laut.de-Biographie
Sigur Rós
Erlebt man Sigur Rós das erste Mal live, fragt man sich, ob sich Sänger und Gitarrist Jón Thór Birgisson eigentlich darüber im Klaren ist, was für eine Art Saiteninstrument er in den Händen hält. Birgisson bearbeitet seine Gitarre nämlich liebevoll mit einem Geigenbogen. Ähnlich seiner Landsmännin Björk verzaubert das Quartett seine Hörer mit einem so wirren wie aufwühlenden Soundtrack.
Eine Genre-Definition erweist sich als praktisch unmöglich, was auch daran liegt, dass die Isländer in ihren Anfangstagen über ihren schwebenden Klang eine Fantasiesprache legen. Dies besitzt selbstverständlich Kalkül: Sänger Birgisson wünscht sich, dass der Hörer sich seine eigenen Gedanken macht und dass die Musik ein Kopfkino in Gang setzt.
Die ungewöhnliche Band aus Island gründet sich im Jahr 1994. Neben Sänger Jón Thór Birgisson zeichnen zwei weitere junge Männer aus Reykjavík verantwortlich: Georg Holm (Bass) und Ágúst Gunnarsson (Schlagzeug). Obwohl Sigur Rós so gar nicht das Superstar-Dasein anstreben, befinden sie sich schon wenig später auf dem besten Wege dorthin.
Natürlich wollen sie in keine Schublade gesteckt und mit irgendwelchen Bands verglichen werden, was bei ihrem Sound ohnehin kein leichtes Unterfangen für die Musik-Journaille darstellt. Drei Jahre nach der Bandgründung entsteht das erste Album "Von". Das bietet bereits die tranceartigen Klangkollagen, mit denen Sigur Rós bald die halbe Welt beeindrucken.
Nachdem im Jahr 1998 Keyboarder Kjartan Sveinsson die Band vervollständigt, entgeht die Truppe nur ein Jahr knapp einer Auflösung, als Drummer Gunnarsson Sigur Rós verlässt. Die drei Übriggebliebenen rappeln sich aber schnell wieder auf.
Mit neuer Energie, sowie dem neuen Schlagzeuger Orri Páll Dýrason nehmen sie ein neues Album auf, das zunächst in Island, bei Veröffentlichung im August 2000 auch in Resteuropa zu einem neuen Hype führt. "Agaetis Byrjun" (heißt soviel wie: "ein guter Start") begeistert und verzaubert auf Anhieb seine Hörer.
Als sich selbst die britischen Radiohead von den außergewöhnlichen Klängen und der faszinierenden Stimme beeindruckt zeigen und die vier Musiker als Support auf ihre Tournee einladen, finden sich natürlich bald noch mehr Fans. Einen besseren Start kann es für eine Band kaum geben.
Auch Amerika hört allmählich von den Heldentaten. MCA erhält den Zuschlag, da Sigur Rós dort ihre zweifellos wichtige, künstlerische Freiheit für die Zukunft am ehesten gewährleistet sehen. 2001 feiern die Menschen in der Neuen Welt den Sound des Quartetts. Zu den prominentesten Fans zählen Trent Reznor, Beck und David Bowie.
2002 veröffentlichen die Isländer mit "()" ein Album ohne Titel, auch die Songs erhalten keine Namen und Texte finden sich im Booklet natürlich auch keine. Als Aufnahmeort wählte man ein ehemaliges Schwimmbad vor Reykjavik. Ihrem wohl wichtigsten Konzept gehen sie dabei in gewohnt bemerkenswerter Hartnäckigkeit nach: Es zählt einzig die Musik. Der gefeierten Albumrückkehr folgen Tourneen durch Europa, Amerika und Japan.
Bevor im Juli 2005 die neue EP "Ba Ba Ti Ki Di Do" erscheint, performen Sigur Rós, wieder gemeinsam mit Radiohead, 2003 in Paris und New York den Soundtrack zu der Tanzproduktion "Split Sides" des New Yorker Choreographen Merce Cunningham. Dabei improvisieren sie jeweils 20 Minuten lang zu einem zuvor aufgenommenen Backing-Band, auf dem unter anderem auch Cunninghams Stimme und Schrittgeräusche zu hören sind.
Die EP, die aus den drei Sektionen "Ba Ba", "Ti Ki" und "Di Do" besteht, dient als Vorbote für das Studioalbum Takk..., das im Herbst 2005 erscheint. In der Zwischenzeit feiert die Band nicht nur ihr zehnjähriges Bandjubiläum, sondern wechselt auch zum Majorlabel EMI. Bereits im Juli 2005 stellen die Isländer ihre neuen Kompositionen in Deutschland vor.
Für alle Fans gibt es im November 2007 etwas ganz Besonderes: Neben der Doppel-CD "Hvarf/Heim" erscheint eine Doku-DVD zur Islandtournee der Band vom Sommer 2006. Bei der Reise durch ihr Heimatland spielen sie Freiluftkonzerte in winzigen Dörfern, verlassenen Fischfabriken und ausrangierten Öltanks. Alles wirkt gewohnt betörend und seltsam.
Ein neues Studioalbum folgt im Juni 2008. Es heißt "Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust", die neuen Songs stellen Sigur Rós auf den Festivals des Sommers schon einmal vor. Die Aufnahmen mit Superproduzent Flood (The Killers, Placebo, Smashing Pumpkins) finden in New York, Reykjavik und Havanna statt. Der Titel bedeutet übersetzt passend: "Mit einem Klingeln in den Ohren spielen wir endlos." Das Album wurde live und in kurzer Zeit in den Anfangsmonaten des Jahres 2008 eingespielt.
Sigur Rós stellt nicht das einzige Kreativ-Ventil des Sängers Jón Thór Birgisson dar. Abseits des Bandlebens erarbeitet Jónsi seit 2003 mit seinem Partner Alex Somers zusammen visuelle Kunst. Die dafür konzipierte Musik dient anfangs noch eher als Beiwerk, rückt aber immer stärker in den Mittelpunkt.
Wenn Birgisson nicht mit Sigur Rós beschäftigt ist, kreieren die zwei als Jónsi & Alex ihre himmlischen Akustik-Melodien. 2009 veröffentlichen sie ihre erste LP mit dem Titel "Riceboy Sleeps", wie sich beide Künstler ursprünglich selbst nannten.
Zwei Projekte scheinen Jónsi jedoch immer noch nicht zu reichen. 2010 veröffentlicht er sein Solo-Debüt "Go", auf dem er nicht nur in englischer Sprache singt, sondern auch den Trademark-Sound von Sigur Rós noch stärker für elektrifizierten Pop öffnet.
Für Fans der ersten Stunde dürfte es deshalb eine Erleichterung gewesen sein, als die vier Isländer im Winter 2011 ihr Livealbum "Inni" herausbringen, das sich trotz seines Prismablicks wieder zu den erhabenen Postrock-Crescendi bekennt. "Inni" ist zudem ein orchestrierter Vorbote des sechsten Studioalbums "Valtari", das nach der heftigen isländischen Kapitalismuskrise eine Rückbesinnung zu alten Werten anpeilt.
Um die Jahreswende 2012/2013 verlässt Keyboarder Kjartan die Band, um sich seiner Familie und eigenen Musikprojekten zu widmen. Das neue Bandgefüge aus Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug setzt eine kreative Explosion frei. Liegen zwischen "Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust" und "Valtari" noch vier Jahre Pause, erscheint "Kveikur" bereits ein Jahr später im Juni 2013. Deutlich aggressiver, steht es in einem deutlichen Kontrast zu den vorhergegangenen Werken.
Doch Sigur Rós bleiben faszinierend und ungreifbar wie die naturbelassene Schönheit ihrer Heimat. Der Rest des Jahrzehnts führt die Band jedoch auf weitaus verworrenere Pfade. Nach amüsanten Gastauftritten in den so unterschiedlichen Kultserien Simpsons und Game Of Thrones folgen erst 2016 wieder vereinzelte Auftritte.
Birgisson, Holm und Dýrason kündigen an, dass sie neues Material wieder vermehrt auf der Bühne entstehen und Form annehmen lassen möchten – so wie in den Anfangstagen der Band. Dazu gehts 2017 erstmals als Trio auf Welttournee. Keine Streicher, keine Bläser. Zur 2016 erschienen Single "Óveður" gesellen sich drei weitere neue Stücke, die die Frühphase der Band mit neueren elektronischen Trademarks verbinden.
Doch im September 2018 findet das Trio-Projekt ein jähes Ende: Via Instagram wird Orri Páll Dýrason des sexuellen Übergriffs bezichtigt. Der Vorfall soll sich bereits 2013 ereignet haben. In einem Statement weist der Drummer die Vorwürfe zurück. Mit Rücksicht auf das Image der Band gibt er jedoch gleichzeitig seinen Austritt aus selbiger bekannt.
In wenigen Jahren hat sich das Line-up der Band halbiert. Bassist Georg Holm und insbesondere Sänger Jónsi widmen sich anschließend weiterhin ihrem bereits früher im Jahr gestarteten Remix-Projekt "Liminal". Ergebnisse sind mehrere Playlists mit befreundeten Musikerinnen und Musikern, die neben eigenem Material auch unveröffentlichte Sigur Rós-Kompositionen ambientisieren.
Zum Record Store Day erscheinen weitere Remix-Alben, die ebenfalls Fragmente der immer noch unveröffentlichten neuen Kompositionen enthalten. Einer Klage wegen Steuerhinterziehung folgt 2019 die Ankündigung eines umfassenden "Ágætis byrjun"-Jubiläumssets. 2020 veröffentlicht der inzwischen in den USA lebende Jónsi mit "Shiver" sein zweites Studioalbum.
Um Sigur Rós bleibt es musikalisch derweil still, jedenfalls bis die eigentlich erledigte Steuer-Problematik die Band erneut einholt: Postwendend kündigt die Band das 18 Jahre alte Orchester-Werk "Odin's Raven Magic" an, das im Dezember 2020 erstmals auf CD und Vinyl erscheint.
Boxsets, Reissues, Live-Alben: Es scheint, als seien Sigur Rós allmählich in der Phase der musikalischen Erbverwaltung angekommen. Dabei ähnelt die Veröffentlichungspolitik der Band durchaus ihrer musikalischen Ausdruckskraft: Auf tosenden Lärm folgt oft beklemmende Stille. Ob diese triste Ungewissheit die Oberhand behalten wird? Die Frage nach einer Auflösung beantwortet Jónsi 2019 so: "Yeah, yeah, yeah. I don't know, now, probably not."
Und tatsächlich: 2022 folgt nicht nur eine retrospektive Jubiläumstournee zum Meilenstein "( )", sondern auch die Rückkehr Kjartan Sveinssons. Der hat in der seiner Abwesenheit die Liebe zum Orchestrieren entdeckt – und legt damit den entscheidenden Grundstein für die Zukunft der Band: Ein neues Werk unter Beteiligung des London Contemporary Orchestra kündigt sich an. "Átta", das erste Sigur Rós-Album seit zehn Jahren, erscheint im Juni 2023.
Noch keine Kommentare