der Unsterblichkeit der Kunst der Verstorbenen. Eine Form von Ewigkeit?

Das stimmt absolut beides. Es ist tatsächlich ein Spagat. Hier der Verlust des kreativen Kopfes, dem nichts mehr nachfolgen wird, und die Einzigartigkeit dieses Menschen bzw. dieser Menschen. Keiner kann Bowie, Prince, Cohen oder George Michael ersetzen. Auf der anderen Seite haben sie der Welt etwas geschenkt, dass diese immer begleiten wird. Das ist das Schöne und genau die zweite Ebene, die du ansprichst. Wir haben diese Geschenke bekommen. Und egal was passiert: Wir werden unsere persönlichen Gefühle und Interpretationen all dessen, was sie schufen – und das ist ja immer individuell – immer bei uns tragen. Genau darum geht es in "Wenn Unsere Helden Sterben", einerseits den Verlust, andererseits das Ewigkeitsprinzip des 'Es bleibt immer bei mir!'.

Genau zu dieser Dualität gibt es immer wieder kritische Stimmen, die meinen, es verbiete sich, bei Fällen wie Bowie überhaupt solche Gefühle zu hegen, geschweige denn zu zeigen, da man diese nicht persönlich kannte. Diese Leute halten es nicht für Verarbeitung, sondern für eine Form von Oberflächlichkeit unseres Zeitgeistes. Was würdest du entgegnen?

Oh, ganz viel: Grundsätzlich baut schon das Konzept des Requiems auf der Idee auf, dass der Komponist und sein Publikum den Verstorbenen nicht persönlich kannten. Hinterbliebene haben nie selbst ein Requiem geschrieben, sondern es höchstens in Auftrag gegeben. Es gab sogar Fälle, bei denen den Komponisten nicht gesagt wurde, um wen es sich bei dem Toten handelte. Bei Mozarts Requiem etwa war der Auftraggeber nur ein Mittelsmann. Seit jeher beruht das Grundprinzip des Requiems eben nicht auf dem Aufbau eines direkten, persönlichen Bezugs.

Natürlich ist das bei einer Person des öffentlichen Lebens, deren Wirken man kennt, und von der man sich ein Bild macht, etwas anderes. Man kennt zwar den Menschen nicht wirklich, fühlt sich diesem aber sehr verbunden. Verbunden durch Liebe in dessen Person und Musik, die dann in meinem Fall auch in die eigene Musik einfließt. Das ist für mich als Umstand das absolut schöne Detail. So geht es anderen eben auch. Insofern wäre ich komplett dagegen, würde man sagen: 'Nein, hört auf damit! Keine Gefühle!'. Ganz ehrlich, hätte ich nichts über Bowie gewusst und nur seine Musik gekannt, ich wäre genau so traurig gewesen. Durch seine Kunst gab er Liebe in die Welt hinein. Ich finde es wundervoll und legitim, wenn diese Liebe nicht nur respektiert, sondern auch reflektiert wird.

Und da gibt es noch einen dritten Punkt: Inwiefern kennt man einen Menschen eigentlich wirklich? Es gibt doch immer wieder Menschen, die einen negativ oder positiv überraschen. Viele treffen Entscheidungen, die man ihnen vorher nie zutraute. Es tauchen doch immer Fragen auf wie 'Kenne ich diese Person wirklich oder habe ich vieles in sie hinein interpretiert?'. Insofern können doch selbst Menschen, die einem so richtig nahe sind und mit denen man viel Kontakt hat, durchaus Fremdheit beinhalten.

"Wer zu 'Sauf-dich-ins-Koma'-Konzerten geht, wird "Testimonium" nicht mögen

Auf der anderen Seite gibt es womöglich auch Leute, die keinerlei Vorbehalte haben und grundsätzlich an einem solchen Requiem interessiert wären, aber befürchten, herunter gezogen zu werden. Warum ist "Testimonium" dennoch kein Downer für das Publikum?

Ich kann nicht pauschal eine Beruhigung aussprechen. Es kommt darauf an, wie man mit sich selbst und den eigenen Gefühlen umgeht. Es gibt Menschen, die zur Verdrängung neigen. Dazu gehört wahrscheinlich ein Großteil unserer Gesellschaft. Man kann ja beobachten, dass etliche so durchs Leben gehen, dass sie emotionale Bedürfnisse mit Ersatzbefriedigungen stillen. Dieser Teil der Menschheit, der etwa eher zu einem 'Sauf-dich-ins-Koma'-Konzert analog zum Ballermann geht, würde sich definitiv herunterziehen lassen, wenn er so etwas hört. Anders ein Mensch, der selbstreflektiert durchs Leben geht und in der Lage ist, mit den eigenen Gefühlen umzugehen. Wer auch mal eine Träne verdrückt und weiß, dass Schmerz herauszulassen, gesund ist, versteht in der Regel, dass durch Zulassen auch Kraft entstehen kann, die einen aus dem Tiefpunkt wieder herausholt. Für Letztere ist es vielleicht ein sehr ansprechendes Album, weil man sich fallen lassen kann.

Speziell bei diesem Album und dem Vorgänger ("Hoffnung") und in Ansätzen auch schon auf "Revolution" fällt mir auf: Die Detailfülle und Komplexität in der Klassik und Rock verschmelzen, ist erstaunlich. Ich mag beispielsweise die Passage in "Nach Dem Sturm" sehr, in der die elegische E-Gitarre nahtlos in Streicher und fast Brucknersche Hörner übergeht. Woher diese neue Tiefe?

Diesen Prozess, den ich eingangs beschrieben habe, habe ich massiv intensiviert. Das Arrangement ist viel näher an der Komposition und mit ihr verwachsen. Dieses von dir erwähnte Gitarrensolo habe ich gespielt, als der Rest – also alles was danach kam – noch nicht komponiert war. Ich kam raus aus der Strophe und wollte dem Gefühl eine weitere Ausdrucksebene verleihen. Deshalb habe ich diese Gitarrenmelodie gespielt. Daraus hat sich fast automatisch die Idee ergeben, es mit großen Streichern aufzufangen und gleichzeitig in eine bombastische Hülle einzupacken. So habe ich die Komposition mittels des Arrangements weiterentwickelt.

Du hast absolut Recht mit dem, was du sagst. Denn dieser Prozess hat in Ansätzen schon bei "Sehnsucht" begonnen. Da habe ich zum ersten Mal versucht, einen Ausblick dahin zu bekommen, wo ich hin will. Dort ist das allerdings noch nicht so sehr zum Ausdruck gekommen. Auf "Revolution" hat es sich dann erstmals bemerkbar gemacht. Und bei den letzten beiden Alben ist es tatsächlich in hohem Maße zum Ausdruck gekommen. Ich finde es sehr spannend und schön, dass du es bemerkst und hier zum Thema machst. Mir geht es nämlich auch so.

Vor allem die letzten beiden Alben kommen mir vor wie Bruder und Schwester. Die Tiefe mit der ein Thema ins andere übergeht, entspringt der wahrhaftigen Freude beim Komponieren, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Es macht einfach unglaublichen Spaß mit den ganzen Instrumenten zu hantieren. Ich fühle mich dann wie ein kleines Kind, das im Spielzeugladen steht.

Hast du jemals mit dem Gedanken gespielt, mal ein stromloses Album zu machen und den E-Gitarren-Kontext durch gezupfte Akustische zu ersetzen? Man hört ja etwa in "Herz Und Verstand", dass dies gut ins Konzept passen würden.

Um ganz ehrlich zu sein: Als ich mit "Wenn Unsere Helden Sterben" anfing, gab es die Idee, nur akustische Instrumente zu verwenden. Ich habe das deshalb verworfen, weil ich merkte, dass ich hier zwei Herausforderungen auf einmal nehmen würde. Es war schon schwer genug, meine Gefühle in das Requiem zu packen. Um es kurz zu erklären: Musik ist eine Sprache. Und diese Sprache muss man erlernen. Gewisse Dinge habe ich erlernt. Jetzt ganz akustisch zu arbeiten, wäre, als wenn ich nun versuchte, russisch zu lernen. Bevor ich in der neuen Sprache einen ganzen Satz formuliere, will ich es etwas besser können. Deshalb behalte ich diese Idee zwar im Kopf, schiebe sie aber auf die etwas längere Bank.

Wir müssen auch deine recht polarisierende Art zu texten ansprechen. Kannst du nachvollziehen, dass so manchem die Doppelportion aus Pathos in Musik und Lyrics zu viel des Guten ist?

Das kann ich mir gut vorstellen. Der Punkt ist, dass ich keine Songtexte in traditioneller Weise schreibe. Im Prinzip ist es eine Art Lyrik. Ich habe ja nicht mit der Musik angefangen, weil ich irgendwie Rockstar werden wollte. Es ging darum, meine Texte zu vertonen. Da diese Lyrics eine entsprechende Ausdrucksstärke haben und der Emotion viel Raum geben, findet sich diese Tiefe und Schwere auch in meiner musikalischen Umsetzung. Wenn man sich dieses Prinzip vor Augen hält, versteht man es auch viel besser. Aber klar, wenn man etwa von diversen Songs im Radio etc. herkommt, kann das erst mal sehr verwirren. Oder man kann es als herunterziehend oder zu pathetisch empfinden.

Ein deutschsprachiger Global Player, dessen Erfolg in den heimischen Massenmedien jenseits der Szeneblätter vom Feuilleton gern ignoriert wird. Fühlst Du Dich da ungerecht behandelt?

Gerechtigkeit in dieser Welt zu suchen, ist sowieso ein müßiges Unterfangen. Aber wenn man es mal ganz schwarz und weiß sehen will, kann ich deine Frage mit 'Ja' beantworten.

Mit deinem Label Hall Of Sermon bist du künstlerisch frei und unabhängig. Wodurch hast du erkannt, dass 'Full Artistic Control' nur mit der eigenen Plattenfirma funktioniert?

Das war schon nach dem Verschicken meiner ersten Demotapes. Als Antwort bekam ich Verträge zugeschickt, in denen die Labels bestimmten, was für Songs aufs Album kommen, welche Reihenfolge usw. Das hat mich komplett geschockt. Ich war damals 17 Jahre alt und wusste nichts von der Branche. Ich wollte meine Rechte nicht abgeben. Also dachte ich mir: 'Das machste selbst'. Das Problem war: 'Wie kriege ich die Musik, die ich auf dem Keyboard mache, aufgenommen, und wie kriege ich die Platte dann in die Läden?'

Damals gab es noch kein Internet. Ich suchte also erst mal ein Jahr in Bibliotheken nach Fachliteratur. Diese zu finden, war nicht einfach. Die habe ich gelesen, verinnerlicht und verschiedene Jobs angenommen, um es finanzieren zu können. Dann kam irgendwann der Punkt 'Jetzt könnt ihr machen, was ihr wollt. Ich habe eine Plattenfirma!'. Einmal diese Freiheit genossen, wollte ich die Kontrolle natürlich auch nie wieder aus der Hand geben. Und das habe ich auch nicht.

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Lacrimosa

Dass sich Tilo Wolff noch nie mit Vordergründigem abgegeben hat, ist kein Geheimnis. Somit dürfte es auch nicht wundern, dass hinter dem Namen Lacrimosa …

1 Kommentar