laut.de-Kritik
Wie ruiniere ich meine Stimmbänder aufs Äußerste?
Review von Jasmin LützDie musikalischen Neuentdeckungen lassen wohl nie nach. Man kann sich noch nicht mal eine Woche von DER großen Sause erholen, da wurmt auch schon der nächste Sound im Ohr. Die aktuelle Hörbrause kommt von den Australiern The Vines und heißt "Get Free". In den 90ern gab es vergleichbare Ohrwürmer zum Beispiel von Nirvana, aber mal ehrlich, wer denkt heute noch an Kurt Cobain? An den Mann mit dem Loch im Kopf, der heute vielleicht noch leben würde, wäre er nur jeden Tag ins Büro gegangen?
Im Grunde genommen niemand. Denn es gibt ja Bands, die sich ähnlich anhören und rebellische Sänger die noch leben. Craig Nicholls von The Vines ist so einer. In nur einigen wenigen deutschen Clubs kann man sich zur Zeit die jungen Wilden live anschauen. Die Life-Destroyer aus dem Land der Känguruhs sorgen an einem Freitagabend in Köln für großes Aufsehen. Der Prime Club platzt zwar diesmal nicht völlig aus den Nähten, dennoch ist das Konzerterlebnis der Stunde längst ausverkauft. The Vines sind in aller Munde, also wollen alle Münder auch "gestopft" werden. Mit dem vollen Rock'n'Roll-Snack aus Australien. Drei knuffelige junge Männer die mit ihrer Musik die Welt erobern möchten. Der Sänger Craig Nicholls steht dabei, wie damals Kurt Cobain, im Rampenlicht. Er ist die (leid)tragende Person. Leidvoll wie Thom Yorke und scheinbar rotzfrech wie Kurt Cobain.
Aber ich muss sagen, ihre Platte "Highly Evolved" höre ich mir zu Hause sehr viel lieber an. Abgesehen davon, dass der Garagen-Sound ein wenig dürftig ist. Wieder ein Beispiel dafür, dass die besten Produzenten nicht immer von Vorteil sind. Dennoch schreit und kracht es an jeder Ecke. Songs wie "In The Jungle" heißen mich in meinen vier Wänden willkommen. Auf dem Konzert geht mir die Brüllerei eher auf die Nerven und man merkt, dass die Jungs ihr einstudiertes Programm durchziehen. Da hilft auch nicht die Life-Zerstörung der Instrumente am Ende des Gigs. Den smarten Anzug oder Lederjacken-Look haben Craig, Patrick und David abgelehnt, trotz 60s beeinflussten Sounds. Das eigentlich faszinierende an der ganzen Show: Wie ruiniere ich meine Stimmbänder auf das Äußerste?
Bei "Get Free", der Hit-Single der Vines, rastet das Publikum selbstverständlich aus und man beobachtet sich selbst, wie man den Refrain mit summt. Weitere Highlights an diesem Abend sichtet man bei den eher ruhigen Songs der Australier. "Autumn Shade" lässt Sänger Nicholls zu einer unglaublichen Sirene mutieren und man ist eigentlich mehr in sich gekehrt und steht ruhig auf zwei wippenden Beinen. Doch die Fans des Stagedivings kennen keine Gnade. Ohne jede Hemmung lassen sie sich durch die Lüfte tragen. Das habe ich ja noch nie verstanden, wo ist denn da der Kick? Und warum lässt man die Typen nicht einfach fallen, bevor man den Sneaker ins Gesicht bekommt? Und wieso geschieht dies immer bei den ruhigen Songs? Sollte man da nicht seinen Nachbarn schnappen und bei Stücken wie "Country Yard" küssend durch die Prärie reiten? Auch "Mary Jane" verleitet eher dazu, sich hinzusetzen, als halsbrecherische Turnübungen zu vollbringen.
Bei "Outtathaway" bebt der Club wieder und Nicholls legt eine wahnsinnige Vocal-Performance vor. Ich denke, seit Brian Jones von AC/DC hat keiner mehr so schrille, rotzige Töne hin bekommen. Die Zugabe wird bis zum Geht-nicht-mehr gesteigert. Die Show ist schnell vorbei, das Album hat nun mal nicht mehr als zwölf Stücke. Aber die Konzertreise auf dem "Highway To Hell" geht ja weiter und Ersatzinstrumente können sich The Vines mit Sicherheit auch schon leisten.
Nach dem Konzert bin ich ziemlich verschwitzt und heiser. "Smells Like Teen Spirit" kommt mir am Ausgang dann sofort in den Sinn. Hier stehen die Eltern von verschiedenen Zahnspangenmädchen, die unversehrt die erste Reihe überlebt haben. In Papas Auto kichern sie noch süßlich vor sich hin und flüstern ihrer Freundin zu: "Hast du auch gesehen, wie Craig mich angelächelt hat?"