laut.de-Kritik
Wie Placebo ohne Kajal und Rumgeheule.
Review von Yan VogelZuhause kennt man jeden Stein und jede Taube beim Namen. Und doch entfernt man sich täglich von der Anmut des vorstädtischen Flairs. In Rotenburg ohne "h" im ländlichen Niedersachsen gibt es keine Kannibalen. Auch lässt kein Nervenkitzel Schatten lebendig werden.
Entsprechend groß webt man die Stoffe, aus denen die eigenen Träume gestrickt sind, und möchte sie am liebsten in Wirklichkeit einkleiden. Die vier Jungs von Everlaunch kombinieren die Landflucht-Mentalität mit Heimatverbundenheit, ergeben sich den großen prätentiösen Gesten des Pop, definieren sich aber auch über ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Detailreichtum.
Was das Melodienverständnis betrifft, weilen Torsten, Sören, Patrick und Andi wesentlich näher an U2 als an The Smiths, deren schnoddrige Melancholie und Rastlosigkeit erst unter der Oberfläche zu wirken beginnt. Denn der Rock findet im Detail statt, von der Machart vergleichbar mit Phoenix. Beim genauen Hören eröffnet sich ein Finessenreichtum, den man so nicht erwartet hat.
Wie wenn sich aus Maximo Park und Placebo eine Band formieren würde, in der um die stilistische Ausrichtung ein wüster Streit entbrennt. Gitarren- und Soundtüfteleien mäandern durch die Ohren, angeführt vom klaren melodiösen Gesang. Thorstens Stimme hat unverkennbare Placebo-Anleihen, jedoch ohne Kajal, Ritzereien und Rumgeheule. Der Bass tänzelt poppig, pogt jedoch eben so gern zum Beat der Indie-Disco.
Eine quäkende, räudige Brass-Sektion in "Talk To Your Hat" verpasst dem makellosen Popteint einen Schmiss. "Isolation" atmet mit seinen Chören The Wall-Feeling. Ein dissonantes Riff leitet eine interessante harmonische Wendung ein, die "Picturefreak" eine besondere Note verleiht.
Everlaunch beweisen Mut und verlassen sich nicht nur auf Standard-Arrangements. Man achte auf die zahlreichen Interludes, die aus dem Strophe-Refrain-Raster ausbrechen und insbesondere auf die epischen Anleihen in "Car Crash Weather" oder "Setting Sun". Hier ziehen sie sämtliche Dramatik-Register. Diese Songs stellen jeweils eine kleine musikalische Evolution dar.
Genau wie bei den großen Verwandten ist das Spiel mit populären Mechanismen und der Anspruch nach Authentizität und Emotionalität selten kongruent. Auch der Indie-Appeal der Produktion lässt das Ergebnis manchmal etwas undifferenziert klingen. Doch das sind mickrige Meckereien angesichts eines wirklich gelungenen Debüts.
5 Kommentare
Zitat («
Thorstens Stimme hat unverkennbare Placebo-Anleihen, jedoch ohne Kajal, Ritzereien und Rumgeheule. »):
Placebo nicht mögen ist eine Sache. Aber muss so eine klischeehaft plakative Diskreditierung wirklich sein ?
Die Ritzereien sind neu. Die standen da noch nicht, als ich den Artikel vor einer Stunde gelesen habe.
Zum Inhalt der Aussage braucht man wohl nichts zu sagen. Sowas disqualifiziert den Schreiber.
weiss nicht, glaub dass placebo sich diese klischeehafte plakative Diskreditierung selbst zu zuschreiben haben..find die review gut, lässt mich zumindest aufhorchen
@Supahanz («
Zitat («
Thorstens Stimme hat unverkennbare Placebo-Anleihen, jedoch ohne Kajal, Ritzereien und Rumgeheule. »):
Placebo nicht mögen ist eine Sache. Aber muss so eine klischeehaft plakative Diskreditierung wirklich sein ? »):
placebo gibt es schon seit über 10 jahren , die müssen sich nicht mehr beweisen , die haben so ziemlich alles erreicht.
Stimme ist nun mal geschmacksache.
Dann sollte man die beiden doch auch nicht miteinander vergleichen....