laut.de-Kritik
Protestmärsche, Leder und Latex: Mister Morbide machts möglich.
Review von Michael SchuhDer Kampf dauerte etwa 30 Sekunden. Marilyn Manson hatte sich gerade standesgemäß mit einer US-Flagge den Hintern abgewischt und das Ding der johlenden Menge übergeben. Die Wurfkraft des düsteren Hänflings ist jedoch nicht annähernd so ausgeprägt, wie sein Sinn für Showeffekte, so dass das Objekt der Begierde geradewegs auf die erste Reihe segelte, um aus zwei Manson-Fans innerhalb von Sekunden erbitterte Konkurrenten zu machen.
Marilyn Manson war in Hamburg angekommen. Einen Tag nach seinem Refrain-Auftritt in der Show von Rap-Star Eminem, fegte der Dark Star selbst neunzig Minuten über die Bühnenbretter. Der Provokateur der Stunde hatte dabei nicht nur seine Gefolgschaft fest im Griff: rund um die Sporthalle geisterten den ganzen Abend zwei Dutzend laut "Hallelujah" singende Gestalten samt Gebetsbüchern in der vergeblichen Hoffnung, die abtrünnigen Anhänger des Antichristen zu bekehren. Einmal in der Halle drin, ging der Spuk sogleich weiter. Kam man sich tags zuvor bei Eminem ohne Basecap noch vor wie mit Gummistiefeln im Freibad, outeten sich die szenefremden Manson-Anhänger vor allem durch zu wenig Leder, Latex, Metall oder Schminke am Körper, der von nicht wenigen freizügigst zur Schau gestellt wurde ...
Der Meister selbst wäre da teilweise nicht mehr aufgefallen: die schwarze Vogelscheuche trug einseitige Feder-Scherpe, Popo-Netzhemd und wilde Kriegsbemalung, positionierte sich am Bühnenrand und gestikulierte beschwörend zu Songs aus allen Schaffensphasen. Doch allein die Bühnendeko hätte dem bibelfesten Liederkreis vor der Halle zur narkosefreien Ohnmacht verholfen. Ein Embryo ans Kreuz genagelt kombiniert mit Waffen-Requisiten, die man vom aktuellen Album-Style her kennt; Optik und Akustik schlugen den erwarteten Weg zu 100% ein.
Inmitten der Eurythmics-Nummer "Sweet Dreams" forderte Mister Morbide mit dem Ausruf "who wants to be abused" eine "bitch" aus dem Zuschauerraum, die auch prompt zu ihm hochgehievt wurde. Nach Analspielereien zum pumpenden Drumbeat ließ er wenig später vom Opfer bzw. Mädchen ab, nicht ohne ihr einen deftigen Klaps auf den Hinterkopf mitzugeben. Staunen machte die Menge auch die Einlage des wachsenden Mansons, der sich auf einem Podest samt schwarzem Talar in luftige Hallenhöhen heben ließ.
Rock-Entertainment der Neuzeit oder ein dramaturgisch geschultes Schocker-Plagiat, die Initiationsriten des Anti-Heiligen haben sich abgenutzt. Offensichtlich scheint die Event-Inszenierung aber auch in Deutschland noch zu polarisieren. Als die Zugabe "The Beautiful People" drinnen kollektives Schreien verursachte, trotteten vor der Halle noch immer Wanderprediger umher und es wurde Zeit, den Ort dieses Spektakels zu verlassen.